Ein alter Mann und die Historie
Heinz Duchhardts instruktive Studie über den späten Leopold von Ranke
Von Jens Flemming
Im Tod verdichtet sich das Leben. Einen Abglanz davon vermitteln die Nachrufe und Lobreden auf den im Mai 1886 verstorbenen, 20 Jahre zuvor in den Adelsstand erhobenen Historiker Leopold von Ranke. Ein paar Monate zuvor hatte er noch seinen 90. Geburtstag gefeiert. Da war alles anwesend, was in Berlin gut und teuer war: Repräsentanten der Reichsleitung, der preußischen Regierung, Würdenträger der Universität, der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der in München residierenden Historischen Kommission, außerdem Kollegen, auch der Maler Adolph Menzel und der Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck. Die „Phalanx“, die sich in der Luisenstraße, der Wohnung des Jubilars, versammelt hatte, war eindrucksvoll. Es war, wie Heinz Duchhardt in seinem Buch über den „alten Ranke“ bemerkt, „die Crème der deutschen Geschichtswissenschaft in einem weiteren Sinn“, bedeutende Historiker und die ebenso bedeutenden Herren aus Politik und Administration. Das Gedränge in den für solche Anlässe nicht eingerichteten Räumlichkeiten dürfte groß gewesen sein.
Für die Zeitgenossen, soweit sie von ihm Kenntnis genommen hatten, war Ranke – weitgehend unbestritten – der Nestor der damaligen Historikerzunft. An seinem Ehrentag empfing er ein Glückwunschschreiben der Kaiserin Augusta und den Besuch des Kronprinzen Friedrich, allerlei Orden und würdigende Ansprachen. Auf sie reagierte er mit einer Dankesrede, in der er sein berufliches Werden mit dem Gang der Geschichte verknüpfte. Der einflussreiche Ministerialdirektor im Berliner Kultusministerium, Friedrich Althoff, schwärmte vom „jugendfrischen Altmeister der Geschichtswissenschaft“. Alfred Dove, Professor an der Universität Bonn, beugte verklärend das Knie: „Wir haben ihn alle besessen und verloren“, und besitzen hinfort den „unaussprechlich großen Schatz, der an seinem Denken und Wirken unverlierbar war.“
Der hohe Ton, der am Ende herrschte, erhob den Dahingeschiedenen zum unangreifbaren preußisch-deutschen Ideal, ja, zu einer Art Menschheitsgestalt. Derartige Sentiments waren dem Alten keineswegs fremd. Im Gegenteil, auch er war davon durchdrungen. Sein Sekretär Theodor Wiedemann erinnerte daran, dass Ranke sich „in die Reihe der großen Schriftsteller aller Zeiten und Nationen“ einzureihen pflegte. Das meinte zugleich, dass er keinen „Geschichtsschreiber der Gegenwart“ als ihm „ebenbürtig“ anerkennen mochte. Er selbst glaubte, so Duchhardt, von einer „quasi-göttlichen Aura“ umhüllt zu sein. Insofern lag es nahe, eine Art „religiöser Mission“ für sich zu reklamieren – oder in Rankes Worten: „Die historische Wissenschaft und Darstellung ist ein Amt, das sich nur mit dem priesterlichen vergleichen lässt“. Im Bewusstsein, sein Leben sei durchtränkt von göttlicher Zuwendung, wähnte er sich im Besitz der „Wahrheit“, frei „von Irrtum“ und „berechtigt, seine Forschungsergebnisse mit einer höheren Instanz kundzutun.“ Kritisch war dagegen eine Bemerkung des Bruders Wilhelm, die auf Rankes „Ruhmsucht“ anspielte: Wenn man deren Beiwerk wegschiebe, werde nichts anderes sichtbar als „nackte Selbstliebe“.
Duchhardt beginnt sein Buch 1871. Gleich zwei Zäsuren trafen damals aufeinander, eine persönliche und eine politische: die Reichsgründung und der Eintritt des Fünfundsiebzigjährigen in die letzten Lebensabschnitte. Der schon alte Ranke wurde nun tatsächlich alt, und er tat vieles, um das zu verschleiern, vor sich und anderen. Nach langer Leidenszeit starb im April 1871 seine Frau Clarissa, die Kinder hatten der Luisenstraße den Rücken gekehrt, der Besuch seiner Vorlesungen war allmählich schwächer geworden. In der Luisenstraße stellte sich „große Leere“ ein. Ranke litt seit einiger Zeit an einer schmerzhaften Erkrankung der Blase, zu beklagen war überdies abnehmende Sehkraft und ebenso abnehmende Hörfähigkeit. Dies alles machte ihn abhängiger von Wiedemann und der Schar der Hilfskräfte, zumal er Brille, Hörhilfe und Operation verweigerte. Die gesundheitlichen Probleme zwangen ihn, die Aktivitäten an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu begrenzen. Der Bitte, ihn zu entpflichten, wurde unverzüglich entsprochen. 1871, konstatiert der Autor, wurde „nicht nur für Preußen, sondern auch für ihn ganz persönlich zu einem Schicksalsjahr“, das ihn nötigte, sich neu zu orientieren, vor allem aber sich und seine Projekte neu zu sortieren.
Ein unbestreitbares Verdienst der Studie ist es, den Blick nicht allein auf Rankes Schriften zu lenken, sondern wesentlich auch auf den Alltag eines in die Jahre gekommenen, „hinfällig werdenden“ Gelehrten. Sichtbar werden auf diese Weise Rahmenbedingungen der Produktion. Die durchschnittliche Lebenserwartung der um 1800 Geborenen hatte Ranke bereits 1871 überschritten. Zu den zahlreich gewordenen körperlichen Beschwernissen (Anfälle von Rheuma, Symptome von Gicht, regelmäßige Erkältungen) gesellten sich gelegentlicher Schüttelfrost und Schlafstörungen. Er sei „unfähig, die gewöhnlichsten Dienste zu leisten“, bekannte er 1878. Wenn er seine Briefe eigenhändig zu Papier bringe, würde das die Empfänger „in die größte Verlegenheit bringen“. Ihm selbst falle das Lesen der Post zunehmend schwer, besonders dann, „wenn sie nicht mit recht schwarzer Tinte“ verfertigt sei.
Belastet mit derlei altersbedingten Malaisen, bedurfte er für die vielen Projekte, denen er sich immer noch widmete, tatkräftiger Unterstützung. Wegen seiner Schwerhörigkeit mussten ihm die benötigten Dokumente vorgelesen werden. In der Luisenstraße entstand ein wahres „Laboratorium“, eine „Werkstatt“ für eine buchstäblich ausufernde Buchproduktion. Hier werkelte Ranke mit Wiedemann, der seit 1870 als sein Sekretär fungierte, und den aus dem Kreis seiner Schüler ausgewählten Hilfskräften. Der finanziell unabhängige Wiedemann und die übrigen Mitarbeiter empfingen entweder gar kein oder nur ein geringes Entgelt.
Von Wiedemann ist überliefert, was alles ihm oblag: unter anderem „bibliographische Nachweisungen“, Exzerpte für Rankes Publikationen, Betreuung der Korrekturbögen und Beseitigung von Druckfehlern, „Beantwortung scientifischer Spezialanfragen“, nicht zuletzt das Chaos fortwährender Änderungen, das „Gewimmel von Kleinstkorrekturen“, die zahllosen Änderungen im Text, die Streichungen, Ergänzungen und Umbauten dort, in eine handhabbare Ordnung zu bringen. Das kostete Nerven, erforderte „selbstlose Hingabe“, war eine unnachahmliche Form wissenschaftlicher Ausbeutung. Wilhelm Ranke monierte, es bleibe dem Bruder weder „Zeit“ noch „Kraft“, neben der die Konzentration verschlingenden Arbeit den ihm „nahestehenden Personen“, namentlich den Mitgliedern der Familie, sich zuzuwenden und mit ihnen zu kommunizieren.
In der Werkstatt der Luisenstraße entstanden zahllose Bücher. Die verschiedenen, teils mehrbändigen Werke, werden knapp und eindringlich analysiert, jeweils eingebettet in die zugehörigen altersspezifischen und gesellschaftlichen Kontexte. Die Ausgabe letzter Hand erreichte bis zum Tod 48 Bände, danach kamen noch einmal sechs hinzu. Eine veritable Leistung, die ihresgleichen sucht. Ranke war, resümiert der Autor, ein „ungemein rühriger und eminent fleißiger“ Mann. Die Produktion während der anderthalb Jahrzehnte nach 1871 glich einem „Stakkato von Büchern“, deren thematische Vielfalt von „ungebrochener geistiger Dynamik“ zeugte, zugleich jedoch von einer „unglaublichen Hast“, eine Eigenheit, die für alte Gelehrte typisch sein mag, wenn sie „glauben, ihrem Fach noch etwas zu schulden.“
Duchhardt bespricht nicht sämtliche Hervorbringungen des Protagonisten, nur die wichtigsten. Die Urteile, die er fällt, sind weder schneidend noch rundum verdammend. Aber entschieden sind sie schon. Einige Male bescheinigt er dem Alten, gestützt auf dessen Adlatus Wiedemann, dass er nicht mehr auf der Höhe der Forschung sei, den Duktus und die Ergebnisse neuere Studien der Kollegen und Kontrahenten hartleibig ignoriert, sich zu Debatten darüber jedenfalls nicht herabgelassen habe. Den Quelleneditionen, an die er sich gewagt hatte, obwohl mit dieser Gattung nicht vertraut, haftete nicht von ungefähr manche Unzulänglichkeit an. Zwar war er ein disziplinierter Arbeiter, aber Ordnung und Arbeitsökonomie waren ihm nicht in die Wiege gelegt. „Chaos“ war der „Alltagszustand“ in „seinem Arbeitszimmer und in seinen Unterlagen.“ Manches verzögerte sich daher, und die nicht realisierten Pläne waren „Legion“. Anderes wurde, wohl auch unter dem Druck, die Lebensleistung zu komplettieren, auf die letzte Minute noch einmal aus der Schublade geholt, vollendet und zum Verleger getragen: „Das Gebirge von Unvollendetem schmolz so auf wunderbare Weise deutlich zusammen.“
Ranke war außerordentlich affin zur Monarchie. Die Verbundenheit mit den Hohenzollern war ein prägendes Element. Kein Zufall war, dass König Friedrich Wilhelm IV. ihn 1841 zum „preußischen Staatshistoriographen“ ernannte. 1877 bekannte Ranke, seine „Sympathien“ hätten „von jeher der Monarchie“ gehört. Denn sie verleihe „der Kultur eine sichere Grundlage“ und greife selbständig „in die Weltbegebenheiten“ ein. Die preußische Dynastie sei der „Fokus seines Lebens“ gewesen, konstatiert Duchhardt. Dazu passte das Bestreben, auch zu anderen der hochmögenden Fürstenfamilien „intensive Beziehungen“ anzubahnen. Ranke haftete tatsächlich der „Geruch extremer Hofnähe“ an. Wie der Autor zu Recht vermerkt, steckte darin die Gefahr, das Postulat der „Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit“, die er stets als Kern wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Vergangenheit für sich reklamierte, zugunsten des höheren Ruhmes der Dynastie nicht völlig zu vergessen, aber doch da, wo er es für nötig erachtete, zu relativieren oder gar hintanzustellen.
Was bleibt? Ranke verkörpert ein wichtiges Stück Historiographiegeschichte, das zugleich Einblicke in die Arbeitsbedingungen, die Interessen und die Mentalitäten einer Gelehrtenelite des 19. Jahrhunderts gewährt. Sie mag uns heute in Perspektive und Praxis überholt erscheinen. Das ist sie tatsächlich. Die Forderung jedoch, die Quellen mit zweckdienlichen Methoden zu durchdringen und sie mit ebenso zweckdienlichen Interpretationen in ein Geflecht wissenschaftlicher ‚Objektivität‘ zu überführen, gilt nach wie vor. Die Geschichte, die derzeit an den Universitäten betrieben wird, hat sich enorm aufgefächert, ist aufgegliedert in zahlreiche, zum Teil konfligierende Departements. Das Spezialistentum beherrscht die akademische Szenerie. An Ranke hingegen kann man studieren, mit welch stupender Gelehrsamkeit die allgemeinen, nicht auf eine Region, einen Ort oder eine Nation beschränkten Entwicklungen sich erfassen und zu großen, gleichsam globalhistorischen Würfen sich ausgestalten lassen. Das war das Besondere an Ranke, das seine Schriften zu „Klassikern“ und, verfasst mit literarischem Ehrgeiz, zu Lieblingen des bürgerlichen Lesepublikums erhob. Dies eindringlich, mit neuem Material und neuen Schwerpunkten herauspräpariert zu haben, macht Heinz Duchhardts Buch seinerseits zu einem ‚Klassiker‘ über die Historiographie des 19. Jahrhunderts.
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