Und den Frauen glaubt man nicht…
In ihrem Buch „Epistemische Ungerechtigkeit“ diskutiert Miranda Fricker erkenntnistheoretische und moralische Kosten von Machtgefällen.
Von Gertrud Nunner-Winkler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach römischem Recht durften Frauen nicht als Zeugen vor Gericht aussagen. Es war also eine revolutionäre Botschaft, als Christus den Frauen am Grab den Auftrag gab, seine Auferstehung zu bezeugen. Doch bald etablierte die Kirche sich als hierarchische, männerdominierte Organisation und drängte die Frauen wieder in ihre untergeordneten Rollen zurück. Nun hat die Frauenbewegung zwar in den letzten Jahrzehnten für die Frauen juristische Gleichstellung, politische Mitbestimmung, freie Berufsausübung und Selbstbestimmung über den eigenen Körper erkämpft. Doch der Abbau negativer Stereotype ist lange noch nicht vollendet. Nach wie vor erfahren Frauen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. So etwa berichtet Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht, in ihrem soeben erschienenen Buch Die stille Gewalt von Polizisten, die sich beim Einsatz wegen häuslicher Gewalt nur allzu schnell vom Mann überzeugen lassen, dass die Frau übertreibt, und von Mitarbeitern des Jugendamts, die allzu häufig den Aussagen von Frauen misstrauen. Und die Autorin Elif Batuman schildert in ihrem jüngsten Roman Entweder / Oder, wie schwer es Frauen fiel, zwischen einem unangenehmen One-Night-Stand und einem Date Rape, oder zwischen einer quälenden Beziehung und psychischem Missbrauch begrifflich klar zu unterscheiden.
Erfahrungen dieser Art analysiert die britische Philosophin Miranda Fricker in ihrem bereits 2007 erschienen Buch Epistemische Ungerechtigkeit, das nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie behandelt zwei Problemkomplexe. Einmal geht es um ‚Zeugnisungerechtigkeit‘ – um die Zuschreibung von Unglaubwürdigkeit auf der Basis kategorialer Merkmale. Das betrifft nicht nur Frauen. Auch PoCs oder Angehörigen gering geschätzter ethnischer oder religiöser Minderheiten glaubt man weniger. Zum anderen entwickelt sie ihr Konzept der ‚hermeneutischen Ungerechtigkeit‘. Damit bezeichnet sie Lücken in den alltagsweltlichen Verständigungsmöglichkeiten: Es fehlen kollektiv geteilte Ausdrucksformen, die es erlaubten, persönliche Erfahrungen sich selbst und anderen verständlich zu machen. Fricker erläutert dies an einem Fall sexueller Belästigung am Arbeitsplatz: Eine junge Frau erlebt unangenehme Avancen ihres Chefs. Er kann auf das geteilte Sprachverständnis zurückgreifen und sein Verhalten als harmlosen Flirt, ihre Abwehr als verklemmt deuten. Ihr fehlt ein alltagsweltlich verankertes Deutungsmuster, das ihrer Erfahrung von Hilflosigkeit und Verwirrung einen legitimen Ausdruck verleihen könnte.
Beide Formen von Ungerechtigkeit deutet sie als Folge ungleicher Machtverteilung. So wird einigen kategorial definierten Gruppen (etwa heterosexuellen weißen Männern aus der Oberschicht) automatisch ‚Identitätsmacht‘ unterstellt, anderen (etwa Frauen, PoCs) ebenso selbstverständlich abgesprochen. Auf der Basis solcher (auch vorurteilsbelasteter) Stereotypisierungen schreibt man den einen Kompetenz und Aufrichtigkeit, den anderen Unglaubwürdigkeit zu. Auch haben Mächtige von vorneherein mehr Einfluss auf die Praktiken, die soziale Bedeutungen erzeugen. Daher sind für ihre Erfahrungen alltagssprachlich gebräuchliche Beschreibungen verfügbar. Die Erfahrungen der Machtlosen hingegen bleiben unbeachtet, halbverstandenen, oder gar unaussprechlich.
In dem innovativen Konzept ‚epistemische Ungerechtigkeit‘ verknüpft Fricker erkenntnistheoretische und moralische Aspekte wissensbezogener Verfahren. Aus erkenntnistheoretischer Sicht geht es ihr um den Einfluss von Macht auf unser Denken. Allerdings bezieht sie explizit Position gegen postmoderne Relativisten, die – unter Rekurs auf Foucault – Vernunft vollständig auf Macht reduzieren. Und sie argumentiert gegen rigide Identitätspolitik und die zugrundeliegende Standpoint epistemology. Zwar ist in der Tat alle Erkenntnis sozial situiert. Falsch aber ist die Behauptung, allein Unterdrückte könnten richtige Einsichten gewinnen (nach dem Motto: „Jeder weiße Mann ist ein Rassist“). Vielmehr gilt es klar zwischen gut begründetem und vorurteilsbelastetem Denken zu unterscheiden. Und Letzteres verursacht Kosten: Durch unberechtigte stereotypisierte Abwertungen entgehen der Gemeinschaft die von Mitgliedern marginalisierter Gruppen gewonnen Einsichten. Aus moralischer Sicht geht es um die Schädigung, die Machtlose durch den Entzug von Glaubwürdigkeit und durch die Existenz hermeneutischer Lücken erleiden: Die für Menschen wesentliche Fähigkeit, anderen Wissensgehalte zu vermitteln, wird ihnen abgesprochen. Auch werden ihre Erfahrungen begrifflich nur unzureichend erschlossen und bleiben daher unverstanden. Beide Formen von Ungerechtigkeit beeinträchtigen die Selbstentfaltungsmöglichkeiten der Machtlosen.
Diesen Ungerechtigkeiten ist durch die Entfaltung von zwei Tugenden zu begegnen: Die ‚Tugend der Zeugnisgerechtigkeit‘ verlangt, den Einfluss identitätsbezogener Vorureile auf Glaubwürdigkeitseinschätzungen intuitiv zu erkennen und zu korrigieren. Die ‚Tugend der hermeneutischen Gerechtigkeit‘ fordert, relativ unverständliche Äußerungen anderer nicht sofort abzulehnen, sondern das mögliche Vorliegen hermeneutischer Lücken zu prüfen. Diese beiden Tugenden konstituieren die von Fricker entwickelte ‚Epistemologische Tugendethik‘. Die tugendethische Rahmung ihrer Gerechtigkeitsforderungen begründet Fricker mit mehreren Annahmen, die aus ihrer Sicht gegen einen deontologischen, also an Regeln und Pflichten orientierten moralphilosophischen, Ansatz sprechen: „Der unredlichen Sicherheit moralischer Vorstellungen“ sei zu misstrauen: Ethisches Wissen nämlich sei – insbesondere angesichts „der enormen Ausdifferenzierungen des Kontexts“ – grundsätzlich nicht kodifizierbar. Es bedürfe nicht moralischer Regeln und kognitiver Urteile, sondern einer besonderen Sensibilität. Diese charakterisiert Fricker als spontane Wahrnehmung des ethischen Gehalts von Situationen, als ein „Gespür“, eine „Sicht auf die Welt […] durch die moralische Brille“, als „Wahrnehmungen, die nicht nur durch Überzeugungen, sondern auch durch emotionale Reaktionen und Inhalte der sozialen Imagination geformt sind.“
Der gängigen Kritik an Tugendethiken – ihnen fehle ein unabhängiges Kriterium für richtig und falsch – entgeht Fricker. Ihre Tugenden zielen im Prinzip auf objektive Wahrheit ab. Aber ich bestreite die empirische Triftigkeit der Annahmen, mit denen sie die Wahl ihrer tugendethischen Deutung begründet. Neuere Forschungen zum kindlichen Morallernen widersprechen der These der Nicht-Kodifizierbarkeit moralischen Wissens und der Vorstellung eines moralischen „Gespürs“ als unauflösliches Amalgam von Urteil, Emotion und Handlungsbereitschaft. Vielmehr belegen sie die Unabhängigkeit von moralischem Wissen und Wollen: Schon früh kennen alle Kinder einfache moralische Regeln, die sie nicht mit Verweis auf Autoritäten oder Strafen, sondern auf Fairness und Schadensvermeidung begründen. Diesen schreiben sie eine nur prima facie Gültigkeit zu, i.e. anders als Kant (und ältere Befragte) lassen sie moralisch begründbare Ausnahmen zu. Moralische Motivation hingegen bauen Kinder erst in einem zweiten, zeitlich verzögerten und unterschiedlich erfolgreichen Lernprozess auf. Diese Motivstruktur ist intrinsisch und formal: Moralisch hoch Motivierte wollen das Rechte tun, nicht (wie an Moral Desinteressierte) aus Angst vor äußeren Strafen oder (wie viele ältere Befragte) aus Angst vor inneren Gewissensbissen, sondern weil es ihnen wichtig ist, das Rechte zu tun. Was aber das Rechte ist, wird in einem je konkret situationsbezogenen Urteilsprozess entschieden. Diese Befunde legen es nahe, Frickers Tugenden als Zusammenspiel von einerseits kognitiver Urteilsfähigkeit und andrerseits moralischer Motivation zu verstehen. Dabei trägt die Urteilsfähigkeit Heranwachsender mit der Entfaltung sozio-kognitiver Kompetenzen und dem Erwerb inhaltlichen Weltwissens der „Komplexität des moralischen Lebens“ zunehmend besser Rechnung. Die von Fricker geforderte Sensibilität ist Korrelat moralischer Motivation. Diese ist jedoch nicht als ganzheitliche Wahrnehmung („Gespür“) zu verstehen, sondern auf je konkret situierte Urteilsfähigkeit verwiesen.
Der vorgetragene Einwand betrifft nur den tugendethischen Bezugsrahmen und dessen empirische Fundierung, nicht den Inhalt der von Fricker geforderten Tugenden: Die Bedeutung von selbstkritischer Reflexion, Achtsamkeit auf mögliche Vorurteile, wohlwollende Offenheit für unvertraute Sichtweisen ist unbestritten. Das gilt auch für Frickers zentrale Schlussfolgerung: Wirklich verstehen können wir Wissen und Erkennen nur, wenn wir Fragen der sozialen Identität und der Macht nicht ausblenden und wenn wir epistemische Ungerechtigkeiten bekämpfen. Einzelpersonen wie Angehörige von Institutionen (etwa Polizei, Justiz, Verwaltung, Arbeitgeber) müssen den Forderungen epistemischer Gerechtigkeit entsprechen. Allerdings – so meine ich – könnte der von Fricker analysierte Themenbereich durchaus Ergänzungen vertragen. Seit der Erstpublikation ihres Buchs – und vielleicht durch ihre Reflexionen befeuert – haben soziale Bewegungen (etwa MeToo) und intensive Debatten (etwa um strukturell verankerten Rassismus) die öffentliche Aufmerksamkeit für epistemische Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen und diskriminierten Minderheiten geschärft. Nun könnt man daran denken, auch hermeneutische Lücken zu thematisieren, die etwa Männer in einer geschlechtsbasiert arbeitsteiligen Gesellschaft erleiden (z.B. Belastungen durch die Hauptverantwortlichkeit für die ökonomische Sicherheit der Familie, beschränktere Kontakte zu den Kindern, stereotypisierte Anforderungen an emotionale Selbstkontrolle). Noch eine zweite Erweiterung wäre wünschenswert: Fricker analysiert nur einen Pol des Kontinuums von Zeugnisgerechtigkeit – die Zuschreibung von Unglaubwürdigkeit. Den anderen Pol – unberechtigte Leichtgläubigkeit – erwähnt sie zwar, diskutiert ihn jedoch nicht weiter. Vielleicht stellt jedoch Leichtgläubigkeit – angesichts der überwältigenden Fülle von Fake News und der zunehmenden Verbreitung von Verschwörungstheorien – eine heute relevantere und auch gefährlichere epistemische Verfehlung dar als die Zuschreibung von Unglaubwürdigkeit.
Insgesamt besticht Frickers Text durch die klare Sprache und die detaillierten Erläuterungen, die sie stets an konkreten Beispielen – an Romanfiguren oder autobiographischen Schilderungen – wunderbar nachvollziehbar illustriert. Ihr Nachweis, dass gesellschaftliches Machtgefälle nicht nur moralische, sondern zugleich auch erkenntnistheoretische Beeinträchtigungen nach sich zieht, ist innovativ und bedeutsam. Die Lektüre dieses Buches ist philosophisch und sozialwissenschaftlich Interessierten (und zwar gerade auch Laien) sehr zu empfehlen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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