Von der Notwendigkeit des Streits

In seinem Plädoyer „Streiten? Unbedingt!“ macht sich Michel Friedman Gedanken zur Debattenkultur in Deutschland und kann besonders durch Persönliches beeindrucken

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schaut man auf aktuelle politische Diskussionen in den klassischen Medien oder auf die Vielzahl hart geführter Social-Media-Dispute, hat man nicht unbedingt den Eindruck, dass hierzulande zu wenig gestritten würde. Braucht es da ein Plädoyer fürs Streiten? Unbedingt, formuliert Michel Friedman, eine der schillerndsten Personen der deutschen Kulturlandschaft. Der Jurist, Publizist und Philosoph, mit einem beeindruckend dichten und vielschichtigen Lebenslauf, gilt selbst als überaus streitbarer Mensch, der in seinen medialen Auftritten gekonnt Argumente, Polemik und Selbstinszenierung verwebt, um für seine Positionen öffentlichkeitswirksam einzustehen.

Was oftmals als vordergründig produktiver Streit im politischen Diskurs erscheint, ist nach Friedman lediglich die Inszenierung von Streit: Es geht nicht um den ergebnisorientierten Austausch von Positionen auf Augenhöhe, um das Ringen um das bessere Argument und um den erforderlichen Willen zum Kompromiss. Gerade Populisten würden in ihrem „monologische(n) Propagandasystem“ Provokation als Streit maskieren, um dann über Diskursausgrenzung zu klagen. Im Übrigen kritisiert Friedman die seiner Meinung nach fehlende Streitkultur in Deutschland. Die Schwachstelle verortet er soziokulturell im Trauma des Nachkriegsdeutschlands, durch das hinsichtlich der Naziverbrechen und der Schuldfrage „ein Band des Schweigens und des Verdrängens gespannt“ und die „Pseudoharmonisierung der deutschen Gesellschaft“ geschaffen worden sei. Dagegen möchte Friedman das Streiten „als Kooperationsgedanke(n)“ setzen, wobei kontroverse Standpunkte durch Spiegelung im jeweils anderen überprüft und Kompromisse gefunden werden. Gesellschaftliche Weiterentwicklung ist für Friedman ohne produktives Streiten nicht möglich: der „Streit ist konstitutiv für die Demokratie.“

In seinem kurzen, 64-seitigen Essay verwebt Friedman Gesellschafts- und Kulturkritik mit philosophischen Reflexionen und persönlichen Erfahrungen. Er arbeitet sich an debattenscheuen Populisten wie Trump, Erdogan oder Putin ab, bedauert, dass die schulischen Curriculae kein Fach „Dialogisches Gespräch und Streit“ vorsehen und kritisiert die sozialen Medien als Horte anonymer Hetze und abstruser Tatsachenleugnung. Die stärksten Momente seines Essays erreicht Friedman, wenn er persönlich wird und die Ursachen für seine unbändige und existenzielle Freude am Streit ergründet. Sie liegen in der jugendlichen Sozialisation und der besonderen Geschichte seiner durch die Nazigräuel gezeichneten jüdischen Familie begründet.

Seinem Vater wurde er schon früh zum einzigen Gesprächs- und Debattenpartner, nachdem dieser sich mehr und mehr sozialen Kontakten entzog. Er hörte stetig schlechter, ein Nazisoldat hatte durch einen Gewehrhieb sein Gehör zerstört. Streitgespräche und selbstsicheren Widerspruch förderte unbewusst die Großmutter, sie hatte den jugendlichen Friedman lange nicht als adäquaten Gesprächspartner anerkannt und damit trotziges Opponieren ausgelöst. Seine Mutter nahm Friedman als Gegenentwurf zum streitbaren Menschen wahr: Aufgrund ihrer schrecklichen Erlebnisse während der Deportation und der KZ-Gefangenschaft habe sie Widerspruch als etwas Gefährliches internalisiert. In der Folge wurde sie ängstlich und harmoniesüchtig. Überhaupt sind die Motive, die sich durch das mediale und publizistische Schaffen Friedmans ziehen, auch für diesen Essay prägend: das Trauma der durch die Nazis terrorisierten, deportierten und in weiten Teilen ermordeten jüdische Familie und die Antisemitismuserfahrungen im Nachkriegsdeutschland bis in die jüngste Gegenwart.

Friedmans Gedanken zum Streit und zur vitalen Funktion von kontroversen Debatten im öffentlich-politischen Diskurs sind nachvollziehbar und lassen bedenkenlosen Zuspruch zu: Könnte man vielleicht noch über die These der fehlenden Streitkultur in Deutschland diskutieren, dürfte jedoch jeder halbwegs vernünftige Mensch mit Friedmans Ideen zum Streit als „Voraussetzung für Veränderung“ konform gehen: sie liegen in ihrer Eingängigkeit auf der Hand und können fast als Allgemeinplätze gelten. So weist Friedman zurecht auf gesellschaftliche Entwicklungen wie die Arbeiter-, Frauen- oder LGBTQ-Bewegung hin, welche durch fortlaufende Auseinandersetzungen entstanden sind. Dass Streit im demokratischen Diskurs unverzichtbar ist? Wer würde diesem Gedanken mit guten Argumenten widersprechen können.

Es ist dem knappen Umfang des Essays geschuldet, dass tieferschürfende Analysen ausbleiben. Diese hätte man sich beispielsweise zum überaus spannenden und ergiebigen Thema „Streit und Sprache“, im achten Kapitel auf einer Seite abgehandelt, gewünscht. Was bleibt, ist ein authentisches Plädoyer, das – sieht man von einigen eigenwilligen Ein-Wort-Satzkonstruktionen und gelegentlichen Ausflügen in die Trivialphilosophie ab – gut zu lesen ist, seine Stärke in den persönlichen Passagen entfaltet und durchaus ein Beitrag zur Debattenkultur hierzulande bildet – ohne jener aber wesentliche neue Impulse zu verleihen. Vielleicht wagt sich Friedman nach diesem knappen persönlichen Plädoyer ja an eine breiter angelegte, kontroverse Streitschrift zum Thema Streit?

Titelbild

Michel Friedman: Streiten? Unbedingt! Ein persönliches Plädoyer.
Duden, Berlin 2021.
60 Seiten , 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783411059898

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