Die Narrative, in denen wir leben

„Erzählende Affen“ von Samira El Ouassil und Friedemann Karig ist eine weit ausgreifende Reflexion unserer narrativen Denkstrukturen

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aufgabe ist scheinbar übermächtig: um die Welt, wie sie ist, zu retten, muss ein durchschnittlicher Jedermann den Mut finden, sich finsteren Mächten in Gestalt eines Antagonisten entgegenzustellen. Dabei ist er mit seinem Leben eigentlich zufrieden und würde am liebsten in Ruhe gelassen werden, doch die Bedrohung ist konkret, klar und unmittelbar. Er hat diese Aufgabe weder gewollt noch gesucht, sie ist ihm quasi über Nacht zugefallen, doch nun gibt es kein Zurück mehr. Mit Hilfe einer kleinen Zahl Verbündeter und weisen Ratschlägen eines Mentors zieht er los, stellt sich seinem Schicksal und wächst über sich hinaus. Am Ende gelingt es ihm, nach einer Reihe von Abenteuern und Rückschlägen gegen alle Wahrscheinlichkeit seine Aufgabe zu meistern und er kehrt gewandelt und bereichert zurück. Die Zukunft liegt vor ihm. Abspann.

Was wie die Blaupause zu fast jedem Hollywoodfilm klingt, ist genau das. Aus der Analyse kulturübergreifender Mythen hat Joseph Campbell in seiner Monographie The Hero with a Thousand Faces von 1945 einzelne Elemente einer universellen Struktur der Heldenreise zusammengetragen, für die er den James Joyce entlehnten Begriff „Monomythos“ wählte. Dadurch ergibt sich eine narrative Rezeptur, wie sich mit Abwandlungen und Aktualisierungen immer wieder neu erfolgreiche Unterhaltungswerke schaffen lassen. Variationen dieses Musters findet man daher nicht nur in Mythen, Märchen und Epen, sondern auch in Romanen, Filmen und Computerspielen. Insbesondere das amerikanische Kino produziert nach dieser Vorlage verlässlich box office-Erfolge und verankert es fest im narrativen Bewusstsein seines Publikums.

In ihrem breit angelegten Sachbuch Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen orientieren sich Samira El Ouassil und Friedemann Karig an diesem Muster der Heldenreise, um Geschichte und Macht des Erzählens als wesentliche Eigenschaft des Menschen nachzuzeichnen. Dabei wählen sie die auf zwölf Stationen reduzierte Universalstruktur des Monomythos für den Kapitelaufbau ihres Buches, um damit die phylogenetische Entwicklung vom „pan narrans“ – dem Affen, der gelernt hat, Geschichten zu erzählen – zum gegenwärtigen, in unzählige Geschichten verstrickten Menschen darzustellen. Das Grundmodell der Heldenreise bietet dabei nicht nur die Möglichkeit, bestimmte virulente Denkmuster abzuleiten, sondern wird – unter anderem – als ein Erklärungsansatz herangezogen, warum die Menschheit an der Lösung der drängendsten Probleme wie der Klimakrise scheitert. Um sie gegen bessere eintauschen zu können, muss man sich aber zunächst der eigenen Erzählmuster bewusst werden. 

El Ouassil und Karig gehen von der grundlegenden Annahme aus, dass sich die „Geschichte der Menschheit […] auch als Summe unserer geteilten Geschichten“ erzählen lässt. Als historisches Wesen lebt der Mensch in einem Netz strukturierender Narrative, die ihm die Welt aufschließen und bestimmte Handlungen präferieren lassen, wobei „Narrative“ als kleinste Erzähleinheiten gesehen werden, die sich immer wieder neu in kulturellen Kontexten („Erzählungen“) sowie konkreten narrativen Ausgestaltungen, den „Geschichten“, manifestieren. An dieser Stelle setzt die wörtlich verstandene „radikale (im etymologischen Sinne ‚an die Wurzel gehende‘) narrative Kulturkritik“ an. Dies geschieht in drei Schritten. Die Autorin und der Autor wollen zunächst zeigen, dass das Erzählen für die menschliche Spezies wesentlich ist. Zweitens sollen die unterschwellig virulenten Narrative der global dominanten westlichen Kultur herausgestellt werden, bevor sie dann, drittens, danach fragen, welche Narrative in eine bessere Zukunft führen könnten.

Im anglo-amerikanischen Sachbuchstil durchschreitet das Buch unterschiedliche Themenfelder, beginnend mit den evolutionspsychologischen Grundlagen des Erzählens. Die Autorin und der Autor stützen sich hierfür insbesondere auf die Werke Jonathan Gottschalls, ziehen aber auch weitere englischsprachige Titel, insbesondere zum story-building heran. Gezeigt wird, wie der frühe Mensch um das gemeinsame Lagerfeuer gruppiert zum Erzählen findet, und dadurch, dass die Erfahrungen anderer zu eigenen Erfahrungen werden können, ein evolutionärer Vorteil entsteht, der bis heute das menschliche Gehirn polt. Das Erzählen bestimmt in kollektiver wie individueller Hinsicht Denken, Sprechen und Verhalten und prägt noch den erzählenden Affen des 21. Jahrhunderts am virtuellen Lagerfeuer. Mit den technischen Fortschritten der digitalen Medien sei es nun zu einer „Story Explosion“ (Gottschall) gekommen, da man mittels seines Mobiltelefons direkten Zugriff auf ein Übermaß unterschiedlichster narrativer Inhalte hat und sich in den sozialen Netzwerken zudem meist mehrfach selbst narrativiert. Mag sich die Lebenswelt auch enorm verändert haben, sind die kognitiven Strukturen aber weiterhin die gleichen. Es geht um Sinnstiftung, Überleben, Komplexitätsreduktion und Antagonisierung, wo heute mehr Ambiguitätstoleranz nötig wäre.

„Narrative“ bestimmen inzwischen den Alltag. Der Begriff ist im öffentlichen Diskurs zum ubiquitären Modewort geworden, analog zu einer Überfülle von divergenten Erzählungen, die das Ich mit seinen Selbsterzählungen harmonisieren soll. Der narrativ erschöpfte Mensch der Gegenwart erscheint so als ein vielfältigen Geschichten ausgesetzter „zerzählte[r] Affe“. All diesen dia- wie synchronen Facetten des Erzählens nachzugehen, ist eine fast schon herkulische Herausforderung: die thematische Breite reicht von Mythen und Hollywood-Dramaturgien über biochemische Hirnprozesse und das linguistische Grundgerüst des Erzählens, greift narrative Großformationen wie die biblische Heilsgeschichte sowie die Tiefengeschichten Deutschlands wie der USA auf und führt sie über darin konservierte Vorstellungen zu gegenwärtigen Diskursformationen der Identitätspolitik, Tierwohlgedanken und Klimapolitik. Durch die Episodenstruktur ihrer Heldenreise verschaffen sich El Ouassil und Karig dabei den Platz, bei einem festen Kapitelthema Ausschweifungen zuzulassen – was durchaus vorkommt, etwa wenn eine kleine Phänomenologie von Incels (involuntary celibates) geboten wird. Nicht alles ist gleichermaßen wichtig, was auch der Autorin und dem Autor bewusst ist, wenn sie in den Fußnoten Hinweise für individuelle Schwerpunktlektüren geben. 

In ihren Ausführungen verbinden sie ein breites Spektrum soziologischer, philosophischer, psychologischer, linguistischer wie medienwissenschaftlicher Erkenntnisse, fahren Anekdoten auf und ziehen Filme – das inzwischen klassisch gewordene narrative Leitmedium des 21. Jahrhunderts – zur Veranschaulichung heran. Das ist unterhaltsam und gut lesbar, nicht nur, weil sie sich an die erzählerischen Vorgaben für eine gute Geschichte halten, sondern weil die einzelnen Kapitel eine hohe Dichte unterschiedlicher und anschaulicher Informationen aufbieten und damit bestes Infotainment betreiben. Dabei stützen sich El Ouassil und Karig auf einschlägige Titel, Versuche und Topoi, die sie auch gerne mit einem Bildungszitat verbinden. Vieles ist bekannt und Vieles erwartbar, bis hin zu Formulierungen („Man kann nicht nicht erzählen“). Der Anspruch und die Leistung des Sachbuchs liegen jedoch in der journalistisch gebündelten, exoterischen Präsentation der unterschiedlichen Themenaspekte, die zudem aktuelle Literatur einbezieht, finden sich doch immerhin nicht weniger als neun Titel aus dem Jahre 2021 bibliographiert.

Der Held (die Leser*in) muss auf der eröffneten Heldenreise, an deren Ende eine innere Wandlung und Wendung zu einer besseren Zukunft stehen sollen, auch in die dunkle Sphäre der Antagonismen eintauchen. Hier finden sich einerseits eine Reihe tiefverwurzelter Narrative, die als „Märchen für Erwachsene“ bezeichnet werden und die Denk- und Handlungsweisen der westlichen Welt prägen. Dazu zählen die Autorin und der Autor unter anderem den Homo oeconomicus mit seinem Projekt des freien Markts als generellem Heilmittel, die meritokratische Vorstellung, dass man durch eigene Anstrengung alles erreichen könne, aber auch rassistische und antijudaistische Denkmuster. Andererseits gehören auch „waffenfähig“ gemachte politische und ökonomische Alternativerzählungen hierher, wie sie von wirtschaftlicher und politischer Seite eingesetzt werden, um Interessen durchzusetzen. Dafür wird die fehlende Fähigkeit des Menschen genutzt, klar zwischen wahren und erlogenen Geschichten zu unterscheiden. Was erzählt wird, wird zunächst geglaubt. In der „tiefsten Höhle“ schließlich hausen neo-faschistische Narrative, die an primitivste Freund-Feind-Schemata anschließen und faktenbasiertes Denken durch wunschbasierte Wahrheiten ersetzen, die ihr Begründungszentrum in Repräsentationsgruppen und -figuren besitzen.

Zuletzt kommt es – wie man es für eine gut gearbeitete Erzählung erwarten darf – zu einem Plot-Twist: Um die drängendsten Probleme der Menschheit zu lösen, reicht es nicht allein aus, sich gegen diese rückwärtsgewandten Narrative durchzusetzen, sondern der Held muss zugleich erkennen, dass auch die narrative Struktur seiner Heldenreise Teil des Problems ist. Mit Blick etwa auf die zu bewältigende Meta-Aufgabe der Klimakrise stößt das popkulturelle Masternarrativ des Monomythos an seine Grenzen, denn es gibt bei dieser neuartigen Herausforderung weder einen klaren Gegenspieler noch einen initialen Bedrohungsimpuls. Im Gegenteil steckt man bereits in einer exponentiellen Spirale, sobald die Krise in aller Deutlichkeit zu spüren ist. Erst dann jedoch wird der Held aktiv. Die Parallele zur strukturell ähnlich gelagerten Corona-Pandemie liegt auf der Hand. 

Auch wenn es darum gehen muss, in einer gemeinsamen Anstrengung zusammenzuarbeiten und die eigenen Egoismen zu überwinden, um präventiv eine nicht klar auszumachende Gefahr zu bannen, tut sich der Monomythos des erzählenden Affen schwer. Hier versagen die in den westlichen Erzählungen konservierten patriarchalen Handlungsmuster, da sie im Kern auf der Selbstwirksamkeitserfahrung eines einzelnen Helden beruhen. Vielmehr erscheinen die – aus binärer Perspektive – weiblichen Tugenden der Heldinnenreisen, bei denen Vernetzung und gemeinsames Handeln im Zentrum stehen, erfolgsversprechender zu sein. Statt an Frodo Beutlin oder Wonder Woman wäre es daher besser, sich etwa an Harry Potter zu orientieren, dessen Stärke in „Wissen, Freundschaft und Zusammenhalt“ liege. Die jeweilige Rahmung als Helden- beziehungsweise Heldinnenreise ist nicht an das biologische Geschlecht gebunden.

Um also die Katastrophe(n) abzuwenden, muss sich das Denken ändern, und um das Denken zu ändern, bedarf es einer narrativen Wandlung. Nicht nur die „Anti-Heldenreise“ ist problematisch, weil sie vorspiegelt, dass man sich nicht ändern müsse und alles so bleiben könne, wie es ist, sondern auch die Struktur der Held*innenreise hat einen blinden Fleck. Sie setzt bereits voraus, dass der Mensch – beziehungsweise die Menschheit – innerhalb der eigenen Geschichte(n) der heroische Protagonist ist und eben nicht auch Antagonist für sich und andere: „Wir erzählen unsere Geschichte falsch.“ Bessere Erzählungen hingegen sollten antagonistisches Verhalten und das damit einhergehende wissentlich falsche Bewusstsein (etwa den Fleischkonsum oder die Verweigerung erneuerbarer Energien) als schambehaftet darstellen und zugleich Vorstellungen einer besseren Welt aufrufen: „Der soziale Kipppunkt, dass alles, was nicht dieser Sorge dient, als unehrenhaft gilt, muss heute so schnell wie möglich herbeierzählt werden.“ Es wäre dann die Aufgabe der (Pop-)Kultur, dieses Moment der Selbsterkenntnis auszugestalten, zu verfestigen und mit einer positiven Utopie zu verbinden, damit die Held*innenreise der Menschheit reflektiert und gewandelt einem Happy End entgegensteuern kann. 

Seit Mai 2020 hosten Samira El Ouassil und Friedemann Karig den gemeinsamen Podcast Piratensender Powerplay, in dem sie am Ende der Woche das Nachrichtengeschehen kommentieren. Die Kerngedanken ihres Sachbuches sind in diesem Format bereits aufgetaucht und ausprobiert worden. Nicht nur deshalb darf man Erzählende Affen sicherlich als einen gegenwartsdiagnostischen Diskussionsbeitrag und als einen Denkanstoß betrachten, der eine ausgreifende Perspektivierung des diskursiven Tagesgeschehens aus dem zur anthropologischen Differenz erhobenen Merkmal des Erzählens vornimmt. Für die im Buch entfaltete Geschichte der erzählenden Affen bieten die Autorin und der Autor eine unterhaltsame Reflexion dessen, was bisher geschah, und skizzieren eine mögliche Fortsetzung. Wie es aber genau weitergeht, bleibt offen. Der Abspann ist noch nicht gelaufen.

Titelbild

Samira El Ouassil / Friedemann Karig: Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
528 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783550201677

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