Zu sich kommen

Wer den Urlaub zur Reflexion nutzen möchte, ist mit Eribons „Rückkehr nach Reims“ als Lektüre sehr gut beraten

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Urlaub ist oft eine Zeit der Einkehr. Die Arbeit ist fern, die Aufgaben der Privatbürokratie in der Regel nicht mitgereist und auch die Dringlichkeiten des Haushalts fordern keine Aufmerksamkeit.  Die Tage sind frei und nichts verstellt den Blick auf das Hier und Jetzt sowie das Selbst. Die Besinnung auf letzteres erfordert aber häufig auch eine ehrliche und mitunter schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Doch davon sollte man sich nicht abhalten lassen. Ein Blick ins richtige Buch zeigt, wie gewinnbringend eine solche Zeit der Besinnung sein kann.

Geradezu prototypisch hat bekanntermaßen Didier Eribon vor einigen Jahren diese Einkehr – allerdings durch Rückkehr in die Umgebung der Jugend – vollzogen und gleichsam individualsoziologisch dokumentiert. Für die urlaubliche Auseinandersetzung mit sich selbst kann Eribons Rückkehr nach Reims daher Inspiration, Exempel und Anleitung gleichermaßen sein. In dem Band von 2009 (dt. 2016) schildert der in den intellektuellen Zirkeln von Paris bereits arrivierte Soziologe und Philosoph seine Rückkehr in die ländliche Heimat Nordfrankreichs. Die temporäre Heimkehr wird zur Konfrontation mit der zurückgelassenen und zumeist verschwiegenen eigenen Herkunft aus dem Arbeitermilieu.

Soziologisch fundiert und philosophisch penibel beleuchtet Eribon die eigene Vita. Dabei legt er nicht nur schonungslos den latenten Rassismus und die Homophobie seiner Eltern und ihres sozialen Umfelds offen, sondern ordnet diese auch in die gesellschaftliche Tektonik der Zeit ein. Haarklein schildert er einzelne Begebenheiten der eigenen Biographie, bettet diese jedoch stets ein in das übergeordnete Wirken sozialer Kräfte und Gesetzmäßigkeiten. Im Kleinen lässt er so das Große sichtbar werden – und skizziert die französische Gesellschaft und ihre Regeln in einer autobiographischen Individualgeschichte.

Er legt frei, wie die Sprache, die persönlichen Interessen, die Wahl der Schulfächer, die Schulabschlüsse, Hobbies und Freunde von der eigenen sozialen Herkunft geprägt sind und diese zugleich zementieren. Es wird damit erkennbar, dass der Zufall des eigenen sozialen Umfelds in Kindheit und Jugendjahren einiges Gewicht hat bei der Beantwortung der Frage, ob man eine Stimme in der Gesellschaft hat oder nicht. Eribons Jugend, sein zunehmendes Interesse für Kunst und Literatur sowie seine Auseinandersetzung mit der eigenen Homosexualität, beschreibt vor diesem Hintergrund eine Emanzipationsbewegung: aus der Kindheit ins Erwachsenenalter, vom Land in die Stadt und aus der Arbeiterschaft in das Leben eines Intellektuellen. Die Brüche und Konflikte, die damit einhergehen, beschreibt er ebenso ehrlich und soziologisch reflektiert wie die Durchbrüche und kleinen Erfolge auf dem Weg der Selbstfindung.

Nun mögen die sozialen Barrieren in Frankreich höher sein als in Deutschland, die mit der gesellschaftlichen Distinktion verknüpften Prozesse von Abgrenzung über sprachliche Codes, Interessen, Hobbies etc. pp. sind aber auch hierzulande allgegenwärtig. Auch für ein deutschsprachiges Publikum sind Eribons Beobachtungen – die er zudem jüngst um die Betrachtung des Lebens seiner Mutter ergänzte (Eine Arbeiterin,gerade in deutscher Übersetzung erschienen) – somit nicht nur aufschlussreich, sondern auch die perfekte Begleitung für einen Urlaub des Besinnens. Im besten Fall ist man auf diese Weise nach der Auszeit nicht nur wieder zu Hause, sondern auch etwas mehr bei sich. Ein Zu-sich-Kommen im mehrfachen Wortsinn also.

Titelbild

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims.
Übersetzt aus dem Französischen von Tobias Haberkorn.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
238 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518072523

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Titelbild

Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben.
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
272 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431757

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