Aufklärender Beitrag zum Kulturkampf

Aladin El-Mafaalani analysiert die Entstehung und Wirkung von und den Umgang mit Rassismus

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aktualität des Buches Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand ist unübersehbar. Fast täglich wird man beim Nachrichtenkonsum mit der Thematik konfrontiert – sei es, dass eine Frankfurter Stadtverordnete moniert, auf der Buchmesse seien schwarze Frauen nicht willkommen; sei es, dass den Medien für ihre „verzerrte, stigmatisierende und rassistische“ Berichterstattung über Clankriminalität die „Goldene Kartoffel“ verliehen wird; sei es, dass das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ über eine Unterdrückung der Meinungsfreiheit in den Universitäten durch die ‚Cancel Culture‘ klagt. In diesem aufgeheizten Debattenklima mag die sachliche, informative, differenzierte Analyse von El-Mafaalani befriedend wirken – in jedem Fall ist sie wohltuend. Sie trägt der Komplexität des Problems Rechnung, bringt dem mehrheitsgesellschaftlichen Denken die Perspektive Betroffener näher und diskutiert Erklärungen für die Heftigkeit der Auseinandersetzungen.  

Rassismus – so El-Mafaalani – entsteht aus einem „Dreiklang: Kategorisierung, Wertung, Ausgrenzung“. Menschen werden auf der Basis tatsächlicher oder zugeschriebener, biologischer oder kultureller Merkmale klassifiziert. Diese Klassen werden in einer wertenden Hierarchie angeordnet. Die unteren erfahren Ablehnung, Ausgrenzung, im Extremfall Vernichtung. Diese Definition erweitert und präzisiert notwendigerweise Baumanns plakative Gleichsetzung von Klassifikation mit „den Operationen des Einschließens und Ausschließens“ und ihrer Deutung als „Gewaltakt“. Schließlich ist, wie El-Mafaalani zu Recht feststellt, Klassifizieren eine Universalie. Entscheidend für Diskriminierung sind Abwertung und Ausschluss. Zur Klasse der Betroffenen zählt er neben PoCs speziell in Deutschland auch migrantisierte Personen, die nach Zugehörigkeit (Deutschsein), Abstammung (Herkunft) und wahrnehmbaren Differenzen (Akzent, Hautfarbe) sowie Religion (gehört der Islam zu Deutschland?) zu Fremden gemacht werden („Othering“), wobei es vielerlei Überschneidungen gibt (Intersektionalität). Rassismus – so die zentrale These – durchzieht die ganze Gesellschaft. Auf der Makroebene ist struktureller und kultureller Rassismus (national und global) ablesbar an systematischen Unterschieden in Einkommen, Vermögen, Bildung und Status sowie an exkludierenden und abwertenden Sprachgewohnheiten („N-Wort“) und Wissensbeständen (Stereotypen, Vorurteile). 

Auf der Mesoebene zeigt sich institutioneller Rassismus in den Verfahren, Routinen, Praktiken von Organisationen und Betrieben. So etwa herrscht in der Schule eine Normalitätserwartung (Sprachbeherrschung, elterliche Unterstützung), die Migrantenkinder kaum erfüllen. In den Lehrmaterialien finden sich rassistische Denkmuster; die Diskussion von Kolonialismus und Rassismus fehlt – auch in der Ausbildung der Lehrkräfte. Die Polizei setzt racial profiling ein und dämonisiert Shisha-Bars als Chiffre für Clankriminalität. Auf dem Arbeits- und insbesondere dem Wohnungsmarkt sind PoCs und migrantisierte Personen deutlich benachteiligt. Auf der Mikroebene schließlich geht es um zwischenmenschliche Beziehungen. Dabei behandelt El-Mafaalani primär die subjektive Wahrnehmung Betroffener. Für diese seien Intentionen nachrangig. Meist sind sie ohnedies unbekannt, vor allem aber fokussieren sie die Perspektive der Diskriminierenden – der ‚Täter‘. Entscheidend aber sei die Wirkung auf die Opfer – Abwertung und Ausgrenzung. 

Wie sind Verbreitung, Wirkmächtigkeit und Hartnäckigkeit von Rassismus zu erklären? Für El-Mafaalani liegt die Erklärung in seiner Funktion: Rassismus begreift er als Ideologie, die Hierarchien zwischen Gruppen als ‚natürlich‘ erscheinen lässt und so Herrschaft zu legitimieren erlaubt. Diese Ideologie sieht er als das Erbe von Nationalstaatenbildung und Kolonialismus. Auch die Aufklärung spiele eine zentrale Rolle. So habe insbesondere Kant die Entwicklung der Rassenlehre seiner Zeit geprägt. 

Heute – darin ist El-Mafaalani zuzustimmen – ist die Situation anders. Offener Rassismus ist geächtet. Rassisten gelten als ewiggestrig, dumm oder unmoralisch. Allerdings – so sein Vorbehalt – werden rassistische Vorfälle häufig als bloße Ausnahmeentgleisung skandalisiert. Und wenn der Einzelfall sanktioniert wurde, ist das Thema erledigt – und damit ein weitergehender Diskurs unterdrückt. Der soziale Wandel hat auch die sozio-ökonomischen Teilhabechancen benachteiligter Gruppen erhöht. In der Folge steigen auch deren Ansprüche und Erwartungen – und zwar rascher. So entsteht eine paradoxe Situation: „mehr Teilhabe, mehr Chancen, mehr Konflikte“. In der Tat ist in Staaten, in denen die Teilhabechancen hoch sind, auch die wahrgenommene Diskriminierung hoch und umgekehrt. So ist sie in Skandinavien deutlich höher als in osteuropäischen Staaten. Nun nämlich melden sich die Privilegierten unter den Stigmatisierten zu Wort. El-Mafaalani beschreibt die Lage mit der Metapher vom Tisch im Raum: Die erste Generation Zugewanderter sitzt am Boden. Die zweite Generation nimmt Platz am Tisch (Position) und erhält einen Teil vom Kuchen (Ressourcen) – sie genießt soziale und ökonomische Teilhabe. Die dritte, die jüngste Generation beansprucht Mitsprache bei der Tischordnung und dem Kuchenrezept (Deutungshoheit, Dominanzverhältnisse). Nun kommt die gesamte Kultur auf den Prüfstand: Es geht um kulturelle und symbolische Fragen, um historische Kontinuitäten und strukturelle Mechanismen. Es werden nicht nur die Benachteiligungen der Benachteiligten thematisiert, sondern auch die Privilegien der Privilegierten. Der Begriff ‚alter weißer Mann‘ delegitimiert seine vordem dominante Stellung. Auch er ist gefangen in einer Identitätskategorie: Weißsein und Mannsein gelten nicht mehr als objektiv und neutral, sondern als andere Subjektivität, als andere Betroffenheit. Dieses Infragestellen von Macht und Dominanz emotionalisiert den Diskurs. Die ‚woken‘ Aktivist:innen provozieren Widerstand. „Die offene Gesellschaft liberalisiert sich, die radikal konservativen Kräfte radikalisieren sich, die Diskurse polarisieren sich“. Dieses ‚Diskriminierungsparadox‘ – so merkt El-Mafaalani an – ähnelt dem Toqueville Paradox. In der Tat stellte dieser fest, dass die Französische Revolution erst nach den ersten Reformen ernstlich aufflammte. Diese Beobachtung, so mag man weiterdenken, macht die Sorge konservativer, aber wohl auch liberaler Kräfte nachvollziehbar, die 4. Generation könne den Tisch umstoßen wollen, wo doch das eigentliche Ziel sein muss, dass alle gemeinsam essen können.  

Natürlich verfolgt auch El-Mafaalani dieses Ziel. Doch was ist zu tun? Die Situation ist komplex und historisch belastet. Rassismus – so seine Analyse – ist eingeschrieben in Wissensstrukturen, in Sprache, in Eigentums- und Klassenverhältnissen, in alten Herrschaftsverhältnissen. Seine Empfehlung lautet: Die Bürger müssen sich fortbilden und Wissen aneignen, aber vor allem eine Haltung entwickeln. Antirassismus – nur dagegen sein – reicht nicht. Erforderlich ist Rassismuskritik – eine soziale Praxis der Reflektion der sozialen Ordnung und ihrer Legitimität. Es handelt sich um Herrschaftskritik, die auf Emanzipation zielt. Verlangt ist, dass alle, Betroffene wie Privilegierte, Widersprüchlichkeiten aushalten und die eigene Verstrickung zur Kenntnis nehmen. So gilt es festzuhalten, dass Sprechen über Rassismus notwendig ist, aber auch zugleich zur Reproduktion rassistischer Denkmuster beiträgt. Es gilt anzuerkennen, dass die Probleme mittelfristig unlösbar sind. Es bedarf also der „Gelassenheit und Ruhe sowie begründbarer Inkonsequenz“. Es gilt, Räume zu schaffen, in denen Rassismus ohne Gewalt und böse Absicht, ohne Skandalisierung und Empörung thematisierbar ist. In diesen Räumen ist auf den Einsatz üblicher Abwehrmechanismen zu verzichten, d.h. Klagen über Diskriminierung werden nicht als reines Missverständnis oder bloßer Einzelfall abgetan. Dieses egalitär formulierte Plädoyer für eine allgemeine „Reflexivitätssteigerung und Perspektivenerweiterung“ kontrastiert deutlich mit identitätspolitischen Versuchen, die eigene Klientel durch essentialistische Appelle zu Protesten zu mobilisieren. Rassismuskritik ist nämlich „nicht an eine Identität oder ein Identitätsmerkmal gekoppelt“. Entscheidend ist es, die Folgen von Rassismus zu bedenken. Das betont der letzte Satz des Buches: „Es darf nicht in Vergessenheit geraten: Rassismus tötet“. Dann folgt eine Liste der Todesopfer rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland seit 1990. Sie enthält mehr als 200 Namen. 

El-Mafaalani hat eine stringente und überzeugende Argumentation ausgearbeitet. Gleichwohl möchte ich an zwei Stellen Diskussionsbedarf anmelden. Meine Fragen beziehen sich auf die behauptete weitgehende Irrelevanz von Intentionen und auf die Interpretation der Aufklärung als eine der Quellen von Rassismus. 

Um mit den Intentionen zu beginnen: Zwar benachteiligen struktureller und institutioneller Rassismus in der Tat Betroffene weitgehend unabhängig von den Intentionen der Diskriminierenden. Gleichwohl bleibt die Unterscheidung zwischen fahrlässiger und absichtlicher Verletzung anderer relevant – die übrigens auch Kinder schon sehr früh treffen. So ist gut belegt, dass intentionale Schädigungen größeres Leid verursachen als unbeabsichtigte. Überlebende des Holocaust sind ungleich stärker traumatisiert als Überlebende von Naturkatastrophen. Letztere erfahren Unterstützung und Solidarität, die ersteren hingegen erleben über den objektiven Verlust hinaus zusätzlich einen tiefen Einbruch von Urvertrauen in andere Menschen. El-Mafaalani sieht jedoch in der Debatte um Intentionen primär eine Täter-Opfer-Umkehr: Das Opfer muss sich rechtfertigen: „war nicht so gemeint“, „muss man gleich mit der Rassismuskeule kommen“, „das ist doch eine überempfindliche Reaktion“, „stecken da vielleicht Geltungssucht oder finanzielle Interessen dahinter?“. Damit aber schreibt er die Definitionsmacht allein den Betroffenen zu. Er lässt außer Acht, dass Interaktionen immer interpretationsbedürftig und folglich Deutungen egalitär auszuhandeln sind. Den Diskriminierenden wird die Möglichkeit entzogen, sich ggf. zu entschuldigen und Verständigung zu erzielen. Solch einseitige Machtzuweisungen zerstören Diskurse, die konstitutiv auf Gegenseitigkeit basieren. 

Zur Aufklärung: Ja, die Gleichzeitigkeit von Aufklärung, Kolonialisierung und Rassismus ist verstörend. Ein Kausalzusammenhang ist damit natürlich nicht belegt. Und ja, Kant hat indigene Völker der untersten Stufe zugeordnet und die „Race der Weißen“ als vollkommenste eingestuft. Gleichwohl vertritt er keinen Rassismus. So erklärt er – wie der Philosoph Walter Schindler nachgezeichnet hat – in seinem 1785 veröffentlichten Aufsatz Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, dass es verschiedene Arten von Menschen nicht gibt. Vielmehr gehören alle als Vernunftwesen einem gemeinsamen Stamm an – keine Rasse ist der anderen in Ansehung der Vernunftanlagen überlegen. Unterschiedlich entwickelte Kulturen sind also nicht Ausdruck rassischer Natur, sondern Ergebnis der „Erziehungs- und Bildungsgeschichte“, die sie durchlaufen haben. So heißt es auch in den Vorlesungen Über Pädagogik von 1803: „Es ist entzückend sich vorzustellen, dass die menschliche Natur immer besser wird durch Erziehung“. Kurz: Erziehung erlaubt, alle Naturanlagen des Menschen zu entwickeln. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Kritik an der Aufklärung selbst die zentrale Errungenschaft der Aufklärung in Anspruch nimmt – das Prinzip der Gleichheit aller Menschen.

Ungeachtet dieser kleinen Fragezeichen halte ich die Untersuchung insgesamt für sehr gelungen. Die widersprüchliche Problemlage wird theoretisch klar ausdifferenziert. Die Behauptungen sind zumeist auf Daten gestützt. Zwar affirmiert El-Mafaalani vielleicht etwas einseitig die Sicht Betroffener und unterläuft mehrheitsgesellschaftliche Deutungen, die er als rein defensiv anprangert. Aber für Unbeteiligte sind solche Aufklärungen erhellend. Und in jedem Fall sucht er mit seinem generalisierten Appell an Selbstreflexion eine vermittelnde Position zwischen den Fronten identitätspolitischer Forderungen auf der einen und reiner Abwehrhaltung auf der anderen Seite zu begründen. Zudem ist der Text dank der plastischen Sprache und der kreativen Metaphern außerordentlich gut lesbar. Ich möchte ihn wärmstens empfehlen. Vielleicht sollte ich allerdings – angesichts der überhitzten Diskurse – besser sagen: Ich finde das Buch cool und wünsche ihm eine große Leserschaft.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Aladin El-Mafaalani: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
192 Seiten, 12 EUR.
ISBN-13: 9783462002232

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