Geld und Geist

Orlando Figes untersucht in „Die Europäer“ die Entstehung europäischer Kultur

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der russische Schriftsteller Iwan Turgenew (1818–1883) im Sterben lag, soll er begonnen haben, in mehreren Sprachen durcheinander zu reden – Russisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Der britische Historiker Orlando Figes ruft diese Szene gegen Ende seines neuen kulturgeschichtlich ausgerichteten Buchs Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur in Erinnerung. Damit ist sie durchaus charakteristisch für das Ziel, das sich Figes in seinem Werk gesetzt hat: Er will sich Europa als „einem Raum des kulturellen Transfers, der Übersetzung und des Austausches über nationale Grenzen hinweg“ nähern, „aus dem eine europäische Kultur – eine internationale Synthese künstlerischer Formen, Ideen und Stile – hervorgehen und Europa von der übrigen Welt abheben sollte.“

Orlando Figes erforscht die neue Art von Beziehung zwischen den Künsten und dem Kapitalismus, die sich seiner Ansicht nach im 19. Jahrhundert ausgestaltet hat. Dafür rückt er zunächst drei Personen ins Zentrum seines Werks, die miteinander in einer komplexen und schwierigen Dreiecksbeziehung gestanden haben: Die spanisch-französische Sängerin Pauline Viardot (1821–1910), ihr Ehemann Louis Viardot (1800–1883) und der bereits erwähnte Iwan Turgenew. Die Bande zwischen den dreien sind an und für sich wohl bekannt und in der Forschung dementsprechend aufgearbeitet worden. Figes stellt nun aber diese private Geschichte in einen viel breiteren Kontext. Er versucht aufzuzeigen, wie die drei Berühmtheiten in mancherlei Hinsicht ein kosmopolitisches Leben führten, das durch Neuerungen in Technik, Wirtschaft und Kultur überhaupt erst ermöglicht worden sei.

Der Autor beginnt mit der stürmischen Entwicklung der Eisenbahn, die eine wichtige Voraussetzung für einen intensiven Austausch zwischen den Ländern Europas schuf. Dieser betraf nicht allein die wechselseitige kulturelle Beeinflussung und Befruchtung, sondern auch die Herausbildung eines eigentlichen Business um die Kultur herum. Figes hat sich – wie schon seinerzeit in Nataschas Tanz, einer groß angelegten Kulturgeschichte Russlands – erneut viel vorgenommen: Er richtet sein Augenmerk sowohl auf die Musik (besonders die Oper), wie auch auf die Literatur und Malerei. Er wechselt immer wieder den Schauplatz, etwa von Paris nach London und Mailand oder von Sankt Petersburg nach Baden-Baden. Neben den Viardots und Turgenew haben Dutzende weitere Figuren aus Kultur, Wirtschaft und Politik ihren Auftritt.

Im großen Ganzen bewältigt Figes die gewaltige Materialfülle gut. Seine Überlegungen sind erhellend und inspirierend. Es gelingt dem Autor tatsächlich, die unterschiedlichsten Dimensionen miteinander zu verknüpfen und ihr Zusammenwirken aufzudecken: Da sind als Erstes die Kunstwerke selbst, dann aber auch die Bedingungen ihrer Produktion und Verbreitung. Dazu gehören neue Möglichkeiten ihrer Popularisierung, wie beispielsweise die Herausbildung eines Markts für Partituren beliebter Opernmelodien für den „Hausgebrauch“, aber auch die zunehmende Internationalisierung der Literatur durch die ausgedehnte Vermittlungstätigkeit und den Übersetzungsmarkt. Im Weiteren geht es um die mitunter heftigen Diskussionen um ein Urheberrecht, das damals in einigen Ländern nicht oder erst in Ansätzen existierte. Figes interessiert sich aber auch für neue Finanzierungsmodelle etwa bei Opernhäusern, für Marketing und Werbung im Kulturbereich. Oder er unterstreicht die Bedeutung des boomenden Bädertourismus, wie auch von gedruckten Reise- und Kunstführern bei der Entstehung eines europäischen Bewusstseins und von sozialen Netzwerken.

Es ist lobend zu vermerken, dass Orlando Figes mit der Figur Iwan Turgenews auch Russland ganz selbstverständlich dem europäischen Kulturraum zurechnet. Hierzu gehen ja bekanntlich die Meinungen auseinander. Indem der Autor regelmäßig zu seinen drei Hauptfiguren zurückkehrt, kann er die zahlreichen Stränge seiner Erzählung immer wieder zusammenführen. Louis Viardot erhält allerdings deutlich weniger Aufmerksamkeit als die beiden anderen. Dabei war er möglicherweise der vielseitigste von allen, wie Figes selbst argumentiert: Viardot war republikanischer Aktivist, Herausgeber, Operndirektor, Spanienkenner, Kritiker, Schriftsteller und Literaturübersetzer, Kunstexperte und -sammler in einem!

Natürlich hat der vom Autor gewählte breite Zugang auch seine Nachteile. Zunächst einmal wird manches eher behauptet als tatsächlich auch argumentativ hergeleitet. Am meisten irritiert hierbei die Tatsache, dass eine Definition von Europa (und sei es auch nur in kultureller Hinsicht) bei Figes eigentlich gar nicht vorkommt. Und bei den drei Hauptgestalten wird nur an Turgenew gezeigt, wie dieser den Begriff „Europa“ auch tatsächlich reflektiert – was er darunter versteht und wie er sich eindeutig als Europäer positioniert.

Mit dem Begriff des „Europäischen“ sind zwei weitere Probleme dieses Buchs verbunden. Der erste Punkt betrifft folgendes: Figes arbeitet zwar durchaus überzeugend heraus, wie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine „europäische Kultur“ herausbildet. Er ist sich auch bewusst, dass es sich dabei um die Kultur einer Elite, eine „Hochkultur“, handelt. Damit scheint die Sache für den Autor freilich bereits erledigt. Doch manch eine Leserin mag sich fragen, was denn wohl die Bediensteten oder die weniger Gebildeten von so einer „europäischen Kultur“ bemerkt haben. Im Grunde genommen ist das auch heute noch eine der großen Fragen: Existiert ein „europäisches Bewusstsein“ auch jenseits einer sprachgewandten, gut ausgebildeten, viel gereisten, belesenen, informierten und international tätigen Elite? – Hier verpasst Figes eine gleichermaßen wichtige wie spannende Diskussion.

Und das zweite Problem: Figes zeigt zwar schön auf, dass auch kleinere Nationen (etwa die Ungarn) ihre Nationalkulturen nach dem Modell der großen Vorbilder (zumeist Frankreich, Deutschland und England) ausgeformt haben. Aber er bleibt blind für die Gefahren, die in dieser Entwicklung stecken: nämlich eine gewisse Uniformität und Standardisierung der europäischen Kultur auf Kosten der nationalen Traditionen, die dabei nivelliert zu werden drohen. Diese auch heute wieder drängende Debatte scheint den britischen Historiker ebenfalls nicht zu interessieren.

Leider sind auch ein paar sprachliche Nachlässigkeiten festzuhalten, von denen einige allerdings bereits im englischen Original vorhanden sind. In einem Buch über europäische Kultur sollten die diakritischen Zeichen des Französischen oder die Betonungszeichen des Spanischen korrekt wiedergegeben werden. Das englische „nation building“ ist mit „Nationenbau“ schlecht übersetzt – man hätte es für einmal im Original belassen oder den inzwischen einigermaßen etablierten Begriff „Nationenbildung“ verwenden können. Und eine „Zarina“ (englisch tsarina) und ein „Piedmont“ gibt es im Deutschen nicht: Es heißt „Zarin“ und „Piemont“.

Der bleibende Wert von Orlando Figes Die Europäer liegt aber sicherlich in dem eindrücklichen Panorama, zu dem er seine Untersuchung gemacht hat: Es weitet unseren Horizont im allerbesten Sinn und macht uns dadurch selbst etwas mehr zu Europäern.

Titelbild

Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
640 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783446267893

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