Allein unter Kollegen

In Tana Frenchs Roman „Gefrorener Schrei“ wird aus einem 08/15-Fall die ganz große Herausforderung für eine Polizistin

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine junge Frau wurde ermordet. In ihrem Haus, in dem alles darauf hinweist, dass sie sterben musste, als sie einem von ihr erwarteten Gast die Tür öffnete. Ein für zwei Personen gedeckter Tisch, Kerzen, die romantische Stimmung verbreiten sollten, ein ausgeschalteter Backofen mit einem fertigen Braten, die Gastgeberin herausgeputzt wie eine Puppe. Aislinn Murray hatte alles getan, um Eindruck zu schinden bei dem Mann, der dann offensichtlich zu ihrem Mörder wurde.

Im Dubliner Morddezernat kennt man solche Szenarien. Und nichts spricht anfänglich dagegen, dass es sich diesmal nicht auch um eine jener schnell aufzuklärenden Beziehungstaten handeln soll, für die man nicht unbedingt die besten Detectives in die Spur schicken muss. Ein wenig herumfragen bei Freunden, Nachbarn und Bekannten. Ein wenig recherchieren in den sozialen Netzwerken. Laptop und Smartphone nach letzten E-Mails, Posts, SMS und Telefongesprächen durchsuchen. Und schon bleibt dem Täter nichts weiter übrig, als zu gestehen.

Ein 08/15-Fall also, etwa für Abteilungsfrischlinge, die sich noch zu bewähren haben. Und so wird ein Gespann mit der Sache betraut, das die Leser von Tana French bereits aus dem Vorgängerroman Geheimer Ort (2014) kennen: Antoinette Conway und Stephen Moran. Sie das enfant terrible der Mordkommission, einzige Frau und keine reine Irin, von den Kollegen gemobbt, allein lebend, misstrauisch und hart, ja manchmal ungerecht. Er ein wenig älter, der good cop des Duos, ohne Arg seiner Kollegin gegenüber und immer voller Ideen, die nicht selten auch in die Irre führen.

Den beiden noch relativ unerfahrenen Detectives, die erst seit vier Monaten ein Team bilden, einen ausgebufften Kriminalisten an die Seite zu stellen, der dafür zu sorgen hat, dass nicht zu viel Zeit und Kraft mit dem schlichten Fall verplempert wird, scheint dem Leiter des Morddezernats deshalb eine gute Idee. Also gesellt sich mit Breslin ein smarter, redegewandter und von sich selbst mehr als überzeugter Dritter zu den beiden. Er ist Conway auch deshalb nicht ganz unsympathisch, weil er sich an den fiesen Scherzen, mit denen man sie aus der reinen Männerwelt der um die 20 Polizisten zählenden Abteilung hinauszuekeln versucht, offfensichtlich genauso wenig beteiligt wie sein Kollege McCann, mit dem er normalerweise zusammenarbeitet.

Tana Frenchs Romane kommen von jeher ohne blutrünstige Szenen, Verfolgungsjagden und wilde Schießereien aus. Das Markenzeichen der inzwischen weltweit geschätzten irischen Autorin, die vor ihrer Schriftstellerkarriere am Dubliner Trinity College Schauspiel studiert und einige Zeit für Film, Fernsehen und Theater gearbeitet hat, ist die psychologische Durchdringung ihrer Fälle. Atemberaubende, über Dutzende von Seiten sich hinziehende Verhöre – wie man lesen konnte, hat French sich die Verhörtechnik von einem Ex-Polizisten beibringen lassen, indem sie selbst die Verdächtige spielte – stellen auch diesmal die Höhepunkte des Buches dar. Es sind Duelle, in denen oft die Unterschiede zwischen Gut und Böse verschwimmen, Lüge und Wahrheit im zähen Clinch miteinander liegen und die Verhörenden sich verausgaben bis zur Erschöpfung.

Dass der Mord an Aislinn Murray nicht so schnell aufzuklären sein wird, wie das anfangs zu erwarten war, wird Conway und Moran allerdings nur allzubald klar. Denn zu viele Ungereimtheiten scheinen im Spiel zu sein. Obwohl man den Mann, mit dem die Tote an jenem Abend verabredet war, schnell identifiziert hat und jener Rory Fallon auch eine Menge dafür tut, sich im Verhör verdächtig zu machen, traut ihm keiner der beiden Ermittelnden eine so brutale Tat zu. Außerdem scheint auch die beste Freundin des Opfers mit Dingen zurückzuhalten, die – das ahnen die Polizisten – von erheblicher Bedeutung für die Ermittlungen sein könnten.

Am schwersten freilich wiegt der Widerstand aus den eigenen Reihen. Obwohl Antoinette Conway inzwischen daran gewöhnt ist, von Seiten der meisten Kollegen mit zum Teil üblen Scherzen attackiert zu werden, macht es sie dennoch nachdenklich, dass für den erfahrenen Breslin der Fall schon nach wenigen Tagen klar zu sein scheint und er auf dessen Abschluss drängt. Misstrauisch – gelegentlich auch denen gegenüber, die nur ihr Bestes wollen – beginnt  sie ihre Aufmerksamkeit der Frage zuzuwenden, welches Interesse ihr Kollege daran haben könnte, die Ermittlungen an dem Fall abzuschließen und die Schuld einem Mann zuzuweisen, den in ihren Augen nur ein unglücklicher Zufall zum Verdächtigen gemacht hat. Und plötzlich stehen Polizisten gegen Polizisten, erfahrene Verhörspezialisten gegen erfahrene Verhörspezialisten.

Dass die Lösung des Falls zudem viel mit ihrer eigenen Vergangenheit zu tun hat, ahnt Frenchs Protagonistin aber noch nicht, als sie sich Stück für Stück der Wahrheit nähert. Für aufmerksame Leser allerdings hat die Autorin bereits in dem knapp dreiseitigen Prolog des Romans, der uns Antoinette Conway im Alter von 13 Jahren vorstellt, eine Spur gelegt, die letzten Endes auch zur Aufklärung des Mordes an Aislinn Murray und der Genese dieses Verbrechens führt.        

Tana French war von ihrem ersten Auftreten als Autorin – 2007 erschien mit In the Woods, auf Deutsch unter dem Titel Grabesgrün 2008, ihr Debütroman – eine der aufregendsten, stilistisch brillantesten und psychologisch überzeugendsten Kriminalschriftstellerinnen unserer Zeit. Mit ihrem fünften Roman – Geheimer Ort (2014) – erreichte sie noch einmal ein neues Level ihrer Kunst des spannungsgeladenen, realitätsnahen und gesellschaftlich relevanten Polizeiromans. Auf dem behauptet sich ihr aktueller Dublin-Krimi Gefrorener Schrei nun souverän. 

Titelbild

Tana French: Gefrorener Schrei. Roman.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
656 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783651024472

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