Wörter wie Materie

In „Die Scham“, erstmals in deutscher Übersetzung erschienen, erzählt Annie Ernaux die Herkunftsgeschichte einer Empfindung

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt mit einer Katastrophe: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Jenes Ereignis vom 15. Juni 1952 bildet den Ausgangspunkt des Textes und ist zugleich der Katalysator der lebenslangen Scham der Erzählerin, die in Annie Ernauxs autosoziobiographischen Romanen stets mit der Autorin gleichgesetzt werden kann. Sie war 11 Jahre alt, als nach dem Mittagessen ein Streit zwischen ihren Eltern eskalierte und ihr Vater drohte, ihre Mutter mit einem Beil zu erschlagen. Es bleibt unklar, ob nur die Hilferufe der kleinen Tochter ihn daran hinderten, oder ob er sich selbst noch einmal rechtzeitig zurückhielt. Ernaux bleibt so stark traumatisiert zurück, dass es ihr jahrzehntelang kaum gelingt, über dieses Ereignis zu sprechen, geschweige denn zu schreiben. „Du stürzt mich ins Unglück“, sagt sie zu ihrem Vater.

Erst über 40 Jahre später schreibt sie die Szene zum ersten Mal auf und veröffentlicht im Jahr 1997 La Honte, das nun erstmals von Sonja Finck aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt wurde – so gewandt und nah an Ernauxs originaler écriture plate, dass einen höchstens der Titel kurz stutzig macht; bedeutet honte doch im Deutschen sowohl Scham als auch Schande. Aber es ist die andauernde Scham, für ihre Familie, ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu, für sich selbst als Teil von alledem, welche die Erzählerin umtreibt, „sie vereint das Mädchen von 52 mit der Frau, die dies jetzt gerade schreibt.“ Ein quälendes Gefühl als Knotenpunkt von intimer und öffentlicher Sphäre, subjektiver Empfindung und objektivierter Moral einer Gesellschaft; so wie sich auch Ernauxs Schreiben stets zwischen intimen und öffentlichen Gefilden, subjektiver und kollektiver Erinnerung bewegt – wobei das eine nie unabhängig vom anderen gedacht werden kann. Die private Erinnerung der Erzählerin wird im Schreiben öffentlich und damit ein Stück weit entsubjektiviert: „Die Szene gehört jetzt anderen.“ Dass diese Veräußerung erleichtern kann, deutet gegen Ende diese Feststellung an: „Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet.“

Ausgehend von jener brutalen Urszene seziert die Autorin wie gewohnt das Universum ihrer Kindheit, unterbrochen von poetologischen Einschüben, in denen sie die Vorbedingungen ihres Schreibens reflektiert. Als Ethnologin ihrer Selbst begibt sie sich auf die Suche nach ihrem damaligen Ich, dem sie auf diese Weise noch am ehesten nahezukommen glaubt: anhand materieller Spuren (Fotos, Zeitungen), der Topographie bestimmter Orte wie der katholischen Privatschule, die sie besuchte, oder populärer Chansons als kollektive Zeugnisse jener Zeit. Während dieser Passagen muss man sich ab und an daran erinnern, dass das Buch schon 1997 erschien, damit man sich nicht fragt, ob jene Ernaux’schen Kreisbewegungen um immer dieselben Gegebenheiten eigentlich noch auf Unentdecktes stoßen können. Doch es ist vor allem die Sprache ihrer Kindheit, durchsetzt von sozialer Kontrolle und geknüpft an zahlreiche Regeln und Konventionen jenes Milieus auf dem normannischen Dorf, die sie in wenigen Worten so eindrücklich beschreibt, dass beim Lesen ein dumpfes Erstickungsgefühl aufkommt:

Die Wörter, die mir jetzt wieder einfallen, sind undurchsichtig, unverrückbare Steine. An sie sind keine präzisen Bilder geknüpft. Keine Bedeutung, wie ein Wörterbuch sie mir liefern könnte. Es sind Wörter ohne Transzendenz, ohne Träume: wie Materie. Gebrauchswörter, untrennbar verbunden mit den Gegenständen und Menschen meiner Kindheit, Wörter, mit denen ich nicht spielen kann. Gesetzestafeln.

Ernaux kann ihre Geschichte nicht erzählen, ohne immer wieder auf die alles entscheidenden sozialen Trennlinien zu verweisen, die ihre Vergangenheit durchziehen und unterteilen. Selbst der Schulhof ist zweigeteilt in einen schattigen – für Arme und Waisenmädchen – und einen sonnigen Teil – in dem die Töchter von Landbesitzern und Handwerkern spielen. Diese Trennlinie, ich bzw. wir und die anderen, ist die eigentliche Ursache der Scham, doch das Ereignis von 1952 macht ihr deren Existenz überhaupt erst bewusst: „Wir gehörten nicht länger zu den anständigen Leuten“.

Dass ein so körperlich intimes Gefühl von gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Normen definiert wird, vermittelt Annie Ernaux in diesem Buch mehr als deutlich. Doch die Intensität der Lektüre ist den anekdotischen Passagen zu verdanken: Wenn sie vom schmutzigen Nachthemd ihrer Mutter erzählt, das von ihren Mitschülerinnen entdeckt wird, oder davon, wie sie als Mädchen Postkarten an imaginäre Frauen schreibt, deren Namen sie aus Modezeitschriften kennt, oder – und das ist der berührendste Teil des Buchs – von einer Rundreise mit ihrem Vater, dessen derbe und unbeholfene Art ihr vor den Mitreisenden unendlich peinlich ist. Diese Anekdoten der Scham brennen sich körperlich spürbar beim Lesen ein. Es ist eine Erleichterung, wenn im letzten Satz unvermittelt der Orgasmus wie ein Befreiungsschlag gegen das omnipräsente Schamgefühl auftritt, oder zumindest als Ausblick auf einen solchen: „Nur sie [die Scham] ist es, die aus dem kleinen Mädchen und mir ein und denselben Menschen macht, denn den Orgasmus, bei dem ich am stärksten meine Identität und Beständigkeit spüre, habe ich erst zwei Jahre später erlebt.“ Nicht uninteressant, dass Ernauxs folgendes Buch drei Jahre später, L’Événement, geradezu ein Manifest gegen weibliche Scham werden sollte.

Titelbild

Annie Ernaux: Die Scham.
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
110 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225172

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