Flüchtiges festhalten

Svetlana Efimova analysiert literarische Notizbücher von Lev Tolstoj, Thomas Mann, Bertolt Brecht und Vladimir Majakovskij

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man sieht sie derzeit wieder öfter: Handliche, kleine Notizbücher, in denen Menschen unterwegs ihre Gedanken und Geistesblitze niederschreiben oder auch bloß alltägliche Informationen wie Telefonnummern, Adressen oder noch zu Erledigendes notieren. Wenn der Eindruck nicht täuscht, so übt auch in unseren digitalen Zeiten diese klassische Möglichkeit, Flüchtiges – und sei es nur vorläufig ­–­ festhalten zu können, auf viele nach wie vor eine große Faszination aus.

Notizbücher waren und sind auch für literarisch Schreibende oft ein beliebtes Medium, das einen bedeutenden Platz im schöpferischen Prozess einnehmen kann. Gleichwohl werden solche Aufzeichnungen von der literaturwissenschaftlichen Forschung in der Regel eher stiefmütterlich behandelt. Svetlana Efimova, Komparatistin an der Humboldt-Universität zu Berlin, weiß natürlich darum, wenn sie in ihrer Dissertation Schriftsteller-Notizbücher aus der deutschen und der russischen Literatur zum Gegenstand macht. Sie ist unverkennbar bestrebt, die weitreichenden Implikationen dieser besonderen Textsorte aufzuzeigen. Die wichtigste These ihrer Arbeit steckt bereits, wenn auch vorerst ganz diskret, in deren Titel: Efimova versteht ein literarisches Notizbuch nämlich in erster Linie als ein „Denkmedium“, als ein „permanentes Reflexionsmedium der eigenen Arbeit“ des Schriftstellers. Später formuliert die Autorin diesen Gedanken aus: „Meiner Arbeit liegt die These zugrunde, dass Notizbücher diverse kognitive Prozesse stimulieren und intensivieren sowie in einem Wechselverhältnis zum fragmentarischen und nichtsystematischen Denkcharakter stehen.“

Das mag vorerst noch recht allgemein und auch wenig spektakulär klingen. Doch schon bald gelangt die Forscherin zu einer Definition des Notizbuchs, die ihr als Rahmen für die dann folgenden detaillierten Analysen dient. Efimova zufolge weisen Notizbücher vier ausschlaggebende Eigenschaften auf: „Sie sind (1) funktionell gedächtnisstützend und (2) materiell portabel, sie (3) organisieren strukturell einzelne disparate Informationsstücke in eine Sammlung (im Unterschied etwa zu losen Blättern) und sie dürfen / können (4) formell und inhaltlich heterogen sein.“ Efimova fügt freilich hinzu, dass es sich hierbei um einen Prototyp handele, dem einzelne konkrete Notizbücher in unterschiedlichem Grad entsprechen können.

Als Basis für ihre Untersuchungen hat Efimova ein ansehnliches Textkorpus aus dem Zeitraum von etwa 1855 bis 1950 gewählt: Es sind dies ca. fünfzig Notizbücher von Lev Tolstoj, vierzehn von Thomas Mann, ungefähr fünfzig von Bertolt Brecht (die nur teilweise veröffentlicht sind) und zweiundsiebzig bisher nicht publizierte Notizbücher von Vladimir Majakovskij. In insgesamt 15 Kapiteln sowie einem Schlusswort geht die Autorin verschiedenen Aspekten ihres Themas nach: Auf einen Forschungsbericht folgt ein kurzer Blick zurück in die Geschichte, der bis in die Antike führt. Anschließend klopft Efimova die literarischen Notizbücher gewissermaßen auf ihren Charakter hin ab: auf ihre materiellen, medialen, schreibprozessualen, kognitiven und autorschaftsstiftenden Eigenschaften. Je nach Schwerpunkt, den sie in einem gegebenen Kapitel setzt, nimmt die Verfasserin die erwähnten vier Autoren mehr oder weniger intensiv in den Blick. Dabei entdeckt sie viele Gemeinsamkeiten wie auch einige Unterschiede. Selbst graphische und visuelle Elemente interessieren sie dabei.

Besonders fruchtbar sind Efimovas Überlegungen dort, wo sie in den Notizbüchern eine Protoform bestimmter literarischer Techniken wie etwa dem Bewusstseinsstrom, der inneren Rede oder der Fragmentarität, aber auch von Gattungen wie dem Aphorismus bzw. Aphorismensammlungen erblickt. Letztendlich ist es der Autorin darum zu tun, das Schriftsteller-Notizbuch von anderen (nicht literarischen) Notizbüchern, aber auch von anderen literarischen Texten abzugrenzen. Demnach befindet es sich in einer Art Zwischenraum, wo die Grenzen verschwimmen und schließlich ein Schreiben „außerhalb jeder Form“ (Lev Tolstoj) möglich wird.

Die Stärken von Svetlana Efimovas Arbeit liegen vor allen Dingen im Materialreichtum, im wahrhaft komparatistischen Zugang sowie in den zahlreichen präzisen, wertvollen Einzelbeobachtungen, die aus ihren Analysen resultieren. Die Autorin überblickt ein weites Korpus an Texten, das nicht bei den vier „Titanen“ der Weltliteratur haltmacht, sondern zum Vergleich immer wieder auch andere Autoren hinzuzieht. Diese vertreten dann nicht nur die deutsche und die russische Literatur, sondern auch die französische oder die englische.

Efimova hat vier gewichtige und repräsentative Figuren der Weltliteratur ins Zentrum ihrer Untersuchung gestellt, sodass man eine Begründung dieser Auswahl vielleicht nicht unbedingt erwartet. Gleichwohl hätte man ein paar Bemerkungen darüber gewünscht, warum etwa andere Autoren nicht berücksichtigt wurden. Betreffend die russische Literatur denkt man hier unter Umständen an Anna Achmatova, deren Notizbücher noch nicht sehr lange zugänglich und vor allem noch relativ wenig erforscht sind. Überhaupt sind Frauen kaum Thema dieser Arbeit. Auch kommt Vladimir Majakovskij aus nicht ganz ersichtlichen Gründen in den Analysen gegenüber den anderen drei Schriftstellern etwas zu kurz. Das umfangreiche von Efimova verarbeitete Material könnte theoretisch dazu führen, dass die Lesenden den Überblick verlieren. Allerdings gelingt es Efimova, den roten Faden durch die ganze Arbeit durchzuhalten, so dass man selbst bei der gewaltigen Fülle an Beobachtungen und Einsichten immer wieder zum großen Gesamtzusammenhang zurückfindet. Hie und da haben sich zwar ein paar sprachliche Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen, sie beinträchtigen jedoch die Verständlichkeit nicht.

Svetlana Efimovas Untersuchung richtet sich natürlich vornehmlich an ein wissenschaftliches Publikum. Aber auch wer nicht Germanist oder Slavist ist, kann das Buch mit Gewinn lesen. Es liefert Denkanstöße, die über den gegebenen Rahmen hinausweisen und auch andere Fachbereiche befruchten dürften: weitere Philologien, Psychologie, Medienwissenschaften, Ästhetik, ja sogar Graphik und Design. In diesem Sinn zeichnet Efimovas Arbeit aus, was man bei wissenschaftlicher Forschung gerne sieht: Sie beendet eine Debatte nicht etwa, sondern stimuliert sie. Sie liefert neben Ergebnissen auch zur Genüge Anregungen für weitere Untersuchungen. Efimova hat ihre Dissertation in zeitlicher Hinsicht mit dem Jahr 1950 begrenzt – also vor der großen Digitalisierung aller Lebensbereiche. Man hofft also nun auf weitere Forschungsprojekte, die an dieser Stelle anschließen. Svetlana Efimova gibt dafür selber einen Anknüpfungspunkt: Ihrer Ansicht nach kann das Schriftsteller-Notizbuch „zumindest metaphorisch als eine Vorstufe des digitalen Hypertexts bezeichnet werden.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Svetlana Efimova: Das Schriftsteller-Notizbuch als Denkmedium in der russischen und deutschen Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018.
353 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770563043

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