Begehren und Ausbeutung

Dorothee Elmiger treibt ihre literarischen Recherchen unter dem Titel „Aus der Zuckerfabrik“ subtil und klug voran

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„All things are delicately interconnected“, heißt eine Arbeit der Künstlerin Jenny Holzer. Dieser Titel könnte auch als Motto über Dorothee Elmigers Prosabuch Aus der Zuckerfabrik stehen. Auf die Frage, wie es ihr ergehe, antwortet darin die Ich-Erzählerin einmal: Es werde ihr alles zu viel, denn „ich sehe überall Zeichen und Zusammenhänge“, die ganz unmöglich „in ihrer Gleichzeitigkeit in den Text zu bringen“ sind.

Glück und Unglück (auch im Schreiben) sind die zwei Seiten, von denen Elmiger in ihrem neuen Buch erzählt. Fortuna steht aufrecht auf einer Kugel, die bei der Ziehung der Lottozahlen mal fällt, mal nicht. Im Fall von Werner Bruni tat sie es am 29. April 1979 sechs Mal – und unverhofft wurde aus dem Hilfsarbeiter ein Lottomillionär, der erste damals in der Schweiz. Doch was er gewann, zerrann ebenso schnell wieder. Sieben Jahre später wurde Brunis Hausrat in einer öffentlichen Auktion versteigert, darunter zwei Frauenfiguren, die er von einer Reise in die Karibik mitgebracht hatte – Zeuginnen des flüchtigen Reichtums.

An diesem Punkt der Auktion, die filmisch dokumentiert ist, entzündet sich Elmigers Inspiration. Das Glück, das Begehren, die Reise in die koloniale Fremde stehen im Zentrum einer subtilen Maschinerie der Verweise, Verschiebungen und Verkettungen, die die Autorin in ihrer Prosa in Bewegung setzt.

Aus der Zuckerfabrik ist Elmigers drittes Buch, das an den Roman Schlafgänger von 2014 anschließt und dessen literarische Recherche fortschreibt. Themen wie Glück, Hunger, Begehren und Ausbeutung rücken ins Zentrum; Themen also, die sich auf unterschiedliche Weise am kolonialen Lebensmittel Zucker kristallisieren. Abermals zieht Elmiger eine Vielzahl von Quellen zurate: Bücher, Filme, Theorien, Abhandlungen und nicht zuletzt persönliche Erfahrungen. „Zucker. LOTTO, Übersee“ fasst die Erzählerin ihre Suche in diesem Meer von Fakten, Phantasmen und Faits divers zusammen. Neben dem erwähnten Werner Bruni verleiht sie Ellen West (18881921) eine besondere Rolle. Der Psychiater Ludwig Binswanger hat ihren Essstörungen vor hundert Jahren eine Fallstudie gewidmet, die Elmiger aufnimmt und gegen den psychotherapeutischen Strich liest, um das Rätsel in „der Verknüpfung des Essens mit der Sehnsucht“ zu suchen. Eine vergleichbare Unerfülltheit findet sie auch in Chantal Akermans Film J‘ai faim, j‘ai froid von 1984 wieder, worin zwei junge Mädchen im nächtlichen Paris ihren unermesslichen Appetit zu stillen versuchen. Auf delikate Weise ergibt sich so aus dem einen ein anderes, verschiebt sich der Fokus der Aufmerksamkeit fortwährend und bleibt doch immer ganz nahe am Thema. „In meinem Fall“, schreibt die Erzählerin, „heißt jeder Satz, den ich zurzeit schreibe, immer auch: J‘ai faim. / Aime-moi, alors.“

Mit dem süßen Lebensmittel Zucker rücken schließlich auch Haiti, die Ausbeutung der Zuckersklaven und der antikolonialistische Revolutionär Toussaint Louverture mit in den Blick. Letzterer habe als gedemütigter französischer Häftling all seinen Getränken stets viel Zucker beigefügt – hielt einst sein Gefängniskommandant in einer administrativen Note fest. Von der Zuckerinsel ist es bloß noch ein kurzer Satz hinüber aufs amerikanische Festland, wo die Erzählerin den Spuren von Max Frisch folgt. Sein Montauk-Buch ist für Dorothee Elmiger eine starke Referenz. Wie Frischs Erzähler windet sich auch ihre Erzählerin gleich zu Beginn real wie metaphorisch durch ein Gestrüpp, um an ihren Stoff heranzukommen.

Aus der Zuckerfabrik ist nicht zuletzt eine hintergründige Antwort auf Frischs Versuch zu einer vorbehaltlosen privaten Recherche. „Ich habe nach einer ebenso unbefangenen, souveränen, nonchalanten Haltung für das recherchierende ,Ich‘, das eine Frau ist, gesucht“, beschreibt Elmiger in einem Gespräch für die Lyrikzeitschrift Ostragehege (Nr. 97/2020) ihre Absicht, das der Rezensent mit ihr führen konnte. Und sie fragt weiter: „Kann die Frau allein durch die Stadt wandern, spät nachts, cool? Kann sie sich selbst befragen – wie Frisch – ohne dass ihre Fragen gleich als die einer/jeder Frau gelesen werden? Kann sie ihren Körper verlassen, wenn sie die Welt betrachtet, oder muss sie ihn immer mitdenken?“ Diese „Umkehrung als probeweise Aneignung einer Perspektive“, wie sie sagt, wird zum verfremdenden Stilmittel. Dabei hat sie nicht nur Frisch oder Ellen West im Blick, Elmiger interessiert sich auch für das Scheitern des Arbeiters Werner Bruni am unverhofften Reichtum.

Indem sie hier erstmals auf die Zuschreibung „Roman“ verzichtet, weitet sich der stilistische Horizont. In dem Bündel von Erzählsträngen pendelt das Buch zwischen „Wahrheit“ und Fiktion. „Warum nicht gleich alles erfinden, wo es sich doch auch bei der wahren Geschichte augenscheinlich um eine Fiktion handelt“, fragt die Erzählerin einmal. Und die Autorin ergänzt im erwähnten Gespräch, dass sie die Frage beschäftigt habe, „warum die sogenannte ,wahre Geschichte‘ und der authentische Bericht eine so große Anziehungskraft auszuüben scheinen“.

Wendungen, Brüche und Perspektivwechsel lassen leicht erahnen, dass dabei die schlüssige Ordnung außer Kraft gerät und einem intuitiven Montageverfahren Platz macht, das überraschende Bezüge herstellt und geheime Affinitäten entdeckt. Die Struktur des Buches ist manchmal so sprunghaft und flüchtig wie das Glück selbst. Es überrascht daher nicht, dass hier vor allem auch vom Scheitern die Rede ist. Wie das Glück kommt, verflüchtigt es sich wieder; oder auf seiner Erfüllung lastet die Leere und Abwesenheit des begehrten Objekts. Dergestalt ist Aus der Zuckerfabrik eine intelligente literarische Recherche, für die Dorothee Elmiger den bei Fichte entlehnten Begriff „Forschungsbericht“ passenderweise bereithält. Hin und wieder weckt das Buch auch Erinnerungen an Thomas Meineckes Essayismus, doch Elmiger bleibt in ihrer Schreibweise wie in ihrer Genderperspektive offener, poetischer und verspielter. Im Gespräch merkt sie dazu an:

In meinem Fall ist jede Ordnung immer nur temporär, sie ist ein Versuch die Dinge zu lesen, lesend Sinn herzustellen. […] Die Lektüre und die Arbeit am Text sind für mich eben auch insofern untrennbar, dass in meinen Augen Literatur nicht aus einem Vakuum heraus entsteht, losgelöst von all jenen Texten, die zuvor geschrieben wurden, sondern im Gespräch mit ihnen, als Replik, als Bearbeitung, als Anmerkung, als Fortsetzung.

Genau darin liegt die erwähnte Überforderung begründet, die die Erzählerin beschleicht. Sie veranschaulicht es mit einer wunderbaren Kindheitserinnerung. Als kleines Mädchen sah sie auf der Alp einmal eine Ziege vor sich stehen, „wie ein Phantom mitten in der Wiese“. Mit kindlicher Neugier suchte sie Kontakt mit diesem Wesen aufzunehmen, aber als dies gelang, da „traten hinter dem Tier weitere Ziegen auf die Wiese“ und drängten auf das Kind zu. Aus einer Ziege wurde eine zudringliche Herde, die es überforderte: das Kind „sieht nur noch die Zungen und die Münder, die sich öffnen, es spürt die Körper der Ziegen an seinem eigenen Körper […] und es beginnt laut zu weinen“. Die Quintessenz aus diesem Erlebnis lässt sich auf das Buch übertragen: „dieses Verlangen, mit der Ziege zu sprechen, die Ziege zu verstehen, das ist doch unter Umständen nicht ungefährlich“.

Die persönlichen Passagen fallen im neuen Buch stärker ins Gewicht als in Elmigers vorangegangenen zwei Romanen. Sie binden das Begehren an ein personales Ich, in dem sich das Kollektive im Persönlichen, das Politische im Privaten ausdrückt. Die Erzählerin bemerkt einmal, „dass ich es nie für geraten gehalten habe, meine eigene Person unmittelbar im Text vorkommen zu lassen“ – nun tut sie genau dies. Sie erzählt Träume und Erinnerungen aus der Kindheit oder, mit größter Zurückhaltung, eine Liebesgeschichte. Der narrative Schwung bleibt dabei stets gezügelt und die Spannung dennoch erhalten. Aus der Zuckerfabrik erweist sich auf wundersame Weise als ein lustvoll zu lesendes Buch.

Erst gegen Ende erhält die Geschichte des Lottokönigs Bruni etwas breiteren Raum und lässt sie die verwobene Komposition in längere Erzählpassagen münden. Was wie ein kompositorischer Verstoß anmutet, mag in Werner Brunis Geschichte begründet liegen, an dem sich das Buch kristallisiert. Wenigstens sie soll zu einem Ende finden. Es gibt dafür aber noch einen zweiten Grund, wie Elmiger andeutet. Ihrem Schreiben liegt ein Traum zugrunde: „dass ich nun endlich den großen Roman schreiben werde“.

Von einer great novel ist Aus der Zuckerfabrik – glücklicherweise – weit entfernt. Mit den Mitteln einer offenen Struktur erzählt Dorothee Elmiger von subjektiven Phantasmen ebenso wie von kollektiven Zeitfragen in einer Weise, die keine schlüssige Antwort vorgaukelt. Mit einem Wort von Reto Hänny in seiner Erich-Fried-Preis-Laudatio auf Elmiger: „Ihre Bücher sind hochpolitisch, aber sie predigen nicht, sondern eröffnen mit einem Sturm nie zuvor gesehener Bilder Räume und überschreiten Grenzen, ohne ihr Geheimnis zu verraten.“ Die Leserinnen und Leser werden von ihr mitgenommen in einen Prozess der aufschlussreichen Erfahrung, dass sich im materiellen Begehren eine oft nur schwer definierbare Sehnsucht ausdrückt, die mal erfüllt, mal unerfüllt bleibt, bleiben muss.

Dorothee Elmiger legt ein Buch vor, das intensiv und herzhaft erzählt ist, dabei aber auch analytisch scharf bleibt und die Welt in einem Licht zeigt, das sich mit fixem Wissen nicht durchdringen lässt, sondern Wachheit verlangt für die immer neuen Verzweigungen und Verschiebungen, die sie bereithält. Und nicht zuletzt ist Aus der Zuckerfabrik auch eine intelligente Reflexion über das Erzählen selbst, das bei Dorothee Elmiger unabgeschlossen, unerlöst bleibt. Der große Roman bleibt ihr als Traum erhalten.

Titelbild

Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
272 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446267503

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