Franz Kafka, der große Unvollendete
Hundert Jahre nach seinem Tod
Von Dieter Lamping
Franz Kafka ist ein moderner Klassiker und das auch im klassischen, von Horaz definierten Sinn. Hundert Jahre nach seinem Tod gilt er als einer der großen Erzähler des frühen 20. Jahrhunderts, zusammen vor allem mit Marcel Proust, James Joyce, auch Thomas Mann. Doch dass er sich in dieser Reihe etwas fremd ausnimmt, liegt nicht nur an seinem vergleichsweise schmalen Œuvre. Es fehlt in ihm auch das eine große Werk, das man als Meisterstück seines Verfassers ansehen könnte. Selbst die beiden Romane, die Kafka berühmt gemacht haben, Der Prozeß und Das Schloß, sind, wie so vieles, was er anfing, unvollendet geblieben.
Kafka hatte nicht viel Zeit. Nicht viel Lebenszeit, weil er, lange krank, noch vor seinem 41. Geburtstag gestorben ist, aber auch nicht viel Arbeitszeit. Er war nie freier Schriftsteller wie etwa Thomas Mann, der sich ganz der literarischen Arbeit widmen konnte. Und anders als Proust, der schreiben konnte, ohne vom Schreiben leben zu müssen, war er immer darauf angewiesen, seinen bescheidenen Lebensunterhalt in einem bürgerlichen Beruf zu verdienen, als Jurist einer Versicherungsgesellschaft. Schreiben konnte er nur in seiner freien Zeit, nach Büroschluss, am Wochenende oder im Urlaub.
Als Kafka, zwei Jahre vor seinem Tod, vorzeitig pensioniert wurde, hoffte er, nun mehr Zeit zum Schreiben zu haben. Aber er war bereits todkrank, zu schwach für ein großes Werk. Es gelang ihm nicht mehr, Das Schloß zu vollenden, das er sich gleich wieder vorgenommen hatte. In den beiden folgenden Jahren, 1923 und 1924, schrieb er nur noch kürzere Erzählungen. Sein zu Lebzeiten veröffentlichtes Œuvre bestand am Ende aus sieben schmalen Erzählungsbänden, von denen sich keiner gut verkaufte. Auf den großen Roman hoffte sein Verleger Kurt Wolff bis zuletzt vergeblich.
Franz Kafka ist der Unfertige unter den großen Erzählern der Moderne. Sein Werk konnte er nicht vollenden, es bricht durch seinen frühen Tod nur ab. Nicht einmal seinen letzten Erzählungsband Ein Hungerkünstler hat er noch bis zum Erscheinen begleiten können. Groß ist die Zahl der Fragmente, der bloß angefangenen, aber nicht abgeschlossenen Texte, die er hinterlassen hat.
Dennoch ist sein erzählerisches Werk unverwechselbar. Er war weder ein bürgerlicher Realist wie Thomas Mann noch ein fein zergliedernder Psychologe wie Proust, auch kein Sprachexperimentierer wie Joyce. Kafka ist einer der großen nicht-realistischen Erzähler des 20. Jahrhunderts, dem bald andere Schriftsteller wie Jorge Luis Borges, Gabriel García Márquez und Milan Kundera gefolgt sind.
Es sind vor allem Geschichten wie Die Verwandlung, In der Strafkolonie oder Ein Landarzt, die ihm viel Verehrung eingetragen haben. Sie zeigen ihn als einen lakonischen, ja listigen Erzähler, der durchweg aus der Perspektive seiner meist unsicheren oder verunsicherten Figuren von einer oft unheimlichen Welt erzählt, die sie nicht verstehen. Weitgehend unbeteiligt, wie er es bei Gustave Flaubert gelernt hat, lässt der Erzähler sie scheitern, nicht ohne ihrem Schicksal auch komische Seiten abzugewinnen. Dem Leser hilft er nicht bei seinen Deutungsversuchen. Kafkas Erzählungen zeichnen sich durch eine Offenheit aus, die einen Leser verunsichern, ihn aber auch anziehen, geradezu ansaugen und zu eigenem Nachdenken anspornen kann.
Kafka war ein skrupulöser Künstler, der hohe Ansprüche an sich stellte. Von allem, was er geschrieben hat, gab er nur wenig aus der Hand, von dem, was er veröffentlicht hat, ließ er am Ende noch weniger gelten. Sein eigenes Urteil war streng. An Max Brod schrieb er: „Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler“. Das Urteil der Nachwelt ist fast so eindeutig wie das des Autors – nur geradezu entgegengesetzt. Sie hat vor allem die von ihm in seiner letztwilligen Verfügung nicht einmal erwähnten Romane geschätzt.
Für Kafkas Erzählungen spricht die Vielfalt nicht nur der Themen, sondern auch der Gattungen und Schreibweisen, die erzählerische Dichte, die Konzision der Sprache und die Prägnanz der Motive. Von der Verwandlung eines Menschen in einen Käfer bis zum Folterapparat, der auf die Haut schreibt; von dem Affen, der keiner mehr sein will, bis zur Maus, die als Sängerin anerkannt werden möchte: Das alles sind Einfälle, die typisch für die traumhafte Einbildungskraft Kafkas sind und zu den unterschiedlichsten Deutungen anregen.
Die Stärken dieses Schriftstellers treten in seinen Erzählungen meist deutlicher und ungeschwächter als in seinen Romanen zutage. Jeder der drei Romane weist konzeptionelle oder kompositorische Mängel auf, die allerdings unterschiedlich groß sind. Das gehört wesentlich zu ihrem Unvollendetsein. Es spricht manches dafür, dass Kafka kürze Formen sicherer zu handhaben wusste. Seine kleinen Texte, die Jürgen Born in dem Band Poseidon und andere kurze Prosa gesammelt hat, haben nichts von ihrer Frische verloren.
In jedem Fall war Kafka ein großer Erzähler: einer, der immer wieder die Fantasie und die Intelligenz seiner Leser herausfordert und sie zwingt, sich wichtigen, nicht zuletzt philosophischen Fragen zu stellen. Mit einer flüchtigen Lektüre ist es da nicht getan. „Kafkas ganze Kunst“, hat Albert Camus geschrieben, „besteht darin, den Leser zum Wiederlesen zu zwingen“. Das vor allem macht ihn zu einem modernen Klassiker.
Literaturhinweis
Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Darmstadt 1992.
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist zuerst erschienen in Dieter Lamping: Orpheus und die Seinen. Essays zu Autoren und Werken der Weltliteratur. Mit Graphiken von Simone Frieling und einer Audio-Lesung von Axel Grube und Dieter Lamping. onomato Verlag, Düsseldorf 2023. S. 119-122. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung auch in literaturkritik.de.