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Die Neuauflage der Edition des „Tower Fechtbuchs“ von Jeffrey L. Forgeng gewährt Einblicke in den Umgang mit Schwert und Buckler im Mittelalter

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Herausgeber des vorliegenden Werkes Jeffrey L. Forgeng ist ausgewiesener Experte für die mittelalterliche Kampfkunst sowie mittelalterliche Waffen und Rüstungen. Mit dem Tower Fechtbuch hat er sich das erste Mal bereits 1992 beschäftigt. Resultierend aus dieser Arbeit sind in den Jahren 2003 und 2013 bereits zwei Editionen zu diesem Fechtbuch erschienen. In der vorliegenden neuen Edition möchte der Autor seine mehr als ein Vierteljahrhundert umspannenden Erfahrungen mit der mittelalterlichen Kampfkunst mit neuer Forschung untermauern und auf diese Weise auch die eigenen Gedanken und Annahmen zu diesem frühesten in Europa überlieferten Fechtbuch kritisch hinterfragen.

Die vorliegende Handschrift ist unter verschiedenen Namen bekannt. Zum einen als Signatur I.33, unter der sie in den Royal Armouries, dem Museum für Waffen und Rüstungen, in London liegt. Von diesem Aufbewahrungsort im Tower of London leitet sich auch die zweite Bezeichnung der Handschrift als Tower Fechtbuch ab. Darüber hinaus sind die Namen Luitger Fechtbuch nach dem vermeintlichen Verfasser der Handschrift sowie Walpurgis Fechtbuch etabliert. Der letzte Name für die Handschrift ist umso erstaunlicher, da die Figur der Walpurgis, die am Ende der Handschrift die Rolle des Schülers einnimmt, nur auf einem einzigen Blatt zu sehen ist. Diese Figur gibt der Forschung nach wie vor Rätsel auf. Bei der kämpfenden Frau könnte es sich um eine Wohltäterin des Autors gehandelt haben, die als Ehrung ihren Weg in die Handschrift gefunden hat. Alternativ könnte es jedoch auch eine tatsächliche Schülerin oder ein gänzlich fiktiver Charakter gewesen sein.

Das Fechtbuch ist in Deutschland im frühen 14. Jahrhundert entstanden, darauf verweisen der Kunststil und die dargestellte Kleidung der Figuren. Somit ist die Handschrift das älteste in Europa erhaltene Exemplar einer technischen Abhandlung zur Kampfkunst. Aus diesem Grund unterscheidet sie sich auch in einigen Aspekten von den zahlreich überlieferten Fechtbüchern des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Insbesondere die Waffenkombination von Schwert und dem kleinen als Buckler bezeichneten Faustschild ist in anderen Fechtbüchern nur selten anzutreffen. Die Benutzer dieser Waffengattung waren meist Kombattanten in einem zivilen Setting ohne Rüstung. Es handelte sich somit nicht um die typische Kampftechnik der aristokratischen Kriegerklasse, sondern war mehr auf die persönliche Verteidigung oder den Wettkampfsport ausgerichtet. In den Fechtbüchern des 15. Jahrhunderts standen zumeist Techniken mit dem Langschwert (Anderthalbhänder) für den gerüsteten Kampf oder das Ringen im Fokus. Einige Übereinstimmungen gibt es allerdings mit Handschriften aus dem 16. Jahrhundert, in denen ebenfalls Schwert- und Bucklersequenzen zu finden sind. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts kam die Verwendung von Schwert und Buckler jedoch vollkommen aus der Mode.

Das Tower Fechtbuch zeichnet sich vor allem durch die mehr als hundert farbigen Tuschezeichnungen aus. Auf 32 beidseitig beschriebenen Pergamentblättern sind mehr als 36 Kampfsequenzen dargestellt, die sich jeweils aus bis zu sechs Szenen zusammensetzen. Begleitet werden die Abbildungen von kurzen Prosatexten in lateinischer Sprache. Stellenweise fließen auch Merkverse sowie deutsche zeitgenössische Fachbegriffe wie halpschilt oder langort in den Text ein. Bild und Text sind eng miteinander verschränkt und ermöglichen erst in Kombination das Verständnis der dargestellten Kampftechniken. An dieser Stelle werden laut Forgeng die pädagogischen Grenzen des Mediums Buch erkennbar. Es mussten Vorkenntnisse zum Thema vorhanden sein, um die Darstellungen und die Beschreibung richtig interpretieren und in eine tatsächliche Kampfhandlung umsetzen zu können. Grundlagen wie Haltung oder Beinarbeit sind aus dem Buch beispielsweise nicht zu lernen. Ohnehin dienten mittelalterliche Fechtbücher meist eher als eine Art Gedächtnisstütze für den Lehrer und weniger als didaktisches Werk, an dem sich ein Schüler eins zu eins orientieren konnte.

Vermutlich waren an der Anfertigung der Handschrift mehrere Hände und Künstler beteiligt, bei einer Hand könnte es sich um den im Text selbst genannten Autor Luitger handeln. Die Bilder fungieren in der Handschrift als Hauptbedeutungsträger. Forgeng beschreibt die Illustrationen als lebendig und energisch, fast schon filmisch anmutend. Für ihn stellt gerade diese Darstellung von verschiedenen Bewegungsmustern eine der größten künstlerischen Herausforderungen für die mittelalterlichen Handschriftenproduzenten dar.

Auf den ersten Blick wirken die Illustrationen zuweilen eigenartig und kontraintuitiv, sodass dem mittelalterlichen Autor von Teilen der Forschung sogar Unfähigkeit und fehlende Kenntnisse der Kampftechnik unterstellt wurden. Die Bilder der Handschrift müssen jedoch im Rahmen der künstlerischen Konventionen des Mittelalters gedeutet werden und dürfen nicht als fotografische Repräsentation der physischen Realität missverstanden werden. Insbesondere die Darstellungen von dreidimensionalen Handlungen stellten mittelalterliche Künstler vor einige Schwierigkeiten. Auf diese Weise entstehen für das moderne Auge einige irritierende Darstellungen, da beispielsweise die Schwertklinge immer parallel zur Papieroberfläche dargestellt ist, um das Problem der perspektivischen Verkürzungen zu umgehen, auch wenn die Klingen in der Realität in einem anderen Winkel aufeinandertreffen würden. Doch trotz dieser rein zweidimensionalen Darstellung wirken die Kampfszenen auf den Betrachter sehr lebendig. Darüber hinaus sei es in der mittelalterlichen Kunst nicht ungewöhnlich, chronologisch getrennte Ereignisse in einer Szene zu kombinieren, so Forgeng.

Dargestellt sind in jeder Szene jeweils zwei Kombattanten: der Priester (sacerdos) und der Schüler (scolaris). Aufgrund der Abbildung des Geistlichen wurde von der älteren Forschung lange ein klösterlicher Ursprung der Handschrift vermutet. Allerdings handelt es sich bei dem dargestellten Lehrer nicht um einen Mönch, sondern um einen Priester in einem einfachen körperbedeckenden Gewand, während Mönche zu dieser Zeit in ihrem Ordensgewand dargestellt wurden. Auch bildete die Ausübung der Kampfkunst einen schweren Verstoß gegen die klösterliche Disziplin. Die neuere Forschung geht daher davon aus, dass die Handschrift in einem Kollektiv von Weltgeistlichen in Verbindung mit einer bestimmten Kathedrale entstanden ist. Forgeng vermutet, dass die Ausübung der Kampfkunst bereits in den Kathedralschulen populär war, so wie man es aus späteren Zeiten von den Universitäten kennt, und so verortet er auch den Ursprung des Fechtbuchs als Genre in der Gemeinschaft der geistlichen Kampfkunstadepten.

Zudem betont Forgeng, dass die Handschrift weniger den tatsächlichen Kampf mit Schwert und Buckler lehren sollte, sondern vielmehr die geistige Beschäftigung mit diesem Kampf. Dabei werden Werkzeuge des intellektuellen Denkens und der spätmittelalterlichen Scholastik verwendet, um die Dynamik des Kampfes zu zergliedern. Auf diese Weise werde der chaotische Kampfprozess so weit rationalisiert, dass er der Struktur einer akademischen Disputation ähnele, wenn der Lehrer eine Position einnehme, auf die der Schüler mit einer Gegenposition reagieren müsse. So wogt der Kampf bei ausgeglichenen Kombattanten stetig hin und her, ähnlich dem Austausch von Argumenten in einem Wortgefecht.

Darüber hinaus waren Waffen in der Entstehungszeit der Handschrift nicht nur für den Krieg oder die Selbstverteidigung wichtig, sondern stellten ein bedeutendes Symbol für den Status und sozialen Rang einer Person dar. Nicht jeder konnte und durfte im Mittelalter ein Schwert tragen, und auch das Wissen über Kampftechniken wies einer Person einen bestimmten Status zu. Ein Buch wie das vorliegende Tower Fechtbuch wurde laut Forgeng vermutlich nicht erworben, um darin zu studieren und sich dadurch einen Vorteil bei der nächsten Kampfeshandlung zu verschaffen, sondern um den sozialen Status des Erwerbers in der Gemeinschaft der Kampfkunstkundigen zu stärken.

Der einführende Text zur Edition ist an einigen Stellen sehr fachsprachlich und für Laien oder Personen, die sich mit dem Thema mittelalterlicher Schwertkampf noch nicht intensiv beschäftigt haben, wird der Zugang so deutlich erschwert. Bestimmte Termini sollte man sich vorher anlesen. Als Beispiel sei hier die Beschreibung beziehungsweise Klassifizierung der Schwerter nach der Oakeshott-Klassifikation genannt, die in der vorliegenden Edition nicht näher erläutert wird. Ein gewisses Vorwissen über mittelalterliche Kampfkunst wird demnach vorausgesetzt. Allerdings ist es auch nicht die Intention der Edition, eine Einführung in das Thema zu geben. Hierfür werden im Anhang zahlreiche Literaturangaben geliefert, in denen der Leser bei Interesse weitere deutsch- sowie fremdsprachige Literatur zum Thema finden kann.

Der Editionsteil selbst ist sehr ansprechend und übersichtlich aufgebaut. Auf einer Doppelseite befindet sich jeweils die Replikation einer Seite der Handschrift sowie der transkribierte lateinische Text in roter Schrift mit der dazugehörigen deutschen Übersetzung. Auf diese Weise können Text und Bild sehr gut direkt gegenübergestellt werden. Ein noch ausführlicherer Kommentar der Handschrift wäre stellenweise wünschenswert gewesen, da sich der Text nicht immer auf Anhieb von selbst erschließen lässt.

Am Ende der Edition befindet sich ein kleines Glossar mit lateinischen und deutschen Wörtern. Darin werden unter anderem relevante zeitgenössische Wörter wie langort oder schiltslach erklärt. Gerne hätte das Glossar jedoch für einen weniger in der Materie beheimateten Leser noch ausführlicher sein und weitere Grundlagenbegriffe der mittelalterlichen Schwertkunst abdecken können.

Resümierend urteilt Forgeng: „Kurz, wir erkennen in I.33 das Werk eines gebildeten und klugen Autors von bemerkenswertem Einfallsreichtum, der beträchtliche Zeit und Mühe auf die Darbietung eines Themas verwandt hat, für das er offenbar eine große persönliche Leidenschaft hegte.“ Diese Leidenschaft und Faszination des Autors für den Kampf mit Schwert und Buckler lässt sich durch die vorliegende Edition auch für den modernen Leser nachempfinden, dem so ein wichtiger Bereich der mittelalterlichen Literatur erschlossen wird, der in der Mediävistik immer noch ein eher unscheinbares Nischendasein fristet.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Jeffrey L. Forgeng: Das Tower Fechtbuch. Ein Meisterwerk der mittelalterlichen Kampfkunst.
Aus dem Englischen von Gisella M. Vorderobermeier.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2021.
176 Seiten, 62,50 EUR.
ISBN-13: 9783534272396

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