Eine andere Literaturgeschichte der Moderne

Franziska Schößler folgt dem Konnex von Literatur, Ökonomie und Geschlecht in Texten von 1800 bis 2000

Von Thomas WortmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Wortmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, wie sich Literatur und Ökonomie zueinander verhalten, wie etwa Unternehmertum und Geld, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Produktion und Konsum, Luxus und Armut in literarischen Texten imaginiert werden, welche Gewinn- und Verlustrechnungen sie präsentieren, welche Funktion, welchen Status, welchen Sinn sie der Arbeit zuschreiben, ja, was literarische Texte überhaupt als ‚Arbeit‘ verstehen, hat die Philologien in den letzten beiden Dezennien umgetrieben. Über die Gründe dieser Prominenz der Ökonomie als Gegenstand der Germanistik ließe sich – no pun intended – spekulieren, vor allem im Hinblick darauf, was dieser Trend über das Fach und dessen Selbstverständnis aussagt.

Im Folgenden geht es aber nicht (oder nur implizit) um disziplinäre Selbstreflexion, sondern um einen aktuellen Beitrag zum Konnex von Literatur und Ökonomie: Franziska Schößler eröffnet mit dem Band Femina Oeconomica: Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur. Von Goethe bis Händler eine neue Reihe, die im Peter-Lang-Verlag unter dem Titel „Literatur – Ökonomie – Kultur“ erscheint. Das Herausgebergremium (zu dem Schößler selbst ebenfalls gehört) und der wissenschaftliche Beirat sind interdisziplinär besetzt: Neben Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern sind Vertreterinnen und Vertreter aus der Soziologie, der Geschichts- und Politikwissenschaft sowie der Philosophie und den Wirtschaftswissenschaften beteiligt. Ziel der neu aufgelegten Reihe ist, so liest man auf der Homepage des Verlages, „ein Forum für die interdisziplinäre Diskussion von Aspekten einer kulturwissenschaftlich orientierten Ökonomik“ zu bieten. Diesem Programm einer kulturwissenschaftlichen Ökonomik ist auch Schößlers Studie verpflichtet, die in den einzelnen Analysekapiteln immer wieder auf Ergebnisse der sozial- und geschichtswissenschaftlichen, der psychologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zum Thema ‚Arbeit‘ zurückgreift, um die jeweiligen literarischen Entwürfe von Arbeitswelten zu kontextualisieren und deren ‚Sitz im Leben‘ bzw. deren kulturanalytisches und sozialkritisches Potenzial herauszuarbeiten.

Aber der Reihe nach: Mit dem Fokus auf das Verhältnis von Literatur, Ökonomie und Geschlecht ist ein Themenbereich aufgerufen, der im Bereich der kulturwissenschaftlichen Forschung zur Ökonomie kein Desiderat im engeren Sinne darstellt. Im Gegenteil: Genderfragen haben die Forschung durchaus interessiert, weil die Literatur selbst den Konnex von Wirtschaft und Geschlecht immer wieder prominent setzt, indem sie beispielsweise berufliche Ausbildungs- und Erfolgsgeschichten als Initiationsnarrative, als scheiternde oder gelingende Geschichten einer ‚Mannwerdung‘ erzählt: Goethes Wilhelm Meister, Thomas Manns Buddenbrooks und John von Düffels Ego wären dafür Beispiele, die sich exemplarisch für die Zeiträume ‚um 1800‘, ‚um 1900‘ und ‚um 2000‘ anführen ließen.

Das Innovationspotenzial der vorliegenden Studie liegt nun darin, sich nicht auf das Verhältnis von Wirtschaft und Männlichkeit zu konzentrieren, sondern auf den zumeist marginalisierten Konnex von Ökonomie und Weiblichkeit. Ihre Untersuchung, so erklärt Schößler einleitend, nehme damit auch gegenüber der geschlechtertheoretisch interessierten Forschungs­diskussion eine entscheidende Akzentverschiebung vor. „[D]ie disziplinäre Grenze zwischen Gender und Men’s Studies“, so notiert die Autorin,

wiederholt in gewissem Sinne die Trennung von (weiblicher) ‚Nicht-Arbeit‘ und männlicher Lohnarbeit: Gender Studies konzentrieren sich in der Regel auf Weiblichkeit in kulturellen Kontexten jenseits ihrer ökonomischen Rahmungen und nehmen die gesellschaftliche Ressourcenverteilung nur vereinzelt in den Blick […]. Komplementär zu den kulturwissenschaftlichen Schwerpunkten der Gender Studies interessieren sich Männerstudien für „masculinity“ in den Feldern politischer und wirtschaftlicher Macht und beschäftigen sich mit den Verteilungsregeln diverser Kapitalien.

Die Genderforschung reproduziere also über ihre Themen- beziehungsweise Korpuswahl genau jene Stereotype, die zu kritisieren sie sich selbst anschickt. An diesem (selbstkritischen) Punkt nimmt der Band seinen Ausgang. Schößler setzt sich mit jenen Formen von weiblicher Arbeit auseinander, denen bisher nur wenig Aufmerksamkeit in der Literaturwissenschaft zukam. Dazu zählen vor allem Varianten von ästhetischer, emotionaler und prekärer Arbeit, Formen von Arbeit also, die, weil sie zum Teil nicht einem (professionellen) Beruf entsprechen und/oder nicht entlohnt werden (wie Hausarbeit, Kinderziehung und Pflege von Angehörigen) oder bei denen (etwa im Falle der Gouvernante oder des Dienstmädchens) die Trennung zwischen privater und beruflicher Sphäre, zwischen Arbeit und Freizeit, nicht oder nur schwer vorzunehmen ist – Formen von Arbeit mithin, die nicht als ‚Arbeit‘ im engeren Sinne verstanden oder ernst genommen werden. In den Blick kommen zudem ‚weibliche‘ Berufe, in denen spezifische Verbindungen zwischen Arbeit, Geschlecht und Sexualität vorherrschen (im 18. Jahrhundert etwa die Prostituierte, im 19. Jahrhundert die Fabrikarbeiterin, im 20. Jahrhundert die Sekretärin) sowie, genau umkehrt, Beschäftigungen in Berufswelten, die von Männern dominiert werden und in denen Frauen mit Vorurteilen konfrontiert sind.

Der Fokus der Untersuchung ist bewusst, ja programmatisch weit gestellt. In den Blick kommen kanonische Werke der deutschen, der englischen und der französischen Literatur ebenso wie Texte der sozialistischen Arbeiterbewegung, autobiographische Aufzeichnungen und Texte der Unterhaltungs- sowie der Middlebrow-Literatur. Gezeigt wird damit, dass der Konnex von Weiblichkeit und Ökonomie nicht marginal ist, sondern die Literatur in ihrer ganzen Breite betrifft. Ihr Projekt beschreibt die Autorin selbst in der Einleitung im Anschluss an Hayden White als eine „(Literatur-)Geschichte weiblicher Arbeit als Trauerspiel mit komödiantischen Einlagen, in der ästhetische Brillanz nicht selten mit der Reduktion weiblicher Spielräume Hand in Hand geht.“

Gegliedert ist diese ‚andere‘ Literaturgeschichte in fünf Teile. Einer Einleitung, in der die theoretischen und terminologischen Grundlagen der Studie geklärt werden, folgt als erster Teil ein Kapitel zu klassischen und romantischen Texten, in denen um 1800 der moderne Diskurs zu Arbeit und Unternehmertum begründet wird: Schößler arbeitet dazu unter anderem heraus, wie Goethe in den Lehrjahren den männlichen, asketischen Unternehmer in Absetzung von einem weiblich konnotierten Konzept sozialer Arbeit profiliert. In den Erzählungen von Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann hingegen wird ein emphatisches, auf Passion und absolute Identifikation setzendes Verständnis des Künstler(-berufes) entwickelt, das in der Folge auch auf andere Berufe wie den Unternehmer, den Wissenschaftler und den Kaufmann übertragen wird. Einher geht mit diesem emphatischen Konzept der Berufsarbeit aber die Marginalisierung weiblicher Arbeit, die vor allem als eine Kontrastfolie fungiert, vor der männliche Arbeit ihre Kontur und Bedeutung gewinnt.  

Der zweite Teil von Femina Oeconomica kreist in drei Kapiteln um die Semantisierung von körperlicher Arbeit von Frauen sowie um die Bewertung von Konsum in Texten vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert und fokussiert dabei vor allem drei Typen: die Proletarierin, die Prostituierte und die hysterische Konsumentin. Der literarischen Inszenierung der Kurtisane folgt die Studie von Defoe über Balzac bis zu Zola, um damit eine ‚Verfallsgeschichte‘ zu schreiben: Erscheint die Kurtisane bei Defoe noch als wirtschaftlich klug handelnde, rechnende und berechnende Figur, die in der Lage ist, sich eine eigene Existenz aufzubauen, so wird die Prostituierte (und zu keinem geringen Teil auch weibliche Arbeit en général) im Verlauf des 19. Jahrhunderts fortschreitend als moralisch fragwürdig dargestellt, um schließlich bei Zola als Figuration der Dekadenz schlechthin zu gelten.

Der dritte Teil der Studie widmet sich der Literatur des 20. Jahrhunderts im Hinblick darauf, wie hier an einer Ausdifferenzierung weiblicher Berufsbilder gearbeitet wird. Seinen Ausgang nimmt dieser Teil bei Arthur Schnitzlers Roman Therese, der die „Chronik eines Frauenlebens“ als Geschichte einer Aufopferung erzählt. Zwischen zwei Familien stehend, ist der Status der Protagonistin stets ein problematischer: Das unbedingte Engagement in der beruflichen Familie hat die Vernachlässigung der privaten zur Folge; der intimen Einbindung in das ‚Haus‘, in das Leben der Arbeitgeber, korrespondiert die Distanz zum eigenen Kind. Wie aktuell dieser Zusammenhang ist, zeigt sich nicht zuletzt in der emotionalen Debatte, die in Frankreich 2016 nach der Auszeichnung von Leïla Slimanis Roman Dann schlaf auch du mit dem Prix Goncourt über den prekären sozialen Status von Kindermädchen entstanden ist. Am Beispiel von Texten von Irmgard Keun und Christa Anita Brück diskutiert Schößler, wie das Wissen um die Normalität sexueller Übergriffe und den ‚professionellen‘ Umgang mit denselben zum Berufsbild der Sekretärin gehören – auch hier fühlt man sich auf jeder Seite an aktuelle Debatten im Zuge der #MeToo-Bewegung erinnert und wundert sich ein wenig, dass Schößler selbst diese Anschlussfähigkeit der ‚historischen‘ Texte nicht noch prägnanter herausstellt. Beschlossen wird das Kapitel mit einer Analyse von Ernst-Wilhelm Händlers Unternehmerinnen-Roman Wenn wir sterben, den Schößler als Gegenstück zu Goethes Wilhelm Meister liest: Wie sein Prätext arbeitet sich auch Händlers Roman an Vorstellungen guten Unternehmertums ab und ruft dabei mythische Intertexte auf, um Verbindungen von Mutterschaft und Management durchzuspielen; gleichzeitig aber verweigert sich Wenn wir sterben einer direkten Verbindung von Führungsstil und Geschlecht.

Bemerkenswert sind die Größe und die Diversität des Textkorpus, dank dessen sich ein panoramatischer Blick auf den Zusammenhang von Weiblichkeit und Ökonomie gewinnen lässt. Besonders beeindruckend ist es, dass Schößler – wie der beachtliche Fußnotenapparat und das umfangreiche Literaturverzeichnis zeigen – sich nicht nur skrupulös in die Forschungsdiskurse der jeweiligen Autoren- und Autorinnenphilologie bzw. des jeweiligen Genres eingearbeitet hat, sondern auch in die geschichtswissenschaftliche, wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Forschung zum Themenkomplex Arbeit, Konsum und Geschlecht. Wie tief die Germanistin tatsächlich in den Diskurs benachbarter Fächer eingestiegen ist, erweist sich – dies wäre als Kritikpunkt zu nennen – wenn sie hier und da darauf verzichtet, Begriffe oder Konzepte aus anderen Disziplinen zu erläutern. Dass man als literaturwissenschaftliche Leserin oder Leser mit diesen Begriffen konfrontiert wird, fordert aber auch auf, über den Tellerrand der eigenen Disziplin zu schauen. Um es anders zu fassen: Die Lektüre von Femina Oeconomica ist überaus lehrreich, denn der Band erschließt beispielsweise mit den frühsozialistischen Texten ein Korpus, das von der Geschichtswissenschaft und der Soziologie als Quelle genutzt, von der Literaturwissenschaft aber selten ernst genommen wird. Schößler widmet diesen marginalisierten Texten ebenso viel interpretatorische Aufmerksamkeit wie den Romanen Goethes, Flauberts oder Schnitzlers – mit dem Effekt, dass deren Gebrauch von Topoi, deren Nutzung von Narrativen, deren Aufgreifen von Genrekonventionen in den Blick kommt. Und dieser Blick auf die ‚Quellen‘ wiederum kann auch für die Geschichtswissenschaft oder die Soziologie im Hinblick auf die Frage von Interesse sein, wie sich persönliche Erfahrung und Erinnerung zum (meist impliziten oder implizit bleibenden) Wissen der Gattung Autobiographie verhalten. Femina Oeconomica ist damit ein eindrücklicher Beleg dafür, dass die allgegenwärtige Rede vom interdisziplinären Dialog innerhalb der humanities noch ernst genommen werden kann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Franziska Schößler: Femina Oeconomica. Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur: Von Goethe bis Händler.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
330 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783631728000

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