Emanzipation in düsterer Zeit

Cordula Kablitz-Posts biographischer Spielfilm „Lou Andreas-Salomé“ setzt seine Protagonistin gekonnt in Szene

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

„Seit wann enthalten Biographien die ungeschönte Wahrheit“, fragt Lou Andreas-Salomé einmal, meint aber natürlich Autobiografien. Denn selbstverständlich gibt es auch denunziatorische Biografien – literarische wie cineastische. Lou Andreas-Salomé ist ein solcher biografischer Film; in ihm richtet die vielseitige Intellektuelle ihre selbstverständlich rhetorisch gemeinte Frage an Ernst Pfeiffer, ihren Alters-Vertrauten. Denunziatorisch ist die von der Regisseurin Cordula Kablitz­-Post 2016 auf die Leinwand gebrachte Lebensgeschichte der in verschiedenen Textsorten tätigen Autorin aber keineswegs, vielleicht sogar vielmehr ein wenig geschönt. Zwar stellt der Film Salomé nicht etwa als reine Lichtgestalt dar, ihre Brüche und vor allem ihre Abgründe werden jedoch nicht sehr gründlich ausgeleuchtet. Ende März 2017 erschien der im Vorjahr in die Kinos gelangte Spielfilm um ein Making-Of, Interviews mit der Regisseurin, den wichtigsten DarstellerInnen sowie mit dem Kameramann bereichert auf DVD und Blu-ray.

Erzählt wird selbstverständlich nicht die gesamte Lebensgeschichte der Schriftstellerin und Psychoanalytikerin, denn wie sollte ein Film das leisten können? Daher werden einige besonders wichtige Phasen ihrer Biografie in den Blick genommen, die wiederum um drei miteinander verknüpfte Aspekte im Leben Salomés kreisen: ihr fast schon von Kindesbeinen an selbstbestimmtes Wesen, ihre Beziehung zu Männern sowie ihr Sexualleben, wobei insbesondere die Ménage à trois mit Friedrich Nietzsche und Paul Rée, sowie ihre Liebesbeziehung mit Rainer Maria Rilke im Mittelpunkt stehen. Natürlich kann auch die – nie vollzogene – Ehe mit Friedrich Carl Andreas nicht außen vor bleiben. Nur recht beiläufig erwähnt wird hingegen die tatsächlich etwa ein Jahrzehnt andauernde Affäre der verheirateten Frau mit dem Arzt Friedrich Pineles. Ihr promiscues Liebesleben nach der ersten Trennung von Rilke verdichtet der Film sogar in einer Szene, welche die wechselnden Männer vielleicht nicht völlig zu Unrecht namenlos und beliebig erscheinen lässt.

Salomés freundschaftlichen Beziehungen zu Frauen und ihre schriftstellerische Arbeit treten gegenüber ihren Männergeschichten völlig in den Hintergrund. Einer der sicherlich engsten Freundinnen Salomés, Frieda von Bülow, selbst Schriftstellerin und außerdem Feministin sowie Ehefrau des Schopenhauerianers und grauenhaften Afrikakolonisators Carl Peters, werden etwa nur ein oder zwei kurze Auftritte gewährt. Anna Freud, der Salomé über Jahrzehnte hinweg eine mütterliche Freundin war, kommt gar nicht vor. Solche Absenzen mag man zwar bedauern, jedoch nicht beklagen. Denn sie sind durch die Schwerpunktsetzung entschuldigt, die ein Vorhaben wie das eines biografischen Spielfilms nun einmal gebietet.

Auch die literarischen Werke der Schriftstellerin wie Im Kampf um Gott oder Ruth werden eher beiläufig, ihre Beiträge zur Theorie der Psychoanalyse so gut wie gar nicht erwähnt. Immerhin werden, dem Medium gemäß, einige prägnante Sentenzen aus verschiedenen ihrer Schriften zitiert. Und Sigmund Freud erwähnt in einer späten Szene lobend, ihr Nietzsche-Buch habe Erkenntnisse der Psychoanalyse vorweggenommen. Die Inhalte philosophischer oder psychoanalytischer Schriften cineastisch umzusetzen, wäre allerdings auch schwierig und für das Publikum vermutlich ziemlich langweilig. Die der Romane wiederum würde den Film in eine Reihe von Kurzfilmen zersplittern. Diese Verkürzungen bedeuten allerdings keineswegs, dass Salomés Intellekt nicht gebührend gewürdigt wird.

Die Zitate ihren Werken wiederum müssen nicht immer theoretischen Inhalts sein. „Hast Du kein Glück mir mehr zu schenken/ wohlan noch hast du deine Pein“, lautet vielleicht das bekannteste unter denjenigen, die der Film heranzieht. Es sind die letzten Zeilen aus ihrem lyrischen Lebensgebet. In Salomés erstem, unter dem Pseudonym Henry Lou erschienenem Roman Im Kampf um Gott (1885) ist es ebenso zu finden, wie im autobiografischen Lebensrückblick. Nietzsche hat es fast wörtlich als Hymnus an das Leben (1887) vertont.

Und dass die junge Frau den älteren Herren Philosophen intellektuell ebenbürtig oder gar überlegen war, macht der Film, wiederum dem Medium entsprechend, in den klugen, gebildeten, und theoretisch beschlagenen Repliken während einiger Kontroversen etwa mit Rée und Nietzsche deutlich, bei denen sich Salomé stets als die klügere und nicht zuletzt schlagfertigere erweist.

Die erste Szene des Films zeigt die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten des Jahres 1933, der auch die Werke Sigmund Freuds zum Opfer fallen. Die bereits in ihren Siebzigern stehende und an Altersdiabetes leidende Protagonistin hört im Schreibzimmer ihres Göttinger Heims Loufried im Volksempfänger die propagandistische Begleitmusik zum Barbarenakt, während sie einen Brief an den Vater der Psychoanalyse schreibt. Das Klingeln eines fremden Mannes, der unangemeldet Einlass begehrt, unterbricht sie. Marie, die ihr den Haushalt führt, möchte dem Fremden zwar den Zutritt verwehren, da sie ihn womöglich für einen Gestapo-Mann hält. Doch Salomé fühlt sich durch seine Erscheinung an Rainer Maria Rilke erinnert und empfängt ihn. Es ist dies das erste Zusammentreffen mit Ernst Pfeiffer, der darum bittet, einer Psychoanalyse unterzogen zu werden. Zwar lehnt Salomé das Ansinnen ab, da sie nicht mehr praktiziert, doch bietet sie ihm eine Stelle als Sekretär an, denn die aufgrund ihrer Erkrankung erblindende Frau kann ihre Arbeit an ihrem Lebensrückblick kaum mehr alleine fortsetzen. Pfeiffer, in finanziellen Nöten, nimmt das Angebot an und sie diktiert ihm ihre Erinnerungen fortan in die Schreibmaschine. Die Arbeit an Salomés Autobiografie und die sich langsam entwickelnde Vertrautheit in der Beziehung zwischen den beiden bilden die Rahmenhandlung der vom Film erzählten Abschnitte der Lebensgeschichte Salomés.

Während der Arbeit am Lebensrückblick kramt die betagte Frau des Öfteren in einem erinnerungsträchtigen Fotokasten, der teils authentische Bilder ihres Lebens enthält, teils Postkartenmotive der Städte und Schauplätze, die wesentliche Stationen auf ihrem Lebensweg bildeten. Diese Postkartenmotive setzt der Film geschickt und ästhetisch sehr überzeugend ein, um zu den Rückblenden überzuleiten.

Von der frühen Kindheit an bis ins hohe Alter hinein wird Lou Andreas-Salomé als sehr unkonventioneller und direkter Mensch gezeichnet, (fast) immer souverän und ohne gravierende charakterliche Friktionen. Zum Zeichen ihrer Emanzipation drückt ihr die Requisiteurin dann und wann auch gerne eine Zigarette in die Hand. „Ich war nie bereit Kompromisse einzugehen“, lässt der Film seine Heldin einmal betonen. Zumindest auf der Leinwand ist das auch so. Und im wirklichen Leben dürften es ihrer sicher nur wenige gewesen sein.

Allerdings wird Salomé etwas zu sehr in die Nähe der damaligen Frauenbewegung gerückt. So wird schon in einer der Eingangsszenen der Eindruck erweckt, sie könne der Frauenbewegung verbunden sein. In dieser Szene liest sie aus ihrem Buch Im Kampf um Gott. Hört man nicht genau hin, könnte man glauben, es sei von Frauenrechten die Rede, wenn sie davon spricht, was eine Frau zu emanzipieren vermag. Auch lässt der Film anklingen, dass Salomé in den 1890er-Jahren einige Beiträge für die Zeitschrift Die Frau geschrieben hat, deren Untertitel  Zentralorgan der Bürgerlichen Frauenbewegung in dem cineastischen Werk  genannt wird. Bei den Texten, die von Salomé in dem Periodikum publiziert wurden, handelt es sich allerdings nur um einige Gedichte, den literarischen Text Ein Wiedersehen und um Rezension zu je einem Buch von Ricarda Huch und Ellen Key.

Die große und großartige Feministin und Zeitgenossin Salomés Hedwig Dohm rechnete sie dessen ungeachtet jedoch in ihrer gleichnamigen Essaysammlung aus dem Jahr 1902 zu den Antifeministen. Dass Salomé zumindest in ihren letzten Lebensjahrzehnten eine sehr fragwürdige, wenn nicht reaktionäre Mutterschaftshuldigung kultivierte und auch, dass die näheren Ausführungen ihrer Geschlechtertheorie heute wohl kaum mehr von einer Feministin unterschrieben werden würden, lässt der Film hingegen nicht ahnen. Immerhin aber erklärt Salomé – zwar gealtert, aber geistig frisch wie eh und je – ihrem Vertrauten Pfeiffer: „Alle Menschen sollten das jeweils andere Geschlecht in sich finden.“

Mag die Frage, ob Salomé eine Feministin oder eine Antifeministin war, damals wie heute umstritten sein: Daran, dass sie die zu ihrer Zeit herrschenden Geschlechterrollen und  -zuweisungen durchbrach, herrscht kein Zweifel. Symbolik und Ästhetik des Films unterstützen seine Protagonistin bei solchen Grenzüberschreitungen nach Kräften. So etwa, wenn das kaum schulpflichtige Mädchen Lou im russischen Sankt Petersburg verbotenerweise auf einen Baum des heimischen Gartens klettert, dort Kirschen pflücken will, herabfällt, ohne sich allerdings zu verletzen, der Vater herbeieilt und seine „Prinzessin“ ermahnt, er habe ihr schon tausend Mal gesagt, das sei zu gefährlich, während ihr Bruder oben aus dem Geäst fröhlich Kirschkerne herunterspuckt. „Mädchen sollten besser im Haus spielen“, sagt der Vater. „Wieso? Wieso?!“, will das Kind wissen. „Wir müssen aufpassen, dass deine Mutter nichts bemerkt“, antwortet er nun im geheimen Einverständnis mit ihr. Während Lous früh verstorbener Vater Verständnis für den nie des Fragens müden Wildfang hatte, wird sie für ihre Regelbrüche von der Mutter immer wieder heftig kritisiert, einmal sogar geohrfeigt.

„Werde die, die du bist!“, liest die jugendliche Lou auf einer Karte. Eine Weisung, die – selbstverständlich in männlicher Form – Nietzsches Zarathustra von dem antiken Dichter Pindar übernahm. Die im Film zitierte weibliche Version ist eine leichte Abwandlung des Titels der Novellensammlung Werde, die du bist! aus dem Jahr 1894, die – und das ist nicht unwichtig – aus der Feder der bereits erwähnten Feministin Hedwig Dohm stammt.

Der kindliche Gottesglaube Lous wiederum findet mit dem frühen Ableben des Vaters ein Ende. Lou war bei seinem Tod gerade einmal 16 Jahre alt. Dennoch wird ein Pfarrer, Hendrik Gillot, der Mentor der philosophisch interessierten Heranwachsenden. Bei der ersten Begegnung in einer Buchhandlung wundert er sich nicht etwa, dass sich ein Mädchen für Philosophie interessiert, sondern empfiehlt ihr, für den Anfang Aristoteles zu lesen. Dem frühen Förderer gilt – für einen Pfarrer erstaunlich genug – Vernunft alles, Lyrik hingegen als Zeitverschwendung. Die vertrauensvolle Bewunderung, welche die Jugendliche für den weit älteren Mann empfindet, erlischt abrupt, als ihr der verheiratete Vater zweier Kinder ihres Alters einen überfallartigen Heiratsantrag macht.

Zwar wendet sie sich von ihm, aber natürlich nicht von der Philosophie ab. Da Frauen in Deutschland, wie auch in den meisten anderen europäischen Ländern, zu ihrer Zeit das Studium noch untersagt war, geht die junge Russin nach Zürich und trägt sich dort gegen den Willen ihrer Mutter, die ihr bescheidet, Frauen seien „nicht zum Studieren geboren“, in den Fächern Philosophie und Religionswissenschaft ein, wo sie der Film als erstes Arthur Schopenhauers von der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften gekrönte Preisschrift über die Freiheit des Willens aufschlagen lässt.

Da Salomé in der Schweizer Hauptstadt erkrankt, geht sie, begleitet von ihrer Mutter, nach Rom, um sich in dem wärmeren Klima der nahe am Meer gelegenen Stadt zu erholen. Dort lernt sie im Salon der Frauenrechtlerin Malwida von Meysenbug den Philosophen Paul Rée kennen, der sie bald darauf wiederum mit Nietzsche bekannt macht. Zunächst mit dessen Werken, sodann mit ihm persönlich. In der Szene, in der Rée Salomé seinem Freund vorstellt, zeigt der Film die junge Frau sinnbildlich auf einer engen Beichtstuhlbank zwischen den beiden Herren eingeklemmt. Doch befreit sie sich sogleich, setzt sich ebenso sinnbildlich lächelnd in die andere Kabine und lässt die beiden beichten.

Selbstverständlich lässt der Film keine der bekanntesten auf die Nachwelt gelangten Begebenheiten und eventuellen Intimitäten zwischen den Dreien aus wie etwa die Bootsfahrt auf dem Lago d’Orta und den berühmten, in der Forschergemeinde allerdings auch bezweifelten Kuss zwischen ihr und Nietzsche auf dem nahegelegenen Monte Sacro. Der Film kann die Frage, ob es diesen gegeben hat, natürlich nicht in der Schwebe lassen, sondern muss sich entscheiden. Wofür, ist keine Frage. Ebenso wenig fehlt das berühmte Foto von der Frau mit der Peitsche, auf dem Rée und Nietzsche vor einen Leiterwagen gespannt sind, auf dem Salomé eine kleine Gerte schwingt, die mit einer Blume geschmückt ist. Bekanntlich hat Nietzsche das Bild gegen das Widerstreben seines Freundes arrangiert.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich beide Herren schnell in sie verlieben, und entgegen dem Rat von Meysenbugs, die fürchtet, dass eine solche „unmoralische Lebensweise der Frauenbewegung schaden“ werde, will Salomé ihre Idee nicht aufgeben, mit beiden eine kameradschaftliche Wohngemeinschaft zu gründen, um sich gemeinsam ganz der Philosophie hingeben zu können und dem „Ziel der geistigen Vervollkommnung“ näherzukommen. Zu deren Verwirklichung sollte es allerdings nicht kommen, da insbesondere Nietzsche vor dem Schritt zurückschreckte, sodass Rée und Salomé zu zweit eine Wohnung bezogen, nicht jedoch in Rom oder Zürich, sondern in Berlin.

Bereits zuvor hat sie die jeweiligen Heiratsanträge beider Herren abschlägig beschieden. Im Film ist der, wie sein Biograf Werner Ross ihn apostrophiert, „ängstliche Adler“ Nietzsche Manns genug, den seinen selbst zu stellen. Dass er im wirklichen Leben aparterweise seinen Freund Rée darum bat, diese unangenehme Aufgabe für ihn zu übernehmen, enthält der Film seinem Publikum vor.

Dafür lässt er in einer kurzen Szene deutlich werden, wie die Gefühle des verliebten Nietzsche Salomé gegenüber ins Rachsüchtige kippen. Im Film werden seine übelsten in einem Briefentwurf an Rées Bruder Georg formulierten Verbalinjurien von der gealterten Salomé ihrem Freund Pfeiffer gegenüber zitiert: sie sei „ein übelriechendes Äffchen mit falschen Brüsten“. Dass das „Äffchen“, wie es in dem Briefentwurf heißt, auch noch dürr und schmutzig sei, erspart der Film dem Publikum. Überhaupt lässt das Drehbuch Nietzsches Person ein wenig zu gut wegkommen. Seine Ausfälle gegen Salomé etwa werden in dem Film von dieser mit seiner zwar gemutmaßten, aber nicht nachgewiesenen Syphilis-Erkrankung entschuldigt. Nietzsches Schwester Elisabeth wird hingegen (von Katrin Hansmeier) so unsympathisch und intrigant dargestellt, wie sie war. Schon beim ersten Auftritt wirft sie einen missgünstigen Blick auf Salomé.

Hat Salomé auch die Heiratsanträge von Rée und Nietzsche – und selbstverständlich sehr viel früher bereits den von Pfarrer Gillot – abschlägig beschieden, so hat sie schließlich doch noch geheiratet. Dass sie den vor Jahren selbst abgewiesenen Gillot dazu verdonnerte, die Trauung durchzuführen, verschweigt der Film. Es hätte noch ein etwas anderes, nicht ganz so strahlendes Licht auf ihren Charakter werfen können.

Auch dass der Orientalist Friedrich Carl Andreas die Ehe nach vorheriger mehrmaliger Zurückweisung mit einem vor Salomés Augen durchgeführten Selbstmordversuch erzwang, wird im Film dadurch verharmlost, dass er in der entsprechenden Szene allzu wenig ernsthaft wirkt. Immerhin stieß er sich Salomés Lebensrückblick zufolge ein Klappmesser derart heftig  in die Brust, dass er verletzt und bewusstlos „auf den Boden“ glitt und von einem eilends herbeigerufenen Arzt notversorgt werden musste. Die Klinge habe Andreasʼ Herz nur darum verfehlt, weil die Wucht des Stoßes das Messer zuklappen ließ, erfährt man aus Salomés Autobiografie. Auch lässt der Film unausgesprochen, dass Salomé danach nur unter der Bedingung in die Ehe einwilligte, dass sie nicht vollzogen wird. Ahnen lässt dies allerdings ein nächtlicher Vergewaltigungsversuch von Andreas, den Salomé nur dadurch abwenden kann, dass sie ihren Ehegatten fast erwürgt. Letzteres wird in dem Film ebenfalls kaum mehr als angedeutet und wirkt, wenn von den Zuschauenden überhaupt bemerkt, vermutlich ebenfalls recht harmlos. Dass es dies mitnichten war, lässt Salomés Eintrag im Lebensrückblick ahnen: „Meine Hände umfingen mit starkem Druck [s]einen Hals und drosselten ihn“, sodass ihr Mann nur noch „ein Röcheln“ hervorstoßen konnte.

Erst einige Jahre nach der Eheschließung mit Andreas sollte Salomé ihr erstes sexuelles Erlebnis haben – nicht mit ihrem Mann, sondern mit dem wesentlich jüngeren Rilke. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit dem damals noch unbekannten Lyriker fühlt sie sich von ihm und seinen aufdringlichen Gedichten allerdings eher verfolgt. Er hingegen himmelt sie geradezu an und seine hellen Augen leuchten noch strahlender, wenn er ihr bei einem Vortrag lauschen darf, nach dessen Ende er ihr nachstürzt. Auf die Versicherung des Nacheilenden, er möchte sie „nicht stören“, antwortet sie in der für sie so typischen undiplomatischen Klarheit: „Von Stören kann nicht die Rede sein, Sie belästigen mich“. Auch ist sie es, die die Beziehung nach einer gemeinsamen glücklichen Zeit wieder beendet. Ihre Motive dafür lässt der Film allerdings nicht recht deutlich werden. Auch kommt in der Verfilmung nicht mehr vor, dass sie später als problematische Freundschaft wiederbelebt wird, in der ihr die Rolle der mütterlichen Freundin zukommt.

Da sich der Film ganz auf Salomés Beziehungen zu Männern und auf ihre emanzipatorische Entwicklung, zu der auch die ihrer Sexualität gehört, fokussiert und nicht auf ihre intellektuelle Biografie, wird die Bekanntschaft der nunmehr bereits älteren Frau mit Freud und ihre Entwicklung zur psychoanalytischen Theoretikerin und Therapeutin gegen Ende des Films kaum mehr als angedeutet.

Doch ist der Fokus des Films auf Salomés Emanzipation gut gewählt. Wichtig ist vor allem, dass sie nicht etwa als Freundin, Muse, Geliebte oder Begleiterin großer Denker porträtiert wird, sondern als die große Denkerin, die diese in einer für Frauen düsteren Zeit emanzipiert lebende Frau tatsächlich war. Wenn sich auch darüber streiten lässt, ob sie eine Feministin war oder nicht doch, wie Dohm meinte, eine Antifeministin.

Überhaupt haben die Regisseurin und ihr Team einen in jeder Hinsicht sorgfältig gemachten Film vorgelegt, der eine gründliche Recherche der Biografie Salomés erkennen lässt. Vermutlich wird Ursula Welsch, die besten Kennerin von Lou Andreas-Salomés Leben und Werk, im Abspann daher auch sehr zu Recht Dank gezollt. Sollte die Crew je Gefahr gelaufen sein, Salomés Leben gravierend zu verzeichnen, Welsch hätte sicherlich zu intervenieren gewusst.

So aber wurde Lou Andreas-Salomé in schönen, stimmungsvollen Bildern zu neuem Leben erweckt. Warme Farben und ebenso warmes Licht, das innerhalb von Räumen nicht selten von Kerzen gespendet wird, prägen die ruhigen Aufnahmen des Kameramannes Matthias Schellenberg. Nur einige der wenigen dramatischen Szenen des Films sind in einem dunklen Blau gehalten, das zwar kühl aber nicht düster wirkt. Befreiende Momente im Leben Salomés wiederum werden durch Regen symbolisiert, dessen Tropfen von ihr freudig empfangen werden. So etwa, nachdem sie sich als Heranwachsende aus den Fängen der Kirche befreit oder nachdem die Erwachsene die Lust an der Sexualität entdeckt. Die von Judith Varga komponierte Musik für Streichinstrumente und Klavier wiederum trägt dazu bei, dass die sich mit der Protagonistin identifizierenden Zuschauenden Salomés Gefühls- und Erlebenswelt mitempfinden können. Liv Lisa Fries, Katharina Lorenz und Nicole Heesters verkörpern sie in den verschiedenen Lebensaltern gleichermaßen überzeugend. Auch Alexander Scheer, der Friedrich Nietzsche seinen Körper und seine Stimme leiht, und Julius Feldmeier, in dessen Augen sich die zarte Empfindlichkeit des fragilen Rainer Marie Rilke ebenso spiegelt wie in seiner zurückhaltenden Mimik und seiner unsicheren Gestik, gebührt für ihre Darstellungen besondere Anerkennung. Die Altersunterschiede zwischen Salomé und ihren Verehrern wird im Äußeren der Figuren allerdings nicht immer deutlich. So würde man allein aufgrund des Films wohl kaum vermuten, dass Nietzsche bereits 38 Jahre alt war, als er sich in die 21-jährige Salomé verliebte.

„Die Welt, sie wird dich schlecht begaben. Glaube mir’s/ Sofern Du willst Dein Leben haben, raube dir’s“, lauten die letzten Worte des Films. Salomé spricht sie und bricht dabei mit einem letzten Tabu, einem cineastischen: Sie blickt direkt in die Kamera und damit die Zuschauenden herausfordernd an. Sie werden wissen, wem die Aufforderung gilt.

Lou Andreas-Salomè (2016)
DVD und Blu-ray, 109 Minuten
Eurovideo Medien

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