Ein Spiegel des Himmels auf Erden?

Eine ausführliche Neuedition der „Sankt Galler Klostergeschichten“ Ekkeharts IV. lenkt den Blick wieder auf frühe Überlieferungs- und Kirchengeschichte

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Kloster Sankt Gallen kann in seiner Bedeutung für die Missionierung des (östlichen) Bodenseeraumes kaum überschätzt werden, ist doch von dieser ursprünglich abseits der Zivilisation gelegenen Einsiedelei mancher Impuls für die (Wieder-)Ausbreitung des Christentums nach den Wirren der Völkerwanderungszeit ausgegangen. In späterer Zeit wurde das dann bereits als Traditionsort bekannte Kloster zu einem der Zentren des kulturellen Lebens im nördlichen Voralpenraum.

Das Kloster brachte dementsprechend bedeutende Denker des Mittelalters hervor – oder nahm diese vielmehr auf und ermöglichte es ihnen, in modernem Wortsinne kulturelle Techniken zu entwickeln oder zu verfeinern und sich demgemäß in den Strom kultureller Überlieferung einzugliedern. Einer dieser Exponenten geistigen wie geistlichen Lebens war der Mönch Ekkehart, der vierte seines Namens, der wohl noch vor der Jahrtausendwende geboren im frühen 11. Jahrhundert in Sankt Gallen lebte und wirkte. Überliefert sind unter anderem Glossen, in denen sich der Mönch über ‚Neuerungen‘ erregte, und damit eine vielleicht als ‚wertkonservativ‘ zu verstehende Position vertrat. Wesentlicher allerdings sind die Sankt Galler Klostergeschichten, die wohl in gewisser Hinsicht als Ergebnis dieser Verärgerung angesehen werden können.

Dieses Werk ist bereits mehrfach ediert worden. Gleichwohl bestand, wie es sehr häufig auch bei anderen bereits in der germanistischen ‚Frühzeit‘ herausgegebenen mittelalterlichen Texten der Fall ist, doch der Wunsch nach einer den jüngeren Forschungsergebnissen angepassten Neuausgabe, die hier nun vorliegt. Es muss verwundern, dass die ersten Ansätze fast siebzig Jahre zurückliegen, aber zum einen sind die Klostergeschichten durchaus nennenswerten Umfangs, zum anderen prägte dieses Editionsunterfangen neben absonderlichen Umständen auch eine sicherlich nicht zu Unrecht als tragisch zu bezeichnende Komponente: Zunächst wurde die Aufgabe dem Schweizer Historiker Hanno Helbling übertragen, der 1954/55 Stipendiat der Monumenta Germaniae Historica in München war; bereits 1956 wurde Helbling dann sein Landsmann Hans Frieder Haefele zur Seite gestellt. Zu dieser Zeit wurde erwartet, dass das Projekt in etwa einem Jahr abgeschlossen sein würde.

Offenkundig ist das aber nicht geschehen, da zunächst der vorgesehene Editor einen anderen Berufsweg einschlug und der eigentlich zur Unterstützung herangezogene Hans Frieder Haefele gewissermaßen über Nacht zum Hauptherausgeber wurde. Obschon das Ganze zunächst wie eine Notlösung aussah, war Haefele der richtige Mann, der – so wird es etwa im Vorwort des vorliegenden Buches dargelegt – ‚im Bann‘ Notkers stand und dementsprechend auch außerhalb seiner editorischen Aufgaben in universitärer Forschung und Lehre dem Chronisten des Klosters Sankt Gallen verpflichtet war und blieb. Es blieb Haefele aber verwehrt, sein Werk zu vollenden; im Oktober 1997 starb er nach schwerer Krankheit und hinterließ umfangreiches Material und auch entsprechende textliche Ausarbeitungen – allerdings eben kein abgeschlossenes Werk. Im Frühjahr 1999 schließlich wurde die Aufgabe Ernst Tremp übertragen, der dieses schwere Erbe antrat und die Edition schließlich mehr als zwanzig Jahre später vollendete.

Warum dieser umfangreiche Blick auf die Umstände der Edition? Zum einen wird selten so deutlich zum Ausdruck gebracht, wie langwierig editorische Projekte sind beziehungsweise sein können. In der heutigen Zeit, in der just in time ein nachgerade gesellschaftspolitisches Credo wurde, ist derlei für das ‚normale Leben‘ kaum mehr vorstellbar. Und überdies erscheint es mir so, dass hier nicht zuletzt auch ein Hauch ‚authentisches Mittelalter‘ erkennbar ist: Das Arbeiten über Generationen, und diese Edition hat ungefähr zwei Generationen gebraucht, war für die Epoche des Mittelalters quasi selbstverständlich und konnte angesichts der technologischen ‚Mangelbedinungen‘ auch gar nicht anders angegangen werden.

Allein diese Rahmenbedingungen lenken den Blick also auf das Buch beziehungsweise die editorische Staffelleistung, die einen der wesentlichen Texte mönchischer Gelehrsamkeit des Frühen Mittelalters zugänglich macht. Zunächst wird der Blick auf die Person Ekkeharts gelenkt, dessen Lebensumstände angesichts der dünnen Überlieferungslage nur schwer genauer bestimmt werden können. Mehr ist über die Werke des St. Galler Mönches bekannt, die dann vorgestellt werden. In erster Linie von Interesse sind natürlich die Klostergeschichten, die hinsichtlich Titel, Thema und Aufbau des Werkes Ekkeharts VI. vorgestellt werden und damit eine erste Basis für die Textlektüre liefern. Interessant ist, dass die frühe Germanistik, mehr noch aber die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in der Ekkeharts Werk erstmals wissenschaftlich herausgegeben und untersucht wurde, den Mönch wohl für den ‚unseriösesten Chronisten aller Zeiten‘ gehalten hat: Ihm wurde unterstellt, sein Werk nur auf Hörensagen und nicht auf etwas seriöseren Schriftquellen aufgebaut zu haben.

Diese Ansicht ist längst widerlegt, und gerade das, was im 19. Jahrhundert als anstößig empfunden wurde – die Kombination von Vergangenheitsbeschreibung und Gegenwartschronistik –, ist einer der Gründe dafür, warum Ekkehart IV. und seine Geschichte des Klosters Sankt Gallen heute so interessant erscheinen. Wichtig sei es aus gegenwärtiger Sicht, so zumindest lassen sich die entsprechenden Ausführungen Ernst Tremps interpretieren, gerade aus dem im 19. Jahrhundert misstrauisch Degoutierten im Werk Ekkeharts konstruktive und innovative Aspekte herauszulesen. Dass dieser Aspekt, so scheint es, bereits recht früh positiv aufgenommen worden war, ergibt sich aus den zahlreichen Überlieferungen, das heißt Abschriften und Bezugnahmen, die unter dem Titel „Fortleben und Überlieferung“ in vorliegendem Band abgehandelt werden. Dabei wird auch noch einmal auf frühere Übersetzungen und Ausgaben verwiesen, bevor kurz auf die der vorliegenden Edition zugrunde liegende, um das Jahr 1200 zu datierende Abschrift B eingegangen wird.

Dem eigentlichen Text ist nicht nur ein grundsätzliches Abkürzungs- und Siglenverzeichnis vorangestellt, sondern auch ein umfangreicher bibliographischer Nachweis über die herangezogenen Quellen und Sekundärtexte. Positiv ist auch, dass das Siglenverzeichnis nicht nur die Abschriften des Ekkehart auflistet, sondern über den Verweis auf die jeweilige Homepage auch einen leichteren Zugang zum digitalisierten Text ermöglicht.

Das Werk Ekkeharts, die Klostergeschichten, zu paraphrasieren maße ich mir nun nicht an, überdies würde das nicht nur die Geduld der Lesenden, sondern auch den Rahmen einer Rezension sprengen. Gegenübergestellt sind der lateinische Originaltext und eine neuhochdeutsche Übertragung, die auf der Übersetzungsarbeit des verstorbenen Hans Frieder Haefele aus dem Jahre 1980 beruht und die sich dem lateinischen Original sehr gut anpasst.

Es lohnt in jedem Fall, auch wenn das Interesse am Bodenseeraum des Frühmittelalters vielleicht nicht ganz so ausgeprägt ist, sich auf die Klostergeschichten einzulassen. Es handelt sich gewissermaßen um einen Kreis, der mit dem Verweis darauf beginnt, dass Mitbrüder ihn gedrängt hätten, das Werk zu beginnen, Ekkehart aber davon ausgehe, dass er wenig Dank dafür erfahren werde. Das ist nicht nur die übliche Floskel sich zurücknehmender Bescheidenheit, sondern ganz dezidiert auch Kritik an den vermeintlich ‚entarteten‘ Zeitläuften. Angeprangert zu werden entspreche den aktuellen Sitten und Gebräuchen, so Ekkehart. Und dass die Attitüde der Selbstzurücknahme nicht ganz ernst gemeint war, geht aus der letzten Klostergeschichte hervor, die den Besuch des sächsischen Kaisers Ottos des Großen in Sankt Gallen beschreibt. Der bildungsaffine Herrscher war so begeistert von der reich ausgestatteten Klosterbibliothek, dass er quasi nebenbei einige der schönen Bücher mit sich nahm. Und hier greift Ekkeharts Bescheidenheit: In dieser nämlich gibt er zu Protokoll, dass es ihm gelungen sei, einige dieser ‚Dauerleihgaben‘ wieder in klösterlichen Besitz zu überführen.

Nicht immer geht es so absonderlich zu, aber die beschriebenen Ereignisse, die sich um den Lauf der Geschichte des Klosters Sankt Gallen ranken, sind immer wieder spannend zu lesen, weil hier auch Einblicke in die Mentalitäten sowohl der Zeit als auch des Verfassers gewonnen werden können. Dies allein, aber vor allem auch die sorgfältige Aus- und Aufarbeitung des Ekkehart-Textes, die durch ein umfangreiches Register abgerundet werden, machen den Wert der vorliegenden Ausgabe aus. Und wenngleich natürlich nicht klar ist, wie das Ganze ohne die erwähnten, zum Teil eben tragischen Brechungen und Verzögerungen ausgesehen hätte: Zumindest das vorliegende Ergebnis ist der Aufmerksamkeit und der Lektüre voll und ganz wert.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Hans Frieder Haefele / Ernst Tremp (Hg.): Ekkehart IV. St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli).
Unter Mitarbeit von Franziska Schnoor.
Übersetzt von Hans Haefele und Ernst Tremp.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2020.
XVI, 688, 85,00 EUR.
ISBN-13: 9783447111782

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