Ein großer Roman, in dem auch ein Verbrechen geschieht
Tana French und ihr Meisterwerk „Der Sucher“
Von Jochen Vogt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor einigen Jahren schon, als eben ihr siebter Roman erschienen war, bekannte Tana French, die irische Autorin, die sonst nicht zu rabiaten Äußerungen neigt, im Gespräch mit Marcus Müntefering vom Spiegel, sie wolle die „Mauer“ zwischen dem Kriminalroman und der (sogenannten großen) Literatur „einreißen“, ja „pulverisieren“. Seit 2007 hatte sie ein halbes Dutzend erstklassiger Krimis verfasst, in denen verschiedene Detectives (m/w) der Dublin Murder Squad, also der Mordkommission ermitteln und die jeweils andere Milieus, soziale Probleme und historische Phasen der jüngeren und jüngsten Geschichte Irlands in den Blick rücken. Und meist sind es (auch) die Probleme von Jugendlichen, die dabei zur Sprache kommen.
Aber schon in jenem siebten Roman (deutsch: Der dunkle Garten, 2018) hat sie sich von ihrem Modell gelöst und durch den Rückgriff auf den klassischen Familienroman, der in der englischsprachigen Literatur ja eine wichtige Rolle spielte, noch mehr thematische Breite und psychologische Tiefe gewonnen. Schon damals gab es übrigens Stimmen in der Leserschaft wie in der Literaturkritik, die French für die beste Krimiautorin weltweit hielten. Und nun? Der deutsche Titel des neuen Romans kann zunächst irritieren, weil Der Sucher an ein optisches Instrument denken lässt. Nicht so im Original: The Searcher erinnert vor allem an den Western The Searchers von John Ford aus dem Jahr 1956 (deutsch: Der schwarze Falke), den viele Kritiker sogar für den besten Film aller Zeiten halten. Darin muss John Wayne es bekanntlich mit den bösen Komantschen aufnehmen, die seine Nichte entführt haben. Cal Hooper, der Ex-Detective der Chicago Police, hat es dagegen mit der doppelbödigen Freundlichkeit der Einheimischen in einem Dorf im irischen Westen, irgendwo zwischen Galway und Sligo zu tun. Ausgezehrt von dreißig Dienstjahren auf den Straßen der „windy city“ und verlassen von seiner unternehmungslustigen Frau, renoviert er jetzt ein verlassenes Cottage und hofft auf einen Neuanfang für sich allein. Man kann ihn wohl einen Lebenssinn-Sucher nennen, diesen Westernhelden im gälischen Dorf, auch wenn er den typischen Henry-Stutzen vorerst nur zur Kaninchenjagd anlegt. (Deutsche Leser, besonders älteren Kalibers, kennen den natürlich noch von Old Shatterhand.)
Aber dann kommt etwas auf ihn zu, was er weder gesucht hat noch brauchen kann, nämlich ein „Fall“. Trey ist zwölf oder dreizehn, lebt mit ihrer Familie am Rande der Verwahrlosung und verzweifelt fast, weil ihr großer Bruder Brendan, ihr einziger Halt und Helfer, spurlos verschwunden ist. Nur widerwillig und heimlich beginnt Cal zu „ermitteln“, stößt auf eine Mauer des Schweigens, auf Irreführung und deftige Warnungen, von irischer Jovialität nur notdürftig übertüncht. So schlittert er in einen heimlichen Machtkampf mit dem Nachbarn Mart, dem obersten Strippenzieher im Dorf, und sogar in einen regelrechten Showdown, in dem dann auch der Henry-Stutzen seine Funktionstüchtigkeit erweisen muss.
Das führt keineswegs zu einem guten, aber doch zu einem halbwegs erträglichen und tröstlichen Ende, das den Seelenfrieden und Lebensmut des jungen Mädchens retten dürfte. Dass der gutmütige Cal, immerhin Vater einer erwachsenen Tochter, die kleine Trey – für Teresa – über 300 Seiten lang für einen Jungen hält, ist ein ironisches Motiv und Beispiel dafür, wie French die Story, in der es wie in aller großen Literatur um Schuld und Vergeltung (oder Vergebung?) geht, lebensnah, nuancenreich, tiefgründig und manchmal auch amüsant macht. Sie steht auf einem Niveau mit den großen Meistern realistischen Erzählens im späten 19. und im 20. Jahrhundert – am ehesten wäre wohl an Henry James zu denken –, ihr psychologischer Blick hat so gar nichts Lehrbuchhaftes wie bei manchen ihrer heutigen Kolleg/inn/en; vielleicht sollte man dafür eher den ehrwürdigen Begriff der „Erfahrungsseelenkunde“ reaktivieren. Die Faszination, die von diesem Buch ausgeht, verdankt sich gleichermaßen der Thematik – es erzählt auch von einer unwahrscheinlichen und „wunderbaren Freundschaft“ – wie auch seiner kompositorischen und stilistischen Qualität. Gleich ob es um die Handlungsführung geht, die simpel beginnt und sich zunehmend verkompliziert – durchweg wird dabei im Präsens erzählt –, oder um die Figurenzeichnung und die Dialoge, oder auch „nur“ um die Beschreibung von Atmosphäre, Natur oder Wetter (niemand hat seit Heinrich Böll vor siebzig Jahren den irischen Regen so eindrucksvoll beschrieben) – all dies ist, kurz gesagt, meisterhaft, im Grunde nobelpreiswürdig. Und wer Irland nur ein wenig kennt, erlebt bei der Lektüre ein Déjà-vu nach dem anderen.
Das englische Original war schon im letzten Jahr auf dem Markt und wurde durchgehend gefeiert – „Ein Meisterwerk in seiner eigenen Liga“ schrieb die Washington Post. Und die New York Times: „Tana French ist eine Klasse für sich. Sie schreibt große Romane, in denen auch Verbrechen geschehen.“ Man kann es kaum besser sagen. Höchstens noch – Frenchs Bemerkungen über die literarische „Mauer“ im Sinn – einen Kalauer riskieren: „The Wall is down. Definitely.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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