Familienszenen nach 3/11
Sôkyû Gen‘yûs „Geschichten aus Fukushima“
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSôkyû Gen‘yû (*1956), der seit geraumer Zeit in der Nachfolge seines Vaters einen Tempel in der Stadt Kôriyama leitet, zählt zu den repräsentativen Schriftstellern der sogenannten shinsaigo bungaku (Post-Erdbebendesaster-Literatur). Der japanische Kulturjournalismus hatte diese Sondersparte nach den Ereignissen von Fukushima ausgerufen. Neben dem Twitter-Dichter Ryôichi Wagô (*1968) und dem Romancier Hideo Furukawa (*1966) ist Gen‘yû einer der Vertreter der unmittelbar betroffenen Region in Nordostjapan; als Literat debütierte er schon in den 2000er Jahren. Anders als Kenzaburô Ôe, der „Fukushima“ aus der Perspektive einer Nation mit atomarer Erfahrung sowie im internationalen Rahmen einordnete, schildert der Autor und Priester „3/11“ aus regionaler Sicht. Sein Thema ist also „Fukushima von innen“. Während er im dokumentarischen Essayband Fukushima ni ikiru (2011; „In Fukushima leben“) soziale, politische und ethische Problemlagen anspricht, schreibt Gen‘yû in den fiktionalen Texten der Anthologie Der strahlende Berg. Geschichten aus Fukushima darüber, wie sich die Dreifachkatastrophe als Faktor familiärer Spaltung, gesellschaftlicher Erosion und individueller Identitätskrisen bemerkbar macht.
Tod und Trauer
Die sieben Erzählungen des vorliegenden Bandes beinhalten eben solche Innenansichten – mit Fokus auf Personen, die durch die Flutwelle und ihre Folgen Angehörige verloren haben. Die erste, sehr knapp gehaltene Geschichte skizziert die Gemütslage einiger Menschen wenige Wochen nach der Dreifachkatastrophe. Mit ihr sind Verwüstung, Tod und der Verlust jeden Lebenssinns zur Alltagsrealität geworden: Ein Mädchen stirbt in einer Notunterkunft an Lungenentzündung. Ihr Freund, Angestellter beim AKW-Betreiber Tepco, kehrt offenbar immer wieder in die verstrahlte Zone zurück, um unter endgültiger Aufgabe seiner Gesundheit die unvermeidlich anfallenden Arbeiten an den havarierten Meilern zu erledigen. Auch der Großvater des Mädchens will seinem beschädigten Leben noch einen Sinn geben, indem er sich für die zurückgelassenen hungernden Tiere im Sperrgebiet opfern möchte.
Die zweite, ausführlichere Episode zeigt Szenen aus dem Leben von Michihiko und Aya. Das ungleiche Paar hat sich anlässlich des Geschehens gefunden. Michihiko ist Nachfolger eines Tempelpriesters und sieht sich mit dem Verfall seines Vaters konfrontiert. Dieser lebt mittlerweile im Heim. Im Gefolge der Flutwelle, der Zerstörung des Tempels und des Verlusts seiner Frau fiel er in einen Zustand geistiger Verwirrung. Der Protagonist sieht noch jeden Morgen – „so niemals im Fernsehen gezeigt“ – die Trümmerwüste vor seinem inneren Auge:
Kadaver von Hunden und Katzen, die in unnatürlicher Haltung mit Bäumen und Strommasten verknotet waren. Einzelne menschliche Arme, Beine und Köpfe, die halb von Schutt und Schlamm verdeckt waren.
Nur das Zirpen der Grillen erfüllt ihn „mit einer unbändigen Freude“. Die im Titel der Geschichte zitierten Insekten scheinen mit ihren durchdringenden Tönen die Atmosphäre zu reinigen. Zugleich repräsentieren sie ein essenzielles Lebenszeichen in einem Raum voller Tod und Trauer.
In der nächsten Erzählung geht es um die Identifizierung von Leichen mittels DNA-Vergleich. Ein kleiner Junge hat auf einer Polizeistation einen Abstrich vorzunehmen, damit man im Laufe einschlägiger Nachforschungen möglicherweise über den Verbleib des verschollenen Vaters Yôhei Auskunft geben kann. Nach erfolgreich beendeter Prozedur salutiert das Kind in Richtung der erwachsenen Männer, die sich beeilen, den Gruß zu erwidern. „Der Wasserläufer“ greift das Thema der Post-Fukushima-Scheidung auf – ein nicht seltenes Phänomen in den Monaten nach 3/11, mit dem sich auch Gen‘yû befasst. In seiner Version feiern zwei junge Ehepaare das Obon-Fest. Sayuri und Kenta leben dauerhaft im Krisengebiet. Naoki, Ehemann von Chiharu, die mit Kind nach Hokkaidô gezogen ist, hilft Kenta vor Ort im Gartenbauunternehmen. Zur traditionellen Totengedenkfestivität im Sommer kehren Chiharu und Tochter Mika in die Heimat zurück. Beide sind allerdings nicht gekommen, um zu bleiben, wie Sayuri erkennt. Chiharu bittet ihren Mann, die Scheidungspapiere zu unterzeichnen. Die Kluft zwischen ihr und Naoki bleibt unüberbrückbar, da sie von Panik im Hinblick auf eine gefährliche Verstrahlung der Umgebung getrieben wird. Mit ihrer Entscheidung bricht die Familie auseinander, was Sayuri und Kenta zutiefst missbilligen. Die Fremdwerdung von Chiharu deutet eine unheimliche Maske an, die sie sozusagen dämonisiert.
Protagonist Yamaguchi aus der fünften Episode „Die Gottesanbeterin“ muss den Verlust seiner Frau Seiko überwinden. Nach dem Tsunami wurde ihr Leichnam nahe bei ihrem zerstörten Haus „in einem schrecklichen Zustand“ aufgefunden. Das Ehepaar hatte vor dem Unglück einen Veranstaltungsort für Hochzeiten betrieben. Aktuell lebt der ältere Mann in einer der für diese Phase der Krisenbewältigung typischen Notunterkünfte. Er leidet schon seit längerem an Krebs und hat beschlossen, solange es ihm möglich sein würde, bei der Dekontaminierung der Umgebung mitzuhelfen. Dass er bei der Arbeit eine größere Strahlenmenge absorbiert, nimmt er in Kauf, ebenso wie er sich gegen die Behandlung seiner Krankheit entscheidet.
Wo das Lächeln gefordert wird
Sôkyû Gen‘yûs Darstellung der Lage nach „Fukushima“ gewährt zum einen Einblicke in die Psychodramatik einer verstörten Bevölkerung, zum anderen enthält sie die Aufforderung, an das Leben zu glauben. Obwohl der Autor die schlimmen Seiten der Ereignisse keineswegs verhehlt, entsteht bei der Lektüre der Beiträge doch manches Mal der Eindruck, Gen‘yû versuche einigermaßen bemüht, positive Kräfte zu beschwören und den Gedanken einer – über die Generationen hinweg – heilenden Gemeinschaftlichkeit zu etablieren. In seinem (übersetzten) Nachwort zur Taschenbuchausgabe der Texte, die in ihrer japanischen Originalfassung fünf Jahre nach den Geschehnissen veröffentlicht wurde, findet sich die seelsorgerische Qualität des Geschriebenen bestätigt: „In jeder Geschichte habe ich eine Art ‚Gebet‘, einen Wunsch von mir ausgedrückt (…)“.
Gen‘yûs Appell, sich konsequent der aus dem Desaster zwangsläufig resultierenden Negativität zu verweigern, enthält ab und an Schilderungen, die sich zu einem bestimmten Grad als Haltungsvorgaben für die (ursprünglich japanischen) Leser und Leserinnen verstehen lassen – etwa wenn seine Protagonisten erklären, Diskussionen um Strahlenwerte und Lebensmittelsicherheit führten zu nichts oder wenn sie bis zuletzt eine fröhliche Miene aufzusetzen trachten wie der sterbende Yamaguchi aus der „Gottesanbeterin“. In der abschließenden, titelgebenden Erzählung der Anthologie, „Der strahlende Berg“, gestaltet der Autor noch eine tragikomische Heilsvision mit zwei Helden. Vater und Sohn verwandeln eine toxische Umgebung in eine Stätte der Erlösung: Der Müllberg wird zum Paradies.
„Japanische Mentalität“ und die Übersetzung
Vom Standpunkt des Autors aus, lässt sich der in den Texten aufscheinende dringende Wunsch nach einem fortdauernden Kontinuum des Lebens in Fukushima gut nachvollziehen. Dass sich Post-Erdbebendesaster-Literatur zuweilen didaktisch gibt, schmälert häufig ihren literarischen Wert, und dies trifft auch bei Gen‘yû zu. Was die Freude an den Geschichten zusätzlich trübt, ist die Übersetzung ins Deutsche. Sie repräsentiert den Wert der Erzählungen als Sprachkunstwerk nur wenig. Generell sind die Formulierungen zu eng an das Original angelehnt. Umständliche Satzkonstruktionen, schwerfällige Dialoge, unstimmige Bilder, manch unschöne Trennung sowie die selten gelösten Schwierigkeiten, die sich gern bei der Übertragung landesspezifischen Vokabulars (z.B. Namen japanischer Gerichte) ergeben, behindern den Lesefluss. Die defizitäre Sprachlichkeit verleitet nicht zuletzt zu einer exotistischen Verfremdung des Erzählten. Ein Beispiel gleich zu Anfang:
Das, was zu einem einzigen Berg aus Trümmern geworden war, war ursprünglich gar kein Schrott. Es war das Dreirad ihres viel jüngeren Bruders, mit dem er oft gespielt hatte. Es war der Gesundheitslikör, den ihre Oma täglich getrunken hatte. Es war das Gericht aus korallenähnlichen Manteltierchen, das ihre Mutter mit Freuden zubereitet hatte.
Leider trägt auch der Kommentar der Übersetzerinnen auf der Rückseite des Buchs zu keiner Erhellung bei. Hier heißt es, die Beiträge ermöglichten einen „emotionalen Zugang zu der japanischen Mentalität“, aber es dürfte ebenso fragwürdig wie schwierig sein, einheitliche japanische Reaktionsmuster angesichts der Katastrophe zu benennen. Bewertungen hinsichtlich der „ruhigen“ und „gefassten“ Japaner wurden bereits als Teil eines offiziellen Narrativs identifiziert. Man könnte vor diesem Hintergrund sogar zweifeln, ob Gen‘yûs „Geschichten aus Fukushima“ – eingedenk ihrer buddhistischen Agenda und der reduzierten Perspektive – überhaupt für eine größere Leserschaft außerhalb Japans geeignet sind. Eine professionellere Einordnung der Texte hätte den Zugang zu ihnen auf jeden Fall erleichtert.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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