Eine Rakete hat auch Charakter

Vilém Flusser räsoniert in „Vom Stand der Dinge“ über Design als Gestaltungswille und Gestaltungsmacht

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Womöglich das Markenzeichen Vilém Flussers ist seine unorthodoxe Denk- und Mitteilungsart. Die vorliegende Anthologie mit 25 kurzen Texten, alle zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen entstanden und in vier Abteilungen eingeteilt, führt seinen Assoziationsreichtum und das gleichsam olympische Denken vor. In der Regel kommen seine Ausführungen ohne Verweis auf die gängige Sekundärliteratur aus, es doziert eine selbstbewusste Stimme. In der ersten Abteilung („Von Fundamenten“) kommt der Design-Begriff, den Flusser sprach-/philosophisch ausloten will, in drei der sechs Beitragstitel vor. Bei der Freilegung seiner semantischen Wurzel und lexikalischen Verästelungen im ersten Text (Vom Wort Design, Dezember 1990) verblüffen der denotative Spürsinn des Autors und die wortgeschichtlichen Befunde; daneben ist der praktizierte Argumentationsstil, der profund informiert ist (linguistisch, ingenieur- und medientechnisch, politisch, architektur- und kulturhistorisch), jedoch ‚undiszipliniert‘ auch absurde Einsprüche zulässt, charakteristisch für alle Beiträge. Die konkrete Frage, die zur etymologischen Bohrung und dem polyglotten Sprachspiel veranlasst, lautet: Wie konnte das Wort Design zu seiner gegenwärtigen internationalen Bedeutung gelangen? Der auf das Lateinische und Altgriechische zurückgreifende Parcours stößt neben Design auf die Wörter Mechanik, Maschine, Macht und Kunst, betont ihre Filiationen und die Gegenstände und Tätigkeiten, die sie benennen.

Anschließend wird rekonstruiert, wie Design dazu diente, die von der bürgerlichen Kultur in die zwei Bereiche Technik und Kunst geteilte Welt wieder zu einen. „Dies konnte es tun, weil in ihm der innere Zusammenhang zwischen Technik und Kunst zu Wort kommt“ (S. 10). Eingeflochten in diese kühne Herleitung ist Flussers Diktum, des Menschen Befähigung zum Design basiere auf seiner Tendenz zum Betrügen. Denn „das ist das Design, das aller Kultur zugrunde liegt: die Natur dank Technik überlisten, Natürliches durch Künstliches übertreffen und Maschinen bauen, aus denen eine Gott fällt, der wir selbst sind“ (S. 11). Das Eingeständnis am Schluss, der Aufsatz folge „einem ganz spezifischen Design“, um „die listigen und heimtückischen Aspekte im Wort Design“ (S. 12) offenzulegen, wirkt dann wie die gelbe Karte, die Flusser seinen Lesern zeigt: Achtung, hätte der Autor diesem Text ein anderes Design verpasst, hätte das wahrscheinlich zu einer anderen Argumentation geführt und ein anderes Ergebnis hervorgebracht.

In dieser essayistischen Art mit dem Problemaufriss in medias res und seiner zügigen Abhandlung geht es weiter; die Texte sind kurz, keiner länger als sieben Seiten, so bleibt nicht viel Raum für lange Erklärungen. Wer sich für den schmalen Grat zwischen (avancierter) typographischer und Informationsgesellschaft interessiert, wird in Typen und Charaktere (Vortrag Oktober 1991) vielleicht einen neuen Ansatz finden, die mediale Transformation zu interpretieren. Ausgehend von der ambivalenten Unterscheidung in Wertfreies, Wertvolles und Wertloses differenziert Flusser zwischen „Typ“ (meint Spur) „Prototyp“ (Urspur) und „Stereotyp“ (Starrspur), und in Verlängerung zwischen „Charakter“ und „Clone“. Die Volte des Gedankengangs liegt in der Übertragung der Qualitäten Einmaligkeit (Typ, Charakter, Prototyp = wertvoll) und unendlich viele Gleiche (Stereotypen und Clones = wertlos) aus dem medialen Zusammenhang (das Typographeum sorgt für die identische Vervielfältigung von einmaligen, einzigartigen Typen/Charakteren und hebt damit ihre Einmaligkeit und Einzigartigkeit aufs Effektivste auf) auf den gesellschaftlichen Lebensbereich. Selbst die aufmerksamsten und kritischsten Typographen können nicht verhindern, dass die Maschinen (Computer) aus auf Einzigartigkeit getrimmte Typen „heimtückischerweise stereotype Prototypen machen“ (S. 25). So erweise sich der Mensch als Designer in seinem Drang, der Welt Gestalt zu verleihen und die Natur nach seiner Vorstellung zu formen, als wahrer „Hexenmeister“ (S. 19).

In Der Krieg und der Stand der Dinge (März 1991), der die zweite Abteilung  „Zum Stand der Dinge“ einleitet, erinnert Flusser angesichts des Zweiten Golfkriegs (16./17. Januar bis 5. März 1991) an die kategorische Verbindung von Krieg und Design: Krieg befördert progressive Verbesserungen des Designs vieler Dinge maßgeblich und nachweislich. Statt gegen diese (aus Sicht des Friedensbefürworters) unschöne Tatsache zu eifern, sie aber auch keineswegs gutzuheißen (Flussers Biografie bezeugt seine Ablehnung von Krieg, Hass, Gewalt und Unterdrückung), polemisiert er dennoch gegen Menschen, die meinen, der Verzicht auf gutes Design und die Hinnahme schlechten Designs in Friedenszeiten könnten Krieg verhindern. Sobald etwas designt wird, strebt es automatisch nach Vervollkommnung. Damit ist jeder Design-Entwurf potentiell korrumpierbar.

Wer sich entschlossen hat, Designer zu werden, der hat sich gegen die reine Güte entschieden. Er mag dies bemänteln, wie er will (etwa ablehnen, Raketen zu entwerfen, und sich darauf beschränken, Friedenstauben zu entwerfen). Wenn also ein Designer behauptet, er entwerfe nur jene Objekte, die seiner Vorstellung von der reinen Güte entsprechen, dann ist er im Irrtum“ (S. 41).

Das Gesagte verdeutlicht die verzwickte Tatsache, dass der Verzicht auf funktionales, gutes Design dessen prinzipiellen Missbrauch zu Kriegszwecken nicht verhindern kann. So plädiert Flusser dafür, sich dieser Aporie bewusst zu sein und angemessen zu handeln: Der Mensch, vergleichbar dem Prometheus, möge sich mit seiner Schöpfer- und Gestaltkraft zurückhalten, denn „vielleicht wetzen sich schon einige Vögel die Schnäbel, um an unseren Lebern zu picken“. (S. 19) Fast alle Artikel, auch aus den beiden anderen Abteilungen „Gebilde und Gebäude“ und „Über den Horizont hinaus“, könnten herausgegriffen werden, weil sich auch in ihnen anregende Beobachtungen und Deutungen wie steile Thesen und prompte Schlussfolgerungen finden.

Fabian Wurms Nachwort (die vorliegende vierte Auflage erweitert die Erstausgabe von 1993 um mehrere Beiträge) ist auf jeden Fall zu konsultieren. Erstens um zu verstehen, in welchem Kontext Flussers Nachdenken über Design und die Konsequenzen von Gestaltungswille und Gestaltungsmacht, das Gegen- und Miteinander von Menschen und Maschinen, Alltagsdinge wie Auto, Kabel, Hebel, Zelte aber auch Unterseeboot sowie Phänomene wie Türen (als Mauerlöcher zum Ein- und Ausgehen) oder das häusliche Dach (unter dem die Gesetze einer Gesellschaft nur mit Reserven gelten) steht. Wurm kennt die Hintergründe, er berichtet u.a., wie Flusser Ende der 1980er Jahre in die deutsche Designszene stieß und dort Grundlegendes äußerte: Design gebe zwar vor, Probleme des Alltags zu lösen, doch schaffe es immer wieder neue „Hindernisse zum Abräumen von Hindernissen“ (S. 142). Das erinnert an Marshall McLuhan, der meinte, Computer helfen Probleme zu lösen, die sie zuallererst schaffen. Zweitens lässt sich das, was die Kurzprosa Flussers ausmacht und welche Motive zu seinem Standardrepertoire gehören, kaum treffender als mit Wurm formulieren: es gehe um „Momentaufnahmen zwischen Science und Fiction, zwischen Proxemik und Distanz“, präsentiert würden „Szenarien wider den Strich“, in denen Flusser den designten Alltag analysiert (S. 147). In jenem lösen die computergenerierten Bilder allmählich die Schrift als dominantes Medium ab und läuten das Ende einer diskursiv strukturierten Geschichte ein.

Flusser regt dazu an, Kultur als ein globales Netzwerk von Informationen zu verstehen, in dem sich seit dem flächendeckenden Einsatz des Personalcomputers ein gewaltiger medialer und epistemischer Wandel vollzieht: Text und Schrift, die Jahrhunderte lang als semiologische Mittler unser Welt- und Selbstverständnis organisiert haben, treten zugunsten technischer Bilder zurück. Vor diesem Hintergrund stellt Flusser die Kernfrage, welche Auswirkungen dieser Wandel auf die menschliche Wahrnehmung und die zwischenmenschlichen Kommunikationsformen hat und grundsätzlich das Menschsein prägen wird. In einer Welt von Spannungen zwischen Staaten und Bevölkerungsgruppen wird der Dialog immer wichtiger, wie ihn effektvoll das Internet ermöglichen kann, so Flussers Meinung. Als Universitätslehrer, zumindest in seinen späten Jahren, scheint es ihm persönlich allerdings schwer gefallen zu sein, einen Dialog auf Augenhöhe zu praktizieren; er habe wie ein „autoritärer Sack“ agiert und keinen Widerspruch zugelassen, so der Siegener Medienwissenschaftlicher Rainer Leschke in seiner Erinnerung an Flussers Gastvorlesungen an der Ruhr-Universität Bochum 1991 (Radiofeature auf SWR2 Wissen: Vilém Flusser: Die Gefahren digitaler Kommunikation, von Michael Reitz, Sendung am Freitag, 4. Januar 2019, 08:30 Uhr, Manuskript)

Den Spagat zwischen theoretischer Einsicht und praktischer Einlösung zu meistern, vor dieser Schwierigkeit war auch Vilém Flusser nicht gefeit. Der buchgestalterisch gediegene Band (graues Leinen; auf dem Umschlag ein Tondo mit dem verschmitzten Antlitz des weißbärtigen Philosophen; cremefarbiges Papier mit schwarzen Trennblättern zwischen den Abteilungen) bietet die Einsichten und Überzeugungen eines scharfen Beobachters der Verkehrsformen der Menschen. Dass die Anthologie unter dem Impressum L.S.D. erscheint (Kürzel des Lagerfeld. Steidl. Druckerei. Verlags), könnte passender nicht sein, denn halluzinatorische Lektüre-Effekte sind nicht ausgeschlossen.

Titelbild

Vilém Flusser: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Fabian Wurm.
Steidl Verlag, Göttingen 2019.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783958292147

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