Narrative Imagination

Bernardine Evaristos Umgang mit identitätspolitischen Strategien

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Linke identitätspolitische Strategien sind heftig umstritten. Befürworter und Gegner beziehen klar Stellung. Sie stützen und verteidigen die eigene Position mit sachlichen Argumenten und empirischen Daten. Sie setzen aber auch – vor allem im politischen System – emotionsgeladene Appelle, provokative und schmähende Äußerungen ein, um die gegnerische Seite abzuwerten. So etwa reagierten Saskia Esken und Kevin Kühnert „beschämt“ über die „mangelnde Sensibilität“ von Wolfgang Thierses Erklärung, er halte es „für wichtiger als Sprachänderung, dass wir am Gender-Pay-Gap arbeiten“. Auch sähe er sich mit seiner Kritik am Gendersternchen „als Symbol“ für „viele normale Menschen“. Für Luigi Pantisano, Berliner Landeschef von SPDqueer, sind derartige Überlegungen „neurechter Sprech“ (Facebookseite). Klaus Walter (TAZ) sieht darin das „Beschwören einer fiktiven Normalität und pauschalisierende Denunziation“. Das inspirierte ihn zur Erfindung eines neuen N-Worts: ‚Normalo‘.

Der Komplexität der Debatte werden solch eineindeutige Stellungnahmen kaum gerecht. Zweifellos sind die verfolgten Ziele – Abbau von Diskriminierung, Durchsetzung der Gleichachtung aller Mitglieder der Gesellschaft unabhängig von ethnischer Herkunft, religiöser Überzeugung, sexueller Identität oder Orientierung – aus Sicht einer universalistisch prinzipienorientierten Moral legitim und rechtfertigbar. Problematisch sind allerdings die – zum Teil auch strategisch im Interesse einer Mobilisierung von Unterstützung eingesetzten – autoritären Mittel sowie innere Widersprüchlichkeiten der Zielverfolgung.

In diesem zunehmend aggressiver ausgetragenen Kulturkampf beobachtet die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier (im Deutschlandfunk) bei den Kritikern der linken Identitätspolitik einen „alarmistischen Ton“: Diese machten „sich selber zum Opfer […] einer Identitätspolitik anderer“. Es käme aber darauf an, sich zu der eigenen Verunsicherung zu verhalten: „Wenn man als weiße Person oder als männliche Person“ angesprochen wird, sollte man erkennen, „dass eine weiße Person bestimmte Probleme nicht hat, mit denen sich die schwarze alltäglich konfrontiert sieht“. Vielleicht – so die naheliegende Implikation – gilt es in der jetzigen Situation, messerscharfe Argumentationen durch narrative Imagination zumindest zu ergänzen. Dabei geht es, der Philosophin Martha Nussbaum zufolge, um die Fähigkeit, die eigene Perspektive zu transzendieren, das Leben anderer zu verstehen und mit ihren Erfahrungen und ihrem Leid mitzuempfinden.

Ein besonders geeigneter Weg ist die Identifikation mit erzählten Figuren. Bernardine Evaristos Roman Mädchen, Frau etc. (2021; 2019 im Original auf Englisch Girl, Women, Other) bietet grandioses, vielfältig buntes Anschauungsmaterial. Dieses erlaubt – und zwar auf unterhaltsame Weise – einen theoretischen Nachvollzug der akademischen Diskurse und politischen Kämpfe um linke Identitätspolitik. Zugleich eröffnet es praktische Einsichten, die das Einfühlungsvermögen zu fördern vermögen. Die Figuren demonstrieren, wie sich mit den in pluralistischen Gesellschaften unvermeidlichen Widersprüchen und Ambivalenzen souverän, kreativ, auch spielerisch umgehen lässt. Vor allem aber zeigen sie Wahrnehmungen und Reaktionsweisen Betroffener: Dargestellt werden überwiegend nicht-weiße, nicht heterosexuelle, nicht native Personen, die Ausgrenzung, Ablehnung, Kritik erfahren haben oder doch ständig gewärtigen müssen.

Im Folgenden diskutiere ich am Beispiel einiger identitätspolitischer Strategien die Legitimität der verfolgten Intentionen und die Plausibilität, aber auch die Problematik der gewählten Mittel. Dabei skizziere ich jeweils kurz, wie sich etliche der Darstellungen von Evaristo als Formen des Umgangs mit identitätspolitischen Themen lesen lassen.

Evaristo und Identitätspolitik

Sprachpolitik. Um diskriminierungsfreie Sprache durchzusetzen, wird gefordert, Frauen und diverse Personen in der mündlichen Rede durch einen Knacklaut und in der Schriftsprache durch den Genderstern explizit zu inkludieren und bestimmte Worte – etwa das N-Wort – zu vermeiden.

Nun ist Wertung unstrittig eine zentrale Dimension der Sprachbedeutung. Sprachspiele – so der Philosoph Ludwig Wittgenstein – spiegeln die Lebensformen wider. Beispielsweise – so der Philosoph Hilary Putnam – ist Verurteilung konstitutiv für die Bedeutung von Worten, die Vergehen bezeichnen. ‚Mord‘ beispielsweise bezeichnet eine verwerfliche Tat; wären irgendwelche Entschuldigungen oder Rechtfertigungen denkbar, wählten wir andere Worte, etwa fahrlässige Tötung oder Attentat. Dass durch die Sprache Normen vermittelt werden, zeigen auch kindliche Regelbegründungen. So etwa fand ich in einer Längsschnittstudie zur Moralentwicklung (2008), dass schon Vorschulkinder die Frage, warum man die Süßigkeiten eines anderen Kindes nicht nehmen dürfe, mit sprachbezogenen Erklärungen beantworten: „Das ist Diebstahl!“, „Der ist ein Dieb!“. Auch führt moralischer Wandel zu Veränderungen im Sprachgebrauch: Bestimmte Begriffe verschwinden (z.B. ‚vorehelicher Geschlechtsverkehr‘), werden ersetzt (z. B. ‚alte Jungfer‘ durch ‚Single‘) oder umgedeutet (z. B. ‚geil‘ ist nicht länger ein Tabuwort, sondern ein Begeisterungsausruf). An diesen Beispielen zeigt sich die im Gefolge der 68er Debatten durchgesetzte Verschiebung des Sexualverhaltens aus dem moralischen in den persönlichen Bereich. Auch belegen Experimente aus der Vorurteilsforschung, dass Abwertungen von Gruppen schon früh – quasi mit der Muttermilch, sprich: mit der Muttersprache – erworben werden. Beispielsweise baten Shai Danziger und Robert Ward (2010) arabisch und hebräisch sprechende Palästinenser für eine Liste positiver und negativer Attribute spontan möglichst rasch anzugeben, ob diese für die Kategorie ‚Jude‘ zuträfen oder nicht. Es zeigte sich: Wurden die Probanden auf Arabisch befragt, so wiesen sie bei positiven Merkmalen deutlich verlängerte Reaktionszeiten auf und umgekehrt.

Befunde dieser Art belegen die Bedeutung von Sprache für die Wertevermittlung. Gleichwohl gibt es aus mehreren Gründen Zweifel am Sinn der verfolgten Sprachpolitik. Sprachveränderungen dürften eher Folge als Motor des Moralwandels sein. Zudem inkludiert das generische Maskulinum Frauen unauffällig, während die geschlechtergerechte Sprechweise die Relevanz von Geschlechtszugehörigkeit besonders betont. Die Journalistin Carolin Fetscher hat diese Widersprüchlichkeit unlängst (im Tagesspiegel) pointiert beschrieben: „Einerseits sollen Frauen in Bürger*innen auftauchen […] Andrerseits soll die binäre Geschlechterordnung – männlich, weiblich – verschwinden. Einerseits soll also Identität betont werden, andererseits universalistische Gleichheit“. Manche Kritiker sehen die orthographische und grammatische Richtigkeit sowie die Verständlichkeit von Texten gefährdet. Entscheidender ist vielleicht die Reaktion der Bevölkerung: Fast zwei Drittel lehnen die gendergerechte Sprache ab – wohl um sich gegen eine Bevormundung durch selbstgewisse, der Elite zugerechnete Akteure zu wehren, die eine Art ‚Moraldeutsch’ zu oktroyieren suchen. Vor allem aber – so die Befürchtung etwa von Sarah Wagenknecht oder Wolfgang Thierse – lenkten die Sprachkämpfe von Problemen der sozialen Ungleichheit ab: ‚Linke Symbolpolitik“ verbessere die realen Verhältnisse nicht. Kurz: Selbst wer das Ziel eines Abbaus von Diskriminierung teilt, mag die Einführung einer Art Sprachpolizei zurückweisen – weil er die Strategie als ineffektiv einschätzt und/oder für zu autoritär hält.

Während die auf Gendergerechtigkeit abzielende Sprachpolitik definierte Identitäten insinuiert, gar aufzwingt, spielt Evaristo mit Geschlechterstereotypen. So etwa lebt Amma – nach anfänglicher Verliebtheit in Jungen und einer bisexuellen Übergangsphase – nicht nur lesbisch, sondern verhält sich wie der Prototyp eines Machos: Sie will ‚one night stands‘ – auch wenn die meisten mehr wollen. Und da monogame Beziehungen nicht ihr Ding sind, sucht sie abgelegten Geliebten aus dem Weg zu gehen. Auch die fast 60-jährige Lakshami wählt immer nur 25-35-jährige – männliche oder weibliche – Liebhaber. Sie beendet die Beziehung, wenn die PartnerInnen das obere Ende der Altersspanne erreichen. Das rechtfertigt sie allerdings stets mit irgendwelchen anderen Gründen. Und Sylvester, ein guter Freund von Amma, schwul, von sozialistisch-revolutionärer Gesinnung und stolz auf seinen „ethnisch diversen Freundeskreis und Stammbaum“, trug schon in den 1980ern Kleider und wallendes Haar: Er wollte gesellschaftliche Erwartungen brüskieren und zwar lange bevor dies Mode wurde: „Ich war der erste!“ Auch den klassischen Feminismus relativiert Evaristo – wiederum nicht kämpferisch, sondern eher spielerisch, beiläufig, fast wohlwollend. So etwa sind für Yazz, Ammas mit der Samenspende eines homosexuellen Freundes gezeugte 19-jährige Tochter, etliche der Anschauungen ihrer Mutter schlicht ‚vorsintflutlich‘. Das betrifft besonders ihren ‚herdenartigen Feminismus‘ – ihr Engagement für die Gleichstellung biologisch unterschiedener weiblicher und männlicher Personen. Yazz hat erkannt: Überhaupt Frau zu sein ist vorgestrig. Ein non-binärer Aktivist an der Uni hatte ihr die Augen geöffnet: „Eines Tages werden wir alle non-binär sein, weder Mann noch Frau. Deine feministische Politik, Mammi, ist überholt“.

Denkmalsturz. Denkmalstürze haben eine gewisse Tradition: So etwa wurde in Tirana Albaniens Diktator Enver Hoxha 1991, Lenin in Berlin 1991, in Kiew 2013 gestürzt und die Amerikaner rissen 2003 die Saddam-Hussein-Statue in Bagdad ab. In jüngster Zeit haben auch Aktivisten in ihrem Kampf gegen Unterdrückung, Kolonialisierung und Versklavung auf dieses Mittel zurückgegriffen. So haben Demonstrierende in Bristol die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston (1636-1721) umgekippt, zum Hafenbecken gerollt und versenkt. Auf diese Weise suchen sie eine Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der britischen Kolonial- und Sklavengeschichte zu erzwingen. Mit der gleichen Absicht wurden in den USA Columbus-Statuen umgestürzt und auch die Statue von Präsident Andrew Jackson attackiert. Natürlich könnte man Kritik an Ehrenmälern auch anders vorbringen – etwa indem man aufklärende Tafeln anbringt. Bei Colston etwa wäre zu vermerken, dass er mit Sklavenhandel viel Geld gemacht, einen Großteil davon aber auch für Schulen, Kirchen. Kranken- und Armenhäuser seiner Heimatstadt gespendet hat. Eine solche Kontextualisierung macht auf historischen Wandel aufmerksam – hier auf die Neubewertung des vordem als ‚normal‘ akzeptierten Sklavenhandels. Eigentlich sollten Aktivisten interessiert daran sein, dass sich die Einsicht in die Wandelbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse verbreitet. Schließlich zielen ja sie ihrerseits explizit auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen ab. Dass sie gleichwohl provokative Akte der Zerstörung vorziehen, mag mehrere Gründe haben: Die Wucht der Bilder und die Gesetzeswidrigkeit der Handlung sollen öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Bei der ‚symbolischen Tötung‘ mag auch Rache mitspielen. Und der Verzicht auf Aushandlungsprozesse (wie sie etwa anlässlich der Wittenberger ‚Judensau‘ in Form von Petitionen, Demonstrationen, Staatratsbeschlüssen, Gerichtsurteilen vollzogen wurden) entspricht der eigenen Selbstgewissheit.

Evaristo beschreibt eine andere Reaktion auf das Wissen um Sklaverei. Bei der Stadtführung durch London wird die schwarze Nzinga in einen dunklen, engen und feuchten Bunker geführt. Hier warteten gefangene Afrikaner auf ihren Abtransport als Sklaven nach Amerika. Die schmerzliche Geschichte vierhundertjähriger Sklaverei überfällt sie so stark, dass sie schluchzend zusammenbricht. „Besser denn je“ begreift sie, „dass der weiße Mann für vieles gerade stehen muss“. Ihre schwarze Gesprächspartnerin unterdrückt den Hinweis, dass auch der schwarze Mann Sklaven verkauft hatte, dass die Geschichte deutlich komplexer ist. Aber nicht rechthaberische Belehrung, nicht rachsüchtiger Vergeltungswille setzen sich durch. Die Zuhörerin lässt zu und hält es aus, dass die andere ihren Schmerz und ihr Leid offen zum Ausdruck bringt. Und der Betroffenen hilft es, dass ihre Not gesehen und anerkannt wird.

Mikroaggression. Legale Barrieren wurden beseitigt: Frauen und Schwarzen wurde das Wahlrecht zugestanden. Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz verbietet Benachteiligungen aus Gründen der ‚Rasse‘, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Damit sind strukturell verfestigte Ungleichheiten – etwa Benachteiligungen bei der Arbeitsplatz- oder Wohnungssuche, bei Polizeikontrollen, in Alltagsinteraktionen – noch nicht aufgehoben. Aber es wurden erweiterte Hoffnungen geweckt. In ihrer klassischen Studie The American Soldier (1949) berichten Samuel A. Stouffer u.a. von steigender Unzufriedenheit gerade bei Angehörigen der Truppenteile, die erhöhte Aufstiegsmöglichkeiten boten. Sie sprechen von der ‚revolution of rising aspirations‘. Weit früher schon notierte Alexis de Toqueville, dass die Französische Revolution erst nach der Durchsetzung erster Reformen entscheidend aufflammte: Alles, „was man alsdann an Missbräuchen beseitigte, scheint das noch Übrige nur umso deutlicher zu zeigen und lässt es schmerzlicher empfinden: Das Übel ist geringer geworden, aber die Empfindlichkeit ist lebhafter“. Diese gesteigerte Sensibilität treibt zumal moralisch hochmotivierte Personen an, auch verdeckte Formen von Abwertung aufzuspüren und anzuprangern. So wurde das Konzept der Mikroaggression entwickelt, das kleine alltäglich absichtlich oder versehentlich zugefügte Abwertungen bezeichnet.

Nun ist es zweifellos sinnvoll, ‚Normalbürgern‘ bewusst zu machen, wie es sich anfühlt, permanent Signale der Nichtzugehörigkeit zu erfahren. So etwa erklärt Aminata Touré, in Mali geborene grüne Vizepräsidentin des Landtags Schleswig Holstein, jüngst in einem Interview, sie sei von der Frage ‚Wo kommen Sie her?‘ schlicht genervt: „Sie impliziert, dass jemand nicht aus Deutschland kommt, nur weil er nicht weiß ist.“ Den Einwand, der Fragende habe vielleicht nur ehrliches Interesse bekunden wollen, tut sie ab: „Genau das ist das Problem. Dass es in dieser Debatte immer nur um die Person geht, die fragt: Immer stehen ihre Absichten und Gefühle im Fokus. Ich glaube aber, wir sollten als Menschen in der Lage sein, uns mal in die anderen hineinzuversetzen, die diese Frage immer wieder in den unmöglichsten Situationen gestellt bekommen.“ Damit benennt Touré das zugrundeliegende Problem – das alltagsweltliche Interaktionserfordernis, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Sie formuliert es allerdings einseitig aus ihrer Perspektive: Die fragende Person habe versäumt, möglicherweise kränkende Implikationen ihrer Erkundigung zu bedenken. Dass jedoch die meisten Schwarzen, denen Fragende in Deutschland begegnen, faktisch in fremden Ländern geboren sind – die Frage also aus rein statistischer Sicht nicht ganz unberechtigt ist – kommt nicht in den Blick. Genau hier liegt das Problem: Der Begriff ‚Mikroaggression‘ gesteht dem Adressaten die letztgültige Definitionsmacht zu. Aggression ist, was er als Aggression empfindet – die Intention des Absenders spielt keine Rolle. Intentionen aber sind ein entscheidendes Kriterium für Handlungsbewertungen. Sie zu ignorieren widerspricht nicht nur moralphilosophischen Traditionen, sondern auch alltagsweltlichen Selbstverständlichkeiten. Soziale Interaktionen sind auf beiderseitige Interpretationsleistungen angewiesen. Dabei kann es zu Missverständnissen kommen und zwar umso eher, je weniger vertraut die Beteiligten einander sind. Daher – so der Philosoph Ernst Tugendhat – bedarf es der Fähigkeit des affektiven Mitschwingens mit anderen, der „Versöhnlichkeit“, der „Bereitschaft zur Zurücknahme eingenommener Positionen und Überwindung der Selbstgerechtigkeit“.

Diese komplexe Gemengelage buchstabiert Evaristo bei der Beschreibung des Freundeskreises von Jazz aus. Die in Somali geborene Waris trägt stets ein Kopftuch. Courtney, ein weißes Mädchen vom Lande, kommt neu in die Gruppe. Sie begeht den Fehler, Waris zu fragen, warum sie ein Kopftuch trage. Jazz erwartet einen empörten Aufschrei. Waris aber antwortet mit überraschend sanfter Stimme: „Erstens – es ist kulturell. Zweitens – es ist politisch und drittens“ und nun sagt sie nicht – wie von Jazz erwartet: „das geht dich verdammt nochmal gar nichts an“ –, sondern fährt fort „Meine Mutter hat mir gesagt, dass ich mich niemandem erklären muss.“ Courtney entschuldigt sich, aber eher gereizt als reumütig: „Ich hab nur gefragt, weil ich es nicht wusste.“ „Ok, jetzt weißt du’s.“ Jazz ist angetan von beider Umgang mit einer prekären Situation: Offen die eigene Meinung sagen, sich zur Wehr setzen, Missverständnisse aushandeln, nicht weinerlich sich zurückziehen – das empfindet sie als angemessen.

Authentizität soll gewährleistet werden, indem man beim Casting Schauspieler wählt, deren Identität im Blick auf Gender, Gender-Identität, Nationalität, Ethnie, sexuelle Orientierung und Behinderung mit der Identität der darzustellenden Figur übereinstimmt – so die kürzlich verabschiedete Inclusive Policy von Amazon Studios. Diese Forderung lässt nicht nur offen, wie Tote oder der Satan dargestellt werden können. Sie negiert den Kern professioneller Schauspielkunst, die Fähigkeit, durch Sprache, Mimik, Gestik eine Figur so zu präsentieren, dass sie dem Publikum sinnlich nachvollziehbar wird. Vor allem aber unterstellt sie eine Eindeutigkeit der Identitätsdefinition, die in modernen, pluralistisch individualisierten Gesellschaften schlicht nicht mehr gegeben ist.

Evaristo etwa lässt Yazz ihrer neuen Freundin Courtney erklären: „Wer wir sind ist in Teilen eine Antwort darauf, wie andere uns sehen“ und zählt dann für Waris gleich fünf Kategorien möglicher Fremdzuschreibungen auf: „Schwarze, Muslimin, Frau, Arme, Kopftuchträgerin“. Es sind dies auch Kategorien, die Unterprivilegierung anzeigen. Darum geht es bei dem Konzept der

Standpoint epistemology. Dieses betont zu Recht das Erfordernis, auch die Erfahrungen Unterdrückter einzubeziehen. Höchst problematisch ist allerdings die weitergehende These, allein diese verfügten über die Sicht von oben wie von unten. Privilegierte hingegen blieben auf die Perspektive der Höhergestellten beschränkt.

Evaristo problematisiert solch scheinbar klare Zuschreibungen. In Zukunft, so klärt Yazz Courtney auf, werde sie nicht mehr einfach als weiße Frau gesehen, sondern als Frau, die mit Schwarzen Umgang hat. Als solche büße sie einen Teil ihrer Privilegien ein. Courtney kontert: Als Tochter eines Professors und berühmten Theaterintendanten sei Yazz doch kaum unterprivilegiert, während sie selbst aus einem kleinen Bauernhof stamme, der zudem ganz im Besitz der Bank sei. Und sie fragt weiter: Ist denn Obama weniger privilegiert als ein weißer Hinterwäldler, der als Kind eines Knastbruders bei einer drogensüchtigen, alleinerziehenden Mutter in einem Wohnwagen aufgewachsen ist? Oder: Ist ein Schwerbehinderter privilegierter als ein syrischer Asylbewerber, der Sozialhilfe erhält? Letztlich, so Courtneys Résumé, mache eine ‚Privilegien- Olympiade‘ wenig Sinn. Privilegien sind immer relativ und kontextabhängig.

Schlussbemerkung

Nicht nur die rechte, auch die linke Identitätspolitik macht sich die Sehnsucht der Menschen nach Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit zunehmend unübersichtlicher Verhältnisse zunutze. Auch sie bietet eindeutige Antworten und klare Anweisungen. Dabei nimmt sie  Widersprüche in Kauf: Ihr Ziel ist die Gleichachtung aller. Doch im Kampf um die Abschaffung von Unterschieden aufgrund sozialer Kategorisierungen (z.B. männlich, weiblich, divers; schwarz, weiß etc.) werden genau diese Unterschiede ständig betont, bekräftigt, verstärkt. Dies legt die Annahme inhaltlicher Wesensunterschiede zwischen den so klassifizierten Gruppen nahe und besiegelt oder erzwingt gar gruppenbezogene Identitätsdefinitionen. Vor allem aber scheut diese Politik nicht vor der Nutzung autoritärer Mittel zurück. Im Kampf für ihre universalistischen Ziele sucht sie die eigenen Deutungen kompromisslos durchzusetzen. Es geht ihr nicht um Verständigung mit Andersdenkenden, nicht um Ausgleich zwischen differierenden Einschätzungen und Wertbindungen. Es geht ihr um die Überwindung abweichender – und als verfehlt gedeuteter – Sichtweisen. So wird Sprachpolitik oktroyiert und Definitionsmacht beansprucht, störende Denkmäler werden gestürzt und Identitäten von außen zugeschrieben. In dem Maße, wie diese Politik auf aggressive Ablehnung stößt, polarisiert sich die Gesellschaft. Denn – so auch die Warnung der französischen Schriftstellerin Caroline Fourest in ihrem neuen Buch Generation beleidigt: „Die autoritären Forderungen identitärer Linker spielen […] identitären Rechten in die Hände.“ In der Folge werden offene Diskurse untergraben. Aushandlungs- und Kompromissbereitschaft – unabdingbare Voraussetzung eines liberalen Pluralismus – werden ausgehöhlt. Letztlich wird so die Stabilität demokratischer Gesellschaften gefährdet. Literarische Darstellungen können Einsichten in die faktische Komplexität gesellschaftlicher Sachverhalte vermitteln, womöglich auch die Fähigkeit befördern, flexibel mit Widersprüchen umzugehen. Vielleicht, so möchte man hoffen, vermag narrative Imagination – angeregt etwa auch durch Evaristos Roman – die moralisierenden Fixierungen der identitätspolitischen Debatten ein wenig aufzuweichen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.
2. Auflage.
Aus dem Englischen von Tanja Handels.
Tropen Verlag, Stuttgart 2021.
512 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783608504842

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