Was ist eine Positivitätspropagandistin?

Bernardine Evaristo erzählt in ihrem Memoir „Manifesto. Warum ich niemals aufgebe“, wie uns Herkunft prägt, aber das Leben trotzdem eine offene Rechnung ist

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Manifest ist eine öffentliche Erklärung von Absichten und Zielen. Das vielleicht einflussreichste dürfte das Kommunistische Manifest sein. Aber auch die Künste hatten vor allem im 20. Jahrhundert eine besondere Vorliebe für Manifeste entwickelt. In ihnen werden ästhetische Positionen definiert und in den Rang programmatischer Bekenntnisse erhoben. Für die aus England stammende Schwarze Schriftstellerin Bernardine Evaristo spielen Manifeste ebenfalls eine wichtige Rolle. Es sind persönliche Absichtserklärungen, die sich die Autorin mit jedem neuen Vorhaben gibt. Zugleich sind es positive Statements mit strategischem Charakter, denn sie enthalten eine Selbstbestätigung und ebenso eine Ermutigung.

Am Ende des Buches befindet sich ein solcher mit Evaristos Manifesto überschriebener Text, jedoch mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, weshalb er sich wie eine Art Erklärung der Menschenrechte liest: 

Alle Menschen müssen die Möglichkeit haben, Geschichten zu erschaffen, zu teilen & in sich aufzunehmen, Geschichten, die ihre Kultur & ihre Community abbilden, damit wir alle im gleichen Maß Bestätigung erfahren.

Es geht, wenn man so will, um ein Grundrecht auf Kreativität und Phantasie, auf Wildheit und Kühnheit, auf Verbundenheit und Fürsorglichkeit. Am Ende bleibt es eine schöne Geste, denn einklagbar ist davon wohl nichts. Zu erkennen ist allerdings, wie wichtig Evaristo das nimmt, was wir ‚eine Haltung einnehmen und besitzen‘ nennen. Ja, in ihrem Leben ging es immer auch darum, Haltung zu zeigen, was bei ihr ein Synonym für Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein ist. Es ging auch im feministischen Sinne um Sichtbarkeit.

Evaristos Werdegang als Schriftstellerin hatte einen längeren Anlauf nötig, bis sich schließlich Erfolg und Anerkennung einstellten. Das war 2019 mit ihrem Roman Girl, Woman, Other, für den sie den Booker Prize verliehen bekam, endlich der Fall. Die Autorin nennt dieses Werk selbst „ein vielstimmiges Loblied auf Schwarze britische Weiblichkeit und non-binäres Leben, in aller fehlerbehafteten Komplexität“. Um dahin zu kommen, bedurfte es einer Eigenschaft, die die Autorin im Titel ihres Memoirs verrät, nämlich niemals aufzugeben. Was nichts anderes heißt, als sich durch Misserfolge anspornen zu lassen, ganz nach der Devise ‚jetzt erst recht‘. Und wo die eine Tür verschlossen bleibt, probiert man einfach die nächste oder übernächste. Irgendwann findet man die offene Tür.

Hier nun stellt sich die Frage, trägt unsere Herkunft dazu bei, das zu werden, was wir sind? Die Frage ist mit einem klaren Ja und Nein zu beantworten, denn natürlich werden wir unsere Sozialisation nicht los, aber was wir daraus machen, hängt letztendlich von unserem Mut und von unserer Kreativität ab. Also wäre die Frage, was bestimmt außer unserer Herkunft noch die Karriere, und was bildet das Fundament der Kreativität?

Für mich ist dieses Buch eine Antwort auf genau diese Frage. Es gibt Einblicke in meine Herkunft und meine Kindheit, meine Lebensumstände und meine Beziehungen, die Ursprünge und das Wesen meiner Kreativität, meine Strategien zur Persönlichkeitsentwicklung und meinen Aktivismus.

Mit geradezu protokollhafter Nüchternheit erzählt sie uns ihre Familiengeschichte, die aus einem wahren ethnischen Konglomerat besteht. Was da literarisch über weite Strecken so auffällig spröde daherkommt, verweigert aber keineswegs Gefühle. Sie werden nicht ausgeklammert, aber ohne großes Federlesen einfach konstatiert. Erstaunlich wiederum, wie durch solche Sachlichkeit beispielsweise der alltäglich erfahrene offene Rassismus erst recht zu etwas Ungeheuerlichem wird. Was da Tag für Tag und en passant an Diskriminierungen im England der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts wie selbstverständlich geschieht, ist eigentlich unfassbar. Evaristo fügt viele dieser Erlebnisse in die Erzählungen ihrer Familiengeschichte und eigenen Kindheit und Jugend ein, die gerade in diesem „Nebenbei“ nur umso schockierender wirken.

Sie ist das Kind eines Schwarzen Vaters und einer weißen Mutter, doch andere sehen „nur meinen Vater in mir, nicht meine Mutter“. Und weiter: „Man spürt Hass, obwohl man nichts getan hat, womit man ihn sich eingehandelt hätte, und so sucht man den Fehler bei sich selbst statt bei den anderen.“ Das hat beispielsweise zur Folge, dass der eigene, aus Nigeria stammende Vater zum Problem wird: „Seine sehr dunkle Haut war mir peinlich, und ich kann mich erinnern, manchmal die Straßenseite gewechselt zu haben, wenn ich ihn auf mich zukommen sah. Das war schlicht und einfach verinnerlichter Rassismus.“ Doch mit der Zeit lernt sie, sich „ein Kraftfeld aus Selbstschutz“ zuzulegen, das irgendwann so gut funktioniert, dass sie das letzte Wort behält, wenn ihr jemand blöd kommt.

Die Familie, in der sie zusammen mit sieben weiteren Geschwistern aufwächst, ist katholisch, aber die „angeblich frommen Priester“ sprachen nie mit der Mutter geschweige denn mit der Kinderschar. Soviel Scheinheiligkeit veranlasst die Familie, nach und nach aus der Kirche auszutreten. Aber Evaristo wehrt sich auch gegen Klischees des Schwarzseins, die aus der eigenen Community kommen: 

Ich fiel auf Anhieb durch, weil ich Standardenglisch sprach und nicht das Patois, das den karibischen Britinnen und Briten der zweiten Generation so leicht von den Lippen ging. Der Umstand, dass ich gar keine karibischen Wurzeln habe, fiel für manche, die mich kritisierten, nicht ins Gewicht.

In Manifesto spielen neben der Sache mit der Hautfarbe und den sich daraus ergebenden Erfahrungen vor allem drei Dinge eine eminent wichtige Rolle: Da wäre zum einen die Stadt London, die zu ihrem Lebensmittelpunkt wurde und die sie als ihre Muse bezeichnet. Sie spricht von einer tiefen Verbindung zwischen der Stadt und ihr. Von Bedeutung war auch eine lesbische Lebensphase. Mit 18 lernte sie ihren ersten Freund kennen, mit dem sie zunächst zusammenlebt, um schon bald zu entdecken, dass sie auf Frauen steht. Sie sei allerdings „keine lesbische Verführungskünstlerin“ gewesen, sondern einfach nur jung und freiheitsliebend. Dennoch ist sie eine Zeitlang eine überzeugte Lesbe, um schließlich festzustellen, dass sexuelle Orientierung keineswegs in Stein gemeißelt sei. „Meine lesbische Identität war der Belag auf dem heterosexuellen Sandwich.“

Das vielleicht Wichtigste in ihren Leben wurde jedoch das Schreiben. Es begann schon früh mit Gedichten. Dann kam das Theater hinzu, auf dessen Bühnen sie sich sofort zuhause fühlte und für das sie zu schreiben begann – so etwa für das „Theatre of Black Women“. Die Theaterarbeit verlieh ihr „bauchrednerische Fähigkeiten, um eine Figur zum Leben zu erwecken“ – eine Fähigkeit, die ihr für das Schreiben später von großem Nutzen war und ist. Mit dem Roman Lara von 1997 datiert sie den eigentlichen Beginn ihrer Laufbahn als Autorin. Sie erzählt darin die Ursprungsgeschichte ihrer Familie mit all ihren Höhen und Tiefen.

Evaristo, die in einer großen Familie aufwuchs, berichtet von der Erfahrung, lange Zeit nie einen Raum nur für sich gehabt zu haben, keinen Rückzugsort. Später änderte sich das, wobei das Schreiben von Anfang an für sie eine Art persönliches Reservat bedeutete: „Das Schreiben wurde mein Zimmer für mich allein; es wurde mein ewiges Zuhause.“ Trotzdem benötige sie für das Schreiben einen „Zustand hypersensibler Überspanntheit“. Angefangen hat ihre Karriere in Kindertagen, als sie zur leidenschaftlichen Leserin geworden war. Ebenso wichtig wurde ihr positives Denken, das Hürden nicht als Hindernis, sondern als Herausforderung betrachtet. Weshalb man sie auch einmal die „Positivitätspropagandistin“ nannte. Und schließlich finden wir auch dieses Bekenntnis in ihren so anregenden, unprätentiös ehrlichen und überzeugenden Lebenserinnerungen: „Die Bezeichnung ‚Schwarze Autorin‘ trage ich mit Stolz, denn in einer rassifizierten Gesellschaft ist es meines Erachtens notwendig, sich auf diese Erzählungen zu konzentrieren.“

Titelbild

Bernardine Evaristo: Manifesto.
Aus dem Englischen von Tanja Handels.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022.
256 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783608500158

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