Es wird nie aufhören

In seinem Essay „Theorien der Literatur“ zeigt Didier Eribon, wie minoritäre Lebensentwürfe die soziale Norm bestätigen können

Von Christian MariotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Mariotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man mag eigentlich kaum glauben, dass Marcel Proust am 6. Februar 1897 wirklich einen Menschen umbringen wollte. Als er sich in einem nahe von Paris gelegenen Wald mit dem damals für seine geistreichen Zeitungskolumnen bekannten Schriftsteller Jean Lorrain zum Duell traf, hatte er als Beleidigter die Wahl der Waffen und entschied sich für die Pistole. Manche Biografen schreiben, beide Kontrahenten hätten, wie in diesem Fall üblich, einfach in die Luft geschossen (mit Säbeln wurde tatsächlich bis zum Tode gekämpft), andere lassen die Frage offen oder behaupten sogar, Proust habe auf das Herz seines Gegners gezielt und es nur knapp verfehlt. Bei aller Ungewissheit steht allerdings eines fest: Anlass waren Andeutungen Lorrains zur sexuellen Orientierung Prousts gewesen und es entbehrt nicht einer gewissen Absurdität, „wenn der eine Homosexuelle dem anderen ,vorwarf‘, homosexuell zu sein, und das Ganze zu einem Duell führte, bei dem der ,Ruf‘ des ,Beleidigten‘ rein gewaschen werden sollte“ (Edmund White).

Während der öffentliche Proust den Richtlinien einer streng konservativen Gesellschaft folgte und seine „Männlichkeit“ auf manchmal lächerliche Art unter Beweis stellte, schaffte er sich in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auch einen geschützten Raum, in dem er in verschlüsselter Form Geschlechterverhältnisse und -Identitäten neu aushandeln konnte. Große Bedeutung wird bis heute den Überlegungen des Ich-Erzählers zu Beginn des vierten Bandes des Romanzyklus eingeräumt, „nämlich dass der männliche Homosexuelle, oder vielmehr der ,Invertierte‘, tatsächlich die Seele einer Frau, eingeschlossen in den Körper eines Mannes, besitze, und so gewissermaßen mehr Frau als Mann oder sogar ganz eine Frau sei“. In seinem kurzen Essay Theorien der Literatur. Geschlechtersystem und Geschlechtsurteile zeigt der französische Philosoph und Soziologe Didier Eribon, dass damit bei weitem nicht das letzte Wort der Proust’schen Theoretisierungsversuche zu dem Thema gesprochen ist.

Natürlich liegt es nahe, den heterosexuellen Ich-Erzähler als sozial akzeptables Sprachrohr für einen Autor zu betrachten, der seine eigene Lebensart aus Angst vor sozialer Ausgrenzung weitgehend geheim hält. Muss man sich nicht wundern, wie viele Aspekte der männlichen Homosexualität die Erzählerfigur „Marcel“ von Anfang an kennt, obwohl sie diese angeblich nur schrittweise und aus der Distanz des Unbeteiligten entdeckt ? Schon alleine das nach Eribon „operettenhafte“ Duell im Februar 1897 deutet jedoch darauf hin, dass der Text sich nicht auf ein literarisches Plädoyer für die oben zusammengefasste „Theorie des dritten Geschlechts“ reduzieren lässt, welche zu Prousts Zeit sowohl reaktionäre Psychiater als auch der schwulenfreundliche Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld verteidigten. Eigentlich hätte ja „diese Verweiblichung, die Lorrain ihm zugeschrieben hatte, in [Prousts] Augen seinem tieferen ‘wahren Wesen als Weibsmann’ entsprechen müssen“. Wenngleich sie bei oberflächlicher Lektüre einen Anspruch der Allgemeingültigkeit erkennen lässt – eine Anwendung der Theorie des Ich-Erzählers auf sich selbst lehnte Proust immer entschieden ab.

Auch im Romanzyklus bleibt diese Theorie nicht unangefochten. Besonders auffällig ist natürlich, dass manche homosexuelle Figuren wie der Kutscher Théodore Sanilon oder der junge Aristokrat und Offizier Robert de Saint-Loup ganz und gar nicht als Beweis für sie dienen können. Zu keinem Zeitpunkt sprechen aus ihren Körpern die Indizien der Weiblichkeit, die eigentlich mit der „sexuellen Inversion“ einhergehen sollten. Indessen zeigt ausgerechnet der nach gängigen Rollenklischees wenig „männliche“ Baron de Charlus wohl am deutlichsten, dass die „Theorie des dritten Geschlechts“ bei Proust „stets Gefahr [läuft], in sich zusammenzustürzen.“ Er ist es zwar, an dessen Beispiel der Ich-Erzähler die Idee veranschaulicht, dass mit dem Altern „die Zeichen der ,Krankheit‘“ immer unübersehbarer werden, „als schriebe sich die Wahrheit allmählich in Körper, Gesicht, Gesten und so weiter ein“. Gleichzeitig wird aber klar suggeriert, dass er sich gegen solche Urteile – wenn jemand sie ihm nur direkt ins Gesicht sagte – mit größter Vehemenz wehren würde.

Seine eigene, spontane Theorie der Homosexualität besteht aus zahlreichen, obsessiv vorgetragenen Bruchstücken, in denen Eribon Fragestellungen der heutigen schwulen und lesbischen Studien wiedererkennt. Im Gegensatz zum Ich-Erzähler richtet der Baron sein Augenmerk nicht auf das menschliche Individuum und seinen körperlichen Verfall. Vielmehr präsentiert er eine überraschende kollektive Entwicklung, deren Zeuge er angeblich im Laufe seines bisherigen Lebens geworden ist. Mit der Bemerkung, alles sei undurchsichtig geworden und sogar „Eingeweihte“ könnten schwule Männer der neuen Generation nicht mehr klar identifizieren, da auch sie mitunter leidenschaftliche Liebhaber der Frauen seien, untergräbt er die „Theorie des dritten Geschlechts“ und liefert nebenbei Impulse für eine mögliche Überarbeitung der Geschichte schwuler Identitäten im 20. Jahrhundert. In Umkehrung der herkömmlichen zeitlichen Einordnung spricht Charlus’ Interpretation dafür,

dass wir von einer Periode, in der eine ,minorisierende‘ Auffassung vorherrschte (die Homosexuellen stellen eine spezifische Gruppe dar), zu einer Periode übergegangen sind, wo sich eine ,universalisierende‘ Konzeption durchgesetzt hat (die Homosexualität stellt eine Gesamtheit von Praktiken dar, die sich nicht auf eine bestimmte Personenkategorie eingrenzen lassen).

So sehr sich die – glaubt man Eribons eigener, schlüssiger These – nicht aufeinanderfolgenden, sondern eher nebeneinander in unterschiedlichen sozialen Milieus bestehenden Formen der Homosexualität unterscheiden, in einem Aspekt sind sie sich jedoch gleich: Selbst wenn sie die bestehenden Verhältnisse anscheinend radikal in Frage stellen, bleiben sie in größtem Ausmaß von ihnen geprägt. Nicht einmal das widerständige Individuum kommt umhin, sich und die anderen mit den Augen der Mehrheitsgesellschaft zu betrachten. Diese „Allgegenwart der Norm und der Normativität als Horizont, der von allen fast zwangsläufig anerkannt wird“ ist einer der Berührungspunkte zwischen der Suche nach der verlorenen Zeit und den von Eribon etwas knapper behandelten Romanen aus der ersten Schaffensphase Jean Genets. Anders als Marcel Proust empfindet der ehemalige Prostituierte und Gefängnisinsasse keine Scheu, seine persönliche Affinität mit dem erzählerischen Gegenstand „Homosexualität“ einzugestehen. Wie Eribon unterstreicht, stattet er zum Beispiel den Ich-Erzähler des Wunders der Rose mit seinem eigenen Namen aus.

Die sexuellen Handlungen, die in Prousts Werk abstrakt und mysteriös bleiben, werden durch ihre Derbheit und Konkretheit bei Genet zum Teil einer „regelrechten Kosmologie, in der die Welt nach dem allgemeinen Gesetz des männlichen Geschlechts organisiert ist“. Bis auf das erste und das letzte Glied einer ausschließlich aus Männern gebildeten „Kette des Seins“ können alle Figuren den aktiven wie auch den passiven Part einnehmen. Ihren Platz in dieser hierarchischen Struktur bestimmt in erster Linie das Alter: jeder ist „zuerst ‚Frau‘ eines Älteren“, „bevor er zum ‚Mann‘ eines Jüngeren wird“, und er kann auch beide Identitätspole zum gleichen Zeitpunkt mit jeweils zwei verschiedenen Partnern besetzen. Das System ermöglicht also eine gewisse Mobilität, die gleichwohl festen Mustern folgt und die Aufwertung des Männlichen bei gleichzeitiger Abwertung des Weiblichen zementiert.

Überzeugend weist Eribon darauf hin, dass die vielgestaltige Hinterfragung und Neuinszenierung tradierter Geschlechterrollen, die in der Genet’schen Rhetorik der schwulen „Hochzeiten“ und „Trauungen“ ihren Höhepunkt findet, auch den Grundvorstellungen der Psychoanalyse zuwiderläuft. Sie führt zum Beispiel die Thesen Sigmund Freuds über das homosexuelle Verlangen ad absurdum. Trotzdem wird es manche deutsche Leser überraschen, wie scharf Eribon über das gesamte Buch die „unveränderlichen Antworten“ auf Fragen des Geschlechts und der Sexualität kritisiert, „welche die Verfechter der psychoanalytischen Ideologie bis zum Überdruss wiederholen“. Gewiss gibt es auch heute noch im deutschsprachigen Raum zahlreiche Psychoanalytiker, die in Fachzeitschriften wie Psyche einen lebhaften Dialog miteinander führen. Aus dem öffentlichen Bewusstsein aber sind sie weitgehend verschwunden. Lange zurück liegt die Zeit, in der die Ansichten von Alexander und Margarete Mitscherlich über die „Unfähigkeit zu trauern“ die gesamte Nation beschäftigten. Die Psychoanalyse wird als ein Phänomen der Vergangenheit betrachtet und kein radikales Denken muss sich mehr von ihr distanzieren. In Frankreich hingegen behauptet sie bis heute ihre Deutungshoheit, und ihre Vertreter gelten in Fernsehsendungen, Tageszeitungen und parlamentarischen Arbeitsgruppen als stets willkommene Experten. Am Anfang des 21. Jahrhunderts erklärten viele von ihnen, die damals debattierte Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe stelle einen unerhörten Angriff auf eine „symbolische Ordnung“ der Gesellschaft dar. Eine etwas ausführlichere editorische Notiz der deutschen Ausgabe hätte wohl geholfen, diesen Bezugsrahmen des Essays aufzuklären.

Jenseits der Frage nach der kulturellen Übersetzbarkeit ist ohnehin klar, dass die Theorien der Literatur uns vieles bieten, aber auch einiges abverlangen. In einem kurzen Abschnitt erläutert der Autor, wie sich um manche Bücher „eine Gemeinschaft privilegierter Leser konstituiert.” Was diese „Öffentlichkeit“ oder vielmehr „Gegenöffentlichkeit“ zusammenschweißt, ist die Intensität des kollektiven Wiedererkennens eigener, minoritärer Lebenslagen und das Gefühl, durch das geschriebene Wort eine existentiell notwendige Hilfe erteilt zu bekommen. Die subtilen Betrachtungen zu Prousts und Genets Sexualpolitik werden erwartungsgemäß weniger Menschen berühren als die Schilderung eines schmerzhaften sozialen Aufstiegs in Eribons Rückkehr nach Reims. Des Weiteren erschafft der Essay nicht so sehr seine eigene Öffentlichkeit, als dass er durch eine bereits bestehende Öffentlichkeit erschaffen wird. Er geht nämlich auf einen Vortrag zurück, den der Autor im Mai 2012 während eines Symposiums an der Pariser Sorbonne zum Thema „Fiktion(en) des Männlichen“ gehalten hat. Der zunächst in einer Universitätsaula vorgetragene Text lädt auch in seiner endgültigen Fassung zu einer sozialen Form des Lesens ein. Einen Horrorfilm sieht man sich am Besten im Vorstadtkino mit einer Packung Süßigkeiten und inmitten einer Gruppe kreischender junger Männer an. Zu den Theorien der Literatur, die diesmal ohne mitreißende autobiografische Details auskommen, findet man den besten Zugang, wenn man sie mit anderen Menschen teilt und diskutiert.

Letztendlich ist Eribon aber viel zu reflektiert, um nicht zu wissen, dass jeder noch so kreative Austausch im Endeffekt die soziale Norm bestätigen kann: „Sie schleicht sich überall ein. Sie wiederholt sich in dem, was sie herausfordert und zurückweist, ebenso wie in dem, was sie respektiert und ihr entspricht“. Dies ist die „Macht des Systems“: Es wird nie aufhören, sich die eigenen Ränder einzuverleiben und stärker als je zuvor die Menschen mit seinen vernichtenden Urteilen zu überhäufen. In dem schmalen Band mit Glossen, Gedichten und Kurzgeschichten, den er 1896 veröffentlichte und den Jean Lorrain so bitterböse rezensierte, steht auch Prousts berühmtes Zitat „Was gestern paradox war, ist heute ein Vorurteil“ und der Hinweis auf die „zerbrechliche Grazie“ von neuen, unverbrauchten Ideen. Für einen kurzen Augenblick ist es Didier Eribon gelungen, diese Grazie in seinem schönen, klugen Essay festzuhalten.

Titelbild

Didier Eribon: Theorien der Literatur. Geschlechtersystem und Geschlechtsurteile.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Leitner.
Passagen Verlag, Wien 2019.
88 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783709203507

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