Der Aufbruch ist literarisch – und weiblich

Zur Gegenwartsliteratur georgischer Schriftstellerinnen

Von Rosa EidelpesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosa Eidelpes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Sommer zog es so manche europäische Urlauberin nach Georgien. Das kleine Land am Kaukasus lockt mit seinem moderaten Klima, der reizvollen Landschaft, einer uralten Weinkultur und der berühmten georgischen Gastfreundschaft. Dass Georgien in diesem Oktober Gast der Frankfurter Buchmesse ist, war für viele ein weiterer Reisegrund – und Anlass für zahlreiche Verlage, deutsche Übersetzungen von bisher wenig bekannter georgischer Gegenwartsliteratur zu präsentieren. Bei der Lektüre dieser Neuübersetzungen zeigt sich: Die Erzählwerke der jüngeren und weiblichen Schriftstellergeneration stellen vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Kaukasusrepublik in den Mittelpunkt. Sie handeln von den patriarchalen Familienstrukturen und der immer noch weitverbreiteten häuslichen Gewalt gegen Frauen, von misogynen Sexualvorstellungen, Homophobie und gesellschaftlicher und religiöser Doppelmoral – aber auch von Freiheit, Emanzipation und der Möglichkeit neuer Geschlechter- und Liebesbeziehungen.

Dass soziale Themen den jungen Georgierinnen unter den Nägeln brennen, leuchtet beim Besuch des Landes gleich ein. Die Kaukasusrepublik, die sich selbst lieber als Teil Westeuropas sieht denn als postsowjetische Schwarzmeerregion im Würgegriff Russlands, kämpft trotz guter wirtschaftlicher Wachstumsprognosen unübersehbar mit Armut, Arbeitslosigkeit, einer mangelnden sozialen Grundversorgung – und mit starken Defiziten in der Gleichstellung von Frauen und sexuellen Minderheiten. Zwar prägen in Georgien die Frauen das öffentliche Leben ebenso wie die Männer und zeigen sich dabei genauso vielfältig wie das Land selbst: Sie verkaufen Brot aus den Fenstern der stickigen Tifliser Kellerbäckereien und Kredite in klimatisierten Bankfilialen. Sie managen die vielen familienbetriebenen Touristenherbergen des Landes oft im Alleingang oder leiten Startups und Ministerien. Man trifft sie rauchend in der Bar oder betend in der Kirche, sie bieten Museumsführungen in fünf Sprachen an oder verkaufen Äpfel und Ikonenbildchen am Straßenrand. Sie tragen lange Röcke und schwarze Kopftücher oder hippe Tätowierungen und Jeans. Doch ein Blick auf die Sozialstatistiken zeigt, dass Frauen in Georgien noch immer schlechter bezahlt werden als Männer, Familien weiterhin patriarchal organisiert und häusliche Gewalt und Feminizid immer noch weit verbreitet sind. Zwar wurden in den letzten zehn Jahren immerhin die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Frauen verbessert, in der Realität sind sie aber immer noch wirtschaftlich und sozial benachteiligt.

Auch von einer gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexualität kann kaum die Rede sein. Nur eine kleine, weitgehend urbane Bevölkerungsschicht profitiert bisher von den sich auch in Georgien wandelnden Geschlechterverhältnissen und der Lockerung der Sexualmoral. Nicht zuletzt das altertümliche Wertesystem der georgisch-orthodoxen Kirche blockiert dabei den Wandel. Seit der Unabhängigkeit 1991 beruft sich das Land verstärkt auf eine vorsowjetische, bis in die Antike zurückreichende, christliche Tradition. Über 80 Prozent der Bevölkerung gehören der georgisch-orthodoxen Kirche an. Vorehelicher Sex stellt für Frauen in Georgien immer noch weitgehend ein Tabu dar – chirurgische Eingriffe zur Hymenrekonstruktion erlebten noch vor wenigen Jahren einen regelrechten Boom. Auch Scheidung ist immer noch mit sozialer Schande konnotiert – und zwar in erster Linie für die Frau. Und gewalttätige Angriffe auf Minderheiten und Vertreter scheinbar glaubensfeindlicher Meinungen geschehen in Georgien nicht selten mit explizitem Bezug auf die orthodoxe Religion. Besonders erschreckend: die Bilder von orthodoxen Priestern, die noch im Jahr 2012 gemeinsam mit rechten Gruppen auf die Teilnehmer einer Demonstration zu Homo- und Transsexuellenrechten einprügelten.

Es ist vor diesem Hintergrund vielleicht kein Wunder, dass gerade Frauen und sexuelle Minderheiten zum Widerstand gegen die alte Ordnung aufrufen. Die erfolgreichsten sozialen Proteste der jüngsten Zeit gingen in Georgien von einem Milieu aus, in dem sich Frauenrechts- und LGBT-Aktivistinnen tummeln: Im Frühjahr strömten nach brutalen Razzien in bekannten Tifliser Technoclubs tausende Anhänger und Sympathisantinnen der Szene gegen die restriktive Drogenpolitik des Landes auf die Straße und erwirkten immerhin die Legalisierung von Marihuanakonsum. Der Protest der jungen, prowestlichen und sexuell aufgeschlossenen Clubkultur zielte aber nicht nur auf ein völlig unverhältnismäßiges Gesetzessystem, das Drogenkonsumenten teils wesentlich stärker bestrafte als korrupte Politiker. Die Kritik der Bewegung richtete sich generell auf die Einschränkung von Menschenrechten sowie individueller und sexueller Freiheit.

Die Lage von Frauen und gesellschaftlichen Minderheiten ist auch zentrales Thema der zur Zeit wichtigsten georgischen Gegenwartsautorinnen. Während der Leserschaft hierzulande vermutlich einzig die Starautorin Nino Haratischwili bekannt ist, lassen sich nun, der Frankfurter Buchmesse sei Dank, auch die Werke dieser Autorinnen in deutscher Übersetzung entdecken – und mit ihnen die teils düsteren Zustände in der georgischen Gesellschaft.

Die 1978 in Tiflis geborene Nana Ekvtimishvili hat an der Filmhochschule in Potsdam Babelsberg studiert und lebt heute als Regisseurin in Berlin. Das Birnenfeld ist ihr erster Roman und erschien im georgischen Original bereits 2015. Geschrieben aus der Perspektive der 18-jährigen Lela erzählt Ekvtimishvili Geschichten rund um das historische Internat für geistig beinträchtige Kinder, die sogenannte „Debilenschule“, ein institutionelles Erbe der Sowjetunion. Verbannt in die Plattenbauwüste am Rande der georgischen Hauptstadt lebten die Internatsschüler dort noch in den 1990er Jahren in ärmlichsten Verhältnissen. Viele von Ekvtimishvilis Protagonisten sind allerdings völlig gesund, sie wurden von ihren zerrütteten Familien im Internat „abgegeben“. Auch Lela weiß nicht, wer ihre Eltern sind. In raschem Tempo und in bildstarker Sprache werden Leserinnen mit den teils unmenschlichen Verhältnissen des Internats und dem sexuellen Missbrauch durch Lehrer und Mitschüler konfrontiert. In einer der drastischsten Szenen erinnert sich Lela an die systematische Vergewaltigung der neuen Mädchen durch die älteren Schüler. Doch trotz des schwierigen Themas bleibt Ekvitimshvilis Sprache ebenso einfühlsam wie unsentimental, die Beurteilung der Geschehnisse erfolgt stets aus der Perspektive Leilas. Und obwohl die Verhältnisse für das Mädchen Normalität sind, bleibt sie nicht in der Opferposition: Leilas Stärke liegt in der Solidarität mit anderen Kindern und ihrem Versuch, die jüngeren unter ihnen vor dem eigenen Schicksal zu bewahren.

Auch die Schauspielerin und Übersetzerin Iunona Guruli, ebenfalls Jahrgang 1978, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Wenn es nur Licht gäbe bevor es dunkel wird ist ihr Debüt, das sie selbst ins Deutsche übersetzt hat. Das autobiografisch inspirierte Buch ist episodenhaft aufgebaut, die einzelnen Erzählungen kommunizieren nur lose miteinander. Sie stehen für sich – und lassen sich doch als Teil eines großen Ganzen lesen, als einzelne Stränge der Lebensgeschichte einer oder auch mehrerer, meist namenloser Frauen. Durch Gewalterfahrung aus der Bahn geworfen, irren sie durchs Leben. Sie sind drogensüchtig und kleinkriminell, kämpfen mit dem Entzug oder den Folgen einer illegalen Abtreibung, haben allein ein Kind oder eine ganze Familie zu versorgen. Die Erzählperspektive wechselt von Geschichte zu Geschichte, bleibt aber stets ganz nah an der jeweiligen Protagonistin und ihrem Schicksal. Die Kindheitserinnerungen einer jungen Frau werden mit der Gruppenvergewaltigung nach einem Clubbesuch verknüpft, Mädchenträume von einem Leben als Dichterin mit dem tatkräftigen Drängen des ersten Freundes auf Sex. Die Männer sind in Gurulis Geschichten gewalttätige Liebhaber, brutale Ehemänner oder vergewaltigende und mordende Polizisten und Soldaten. Die Autorin ist ganz auf die Leidensgeschichte der weiblichen Protagonistinnen konzentriert. Man mag ihr vorwerfen, dass sie die Geschlechterverhältnisse damit vereinfacht. Doch die Schicksale der Protagonistinnen stehen symbolisch für den psychischen und physischen Missbrauch in vielen georgischen Frauenleben, das Buch lässt sich deshalb auch als Testament der Trauer über die noch immer allgegenwärtige patriarchale Gewalt in Georgien lesen.

Auch Tamta Melashvilis Erzählband Marines Engel handelt vom Alltag georgischer Frauen, von Betrug und Doppelmoral in der Ehe, von weiblicher Freundschaft und Konkurrenz. Besonders bestechend an Melashvili ist ihr Schreibstil: Ihre rasante und rhythmische, zugleich mündliche und hochgradig poetische Sprache faszinierte bereits in ihrem Roman Abzählen, für den sie mit dem deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet wurde. In Marines Engel stehen die scheinbar banalen Ereignisse des Lebens im Mittelpunkt, in denen sich doch die Grausamkeit oder einfach Ungenügsamkeit der zur Formelhaftigkeit erstarrten sozialen Umgangsformen offenbart – etwa wenn die Trauer der Protagonistin über den Tod des Großvaters in den floskelhaften religiösen Trauerbezeugungen erstickt wird oder die schwangere Erzählerin mit der gesellschaftlichen Abwertung ihrer weiblichen Zwillinge bereits im Mutterleib konfrontiert ist. Melasvhili problematisiert auch normative Sexualitätskonzepte: Die Geschichte „Das andere Grau“, die auch in der lesenswerten Anthologie georgischer Schriftstellerinnen Bittere Bonbons erschien, erzählt von einer lesbischen Liebe, die nicht sein darf: „Du musst vorsichtig sein“, rät eine Freundin der unglücklich verliebten Erzählerin: „Vorsichtig mit ihr und mit allen anderen. Wenn man von deiner Neigung erfährt, kriegst du zusätzlichen Scheißschmerz.“

Von der Unmöglichkeit lesbischer Liebe in einer homophoben Gesellschaft handelt auch Tamar Tandaschwilis Roman Löwenzahnwirbelsturm in Orange. Auch Tandaschwili verwebt verschiedene Geschichten und Erzählstränge zu einem Ganzen. Es gibt die Ich-Erzählerin, die Psychiaterin Eka, ihre Freundinnen und ihre durch homophobe Polizeigewalt und sexuelle Diskriminierung traumatisierten Klienten. Ihr Schicksal kreuzt sich mit der Geschichte des ehemaligen Soldaten Mserosa, der schon früh zum Vergewaltiger, später zum Politiker und schließlich zum Mönch wird – eine unverhüllte Kritik an der Rolle der steuerlich privilegierten georgisch-orthodoxen Kirche als Auffangbecken für korrupte Ex-Politiker. Der orangefarbene Löwenzahnstrauß, der Mserosas Opfer im Moment der Vergewaltigung erscheint, steht für das Sich-Wegträumen in eine andere, eine bessere Welt. Die Psychologin und Gender-Aktivistin Tandaschwili beschreibt nicht nur den Status Quo, sondern formuliert auch gesellschaftliche und politische Visionen. So lassen sich die sprechenden Tiere des Romans – ein verletzter und gerettete Hund, ein Nilpferd und ein Maultier, das schließlich den tödlichen Unfall Mserosas provoziert – auch als Vorboten einer Gesellschaft verstehen, die nicht mehr patriarchal, hierarchisch und heteronormativ organisiert ist.

Allen Autorinnen ist gemeinsam, dass sie die oft die bittere Alltagsrealität derjenigen zum Thema haben, die von der gesellschaftlichen Macht ausgeschlossen sind. Der „Realismus“ ihrer Texte weist aber auch über die Gegenwart hinaus. Die Protagonistinnen sind zwar gepeinigt und beschädigt, aber nie völlig gebrochen oder hoffnungslos. Ihre Stärke liegt in der Imagination einer anderen Welt. Thematisch mag dies an das „Empowerment“ des 70er-Jahre-Feminismus erinnern, das macht die Werke dieser Autorinnen aber keineswegs obsolet: Dass gegenwärtig Geschlechterbeziehungen und Sexualität der Dreh- und Angelpunkt der Neuverhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse sind, das hat spätestens die #MeToo-Debatte bewiesen. Der soziale Wandel wird sich nicht nur Georgien an der Geschlechterfrage messen lassen müssen. In dem Land, das sich seit jeher über die georgische Sprache und Schrift definiert, kommt der Literatur dabei immer noch eine wichtige Rolle in der Verhandlung kultureller und nationaler Identität zu. Dass diese Identität und mit ihr die georgische Gesellschaft im Umbruch ist, das zeigen die Straßenproteste – und ebenso die Texte der georgischen Schriftstellerinnen, die zu diesem Prozess einen nicht unbedeutenden Beitrag leisten.

Titelbild

Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld. Roman.
Übersetzt aus dem Georgischen von Ekaterine Teti und Julia Dengg.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
221 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783518468821

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Iunona Guruli: Wenn es nur Licht gäbe, bevor es dunkel wird.
Übersetzt aus dem Georgischen von Iunona Guruli.
btb Verlag, München 2018.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783442757992

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Tamta Melashvili: Marines Engel. Erzählung.
Übersetzung aus dem Georgischen Tamar Kotrikadse.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2018.
120 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783990293089

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Tamar Tandaschwili: Löwenzahnwirbelsturm in Orange. Roman.
Übersetzt aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani.
Residenz Verlag, Salzburg 2018.
135 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783701716913

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Titelbild

Rachel Gratzfeld (Hg.): Bittere Bonbons. Georgische Geschichten.
edition fünf, Gräfelfing 2018.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783942374934

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