Eine Dystopie im Gewand der Utopie

Rose Macaulays satirischer Zukunftsroman „Was nicht alles“ zeigt, was in einem Ministerium alles schiefgehen kann

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Romane, die in der Zukunft spielen. In manchen von ihnen werden utopische Gesellschaften erträumt, andere entwerfen Dystopien. Und dann gibt es noch solche, in denen sich als utopisch gedachte Gesellschaften tatsächlich als dystopisch erweisen.

Einen der ersten Romane dieser dritten Variante hat Rose Macaulay unter dem Eindruck der Schrecken des Ersten Weltkrieges erdacht. In den Jahren 1916 und 1917 geschrieben, handelt er von der Zeit wenige Jahre nach Kriegsende. Die Herrschenden Englands sind zu der Auffassung gelangt, dass die Ursache aller bisherigen Kriege alleine in der Dummheit der Menschen liegt. Um künftige Völkerschlachten zu verhindern, sollen daher Bildung und Intelligenz der Bevölkerung angehoben werden. So hat es die Regierung beschlossen und ein Verstandesministerium gegründet. Es versucht, „mit Anreizen, mit Belohnungen und Bestrafungen“ seiner Aufgabe nachzukommen. Denn es ist der Überzeugung, „dass die Leute sich gerne zu Verbesserungen zwingen lassen“.

Aufgabe des „Ministeriums für Verstand“ ist es weder, „Menschen glücklich zu machen (das konnte man getrost der Abteilung für Unterhaltung überlassen)“, noch „sie gut zu machen (das war Aufgabe der Kirche, die nun, zu beider Gewinn, vom Staat getrennt war)“. Seine Funktion besteht vielmehr darin, „den gesellschaftlichen Fortschritt voranzutreiben und einen weiteren Großen Krieg zu verhindern“. Darum will es die Menschen dazu bringen, über die Generationen hinweg immer klügere Nachkommen zu zeugen. Um dies zu gewährleisten, besitzen alle „ein Formular des Ministeriums, auf dem seine oder ihre offiziell bestimmte und registrierte geistige Kategorie vermerkt war“. Sie entscheidet darüber, wer wen heiraten sollte. Beispielsweise sollten Menschen, die der niedrigsten Kategorie angehören, einander nicht heiraten. Jene, deren Verstand von „höchster Güte“ ist, sind hingegen dazu angehalten, vorzugsweise jemanden aus einer mittleren Kategorie zuehelichen. Denn dass zwei Menschen der höchsten Kategorie heiraten, gilt als Verschwendung geistiger Kapazitäten. Doch führen die „Details der Regularien, ihre Feinheiten und Verwickelungen“ zu „endlosen und komplizierten Sonderregelungen“.

Weitere Instrumente zur Hebung der individuellen und somit auch der allgemeinen Intelligenz bestehen in Schulungen, Propaganda und last not least der Besteuerung von Kindern „besnders dumm[er]“ Eltern. So sind Straßen der Städte mit Plakaten gepflastert, in denen AbsolventInnen der Schulungen, davon schwärmen, wie sehr ihnen diese geholfen haben. Ein „berühmter Finanzbeamter“ erklärt etwa, er habe „seit Beginn der Schulung [s]ein Einkommen verdoppelt und die von 750 anderen halbiert“, und ein Minister versichert, „Dank der Verstandesschulung“ sei er „nun schon seit über sechs Wochen im Amt“ und hoffe, „noch mindestens drei weitere [zu] schaffe[n]“. Während Propaganda und Schulungen nur von mäßigem Erfolg sind, zeitigt die Besteuerung von Kindern dummer Eltern sogar ausgesprochen unerwünschte Folgen. Denn es werden immer mehr Babys „überall im Land ausgesetzt“.

Doch auch im Verstandesministerium selbst läuft nicht alles so, wie es sollte, sind etliche seiner MitarbeiterInnen doch nicht wirklich von ihrer Tätigkeit überzeugt. Eine von ihnen ist die 29-jährige Kitty Grammond, die man mit einigem Recht als die zentrale Protagonistin des Romans bezeichnen kann. Dummerweise hat sich die Frau mit den „unschuldige[n] Bernsteinaugen, die scharfsinnig unter langen dunklen Wimpern hervorschauen“, vor langer Zeit mit einem stümperhaften Revolutionstouristen verlobt, und versucht seither vergeblich, die ihr schon lange unliebsame Verbindung aufzulösen. Das aber will nicht gelingen, da ihre entsprechenden Briefe den ehemals Geliebten nie erreichen. Denn der Möchtegern-Revoluzzer reist in kürzesten Abständen quer durch alle Kontinente; immer dahin, wo sich gerade ein Aufstand anzubahnen scheint.

Die Auflösung der Verlobung wird für Kitty umso dringlicher, als sie sich in einen anderen Mann verliebt, und zwar ausgerechnet in den Minister höchstpersönlich. Der Ehe mit ihm steht allerdings noch ein anderes Hindernis im Weg, entstammt er doch einer Familie von so „niedrigem geistigem Kaliber“, dass sie nicht einmal die unterste Verstandeskategorie erreichte und er daher selbst „unzertifiziert“ ist, was allerdings nur Wenigen bekannt ist. Wer wissen will, ob sie dennoch zusammenfinden, muss allerdings schon zu dem Buch selbst greifen.

Sein Untertitel weist den Roman jedenfalls als „prophetische Komödie“ aus. Mag er als Prophezeiung an eben jenem Leiden laborieren, das alle Weissagungen und Vorhersagen dieser Art plagt, dass sie sich nämlich nicht erfüllen, so lugt der Schalk seines komödiantischen Charakters so ziemlich aus jedem der durch den Text mäandernden Girlandensätze hervor. Komisch, das heißt auf eine Weise lustig, die als typisch britisch gilt, sind auch Ausgestaltung der Gesellschaft und des Ministeriums mit seinen verschiedenen Abteilungen sowie diverse Ideen und überhaupt der ganze Stil, den die Übersetzerin Josephine Haubold geradezu kongenial ins Deutsche transformiert hat.

Auch die Religion wird aufs Korn genommen. Um sie „zu organisieren, braucht ein Mensch die Talente des Teufels oder zumindest die des intelligenten Beamten“, heißt es etwa. Ihre Gottesbeweise führt sie anhand planetarer Entfernungen.

Die Medien werden ebenfalls vom satirischen Blick der Autorin getroffen. So erfindet sie etwa Meldungen und Schlagzeilen realer und erdachter Zeitschriften. Zu den fiktionalen Zeitungen zählen etwa die Hidden Hand, „ein Blatt, auf dessen unbedingte Unterstützung sie [die Regierung] sich verlassen konnte“, und Stop It, die immer gegen alles eintritt, dabei aber stets vollkommen unkonkret bleibt.

Text und Handlung sind von zahlreichen Bezugnahmen und Anspielungen auf zur Entstehungszeit aktuelle oder allgemein bekannte historische Ereignisse und Personen durchzogen. Manche von ihnen erschließen sich heute nicht mehr ohne Weiteres. Sie werden dankenswerterweise in einem Anmerkungsapparat erläutert.

Ist das Geschehen auch in der Zukunft der Entstehungszeit des Buches angesiedelt, so bietet es doch kaum Science-Fiction-Elemente wie etwa neuartige Erfindungen. Allerdings bereitet den Menschen die „überbevölkerte Erde“ Sorgen, und insofern erweist sich die „Komödie“ womöglich doch als prophetisch. Nun soll der Ausgang des Romans zwar nicht unnötig gespoilert werden, aber es sei doch so viel verraten, dass sich letztlich „das Begehren des Einzelnen [durch]setzt“ und „seinem sanften Druck […] Prinzipien und Ideal zum Opfer [fallen]“.

Titelbild

Rose Macaulay: Was nicht alles.
Aus dem Englischen von Josefine Haubold.
AvivA Verlag, Berlin 2022.
280 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783949302077

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