Unheimliche Jugenderinnerungen

Agnete Friis’ Roman „Der Sommer mit Ellen“

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sommer 1978. Die Jugendlichen Jakob, Sten und Lise leben im selben Ort. Die beiden Jungen scheinen Freunde zu sein und geben dies auch vor, doch sie sind es nicht. Für Jakob ist Sten zu forsch und auch zu gewalttätig. Lise, Stens Schwester, gilt als Außenseiterin. Sie ist kein hübsches Mädchen, wünscht sich jedoch, von den Jungen ebenso begehrt zu werden wie etwa Ellen, die ein paar Jahre älter ist und für alle interessant. Auch für die beiden Brüder Anton und Anders, die Großonkel von Jakob. Ellen lebt mit Gleichaltrigen in der Kommune, sie ist eigentlich mit Karsten liiert, doch die Beziehung ist am Auseinanderbrechen und Ellen flüchtet zu Jakob, der bei den Großonkeln lebt. Ellen verwirrt die Männer, allen voran Jakob. Jede Nähe zu ihr lässt ihn tief erröten und weckt Wünsche, die dem Fünfzehnjährigen bis dahin fremd gewesen sind. Doch Ellen weist ihn zurück, sie findet eher Geborgenheit bei Anton und vor allem bei Anders, diesem schon älteren Mann, der – wie sein Name besagt – anders ist, verlangsamt, zurückgeblieben, wortkarg, scheu. Anders wird verdächtigt, an Lises Tod schuldig zu sein. Denn Lise ist eines Tages nicht mehr da. Was geschehen ist, bleibt im Dunkeln.

Das Geheimnis ist auch vierzig Jahre später noch unaufgelöst, wenn der Roman einsetzt. Jakob bekommt einen Anruf von Anton, der ihn bittet zu kommen und nach Ellen zu suchen, die anscheinend verschwunden ist. Jakob, der inzwischen in Kopenhagen als gut situierter Architekt lebt, verheiratet ist und Vater zweier Kinder, ist sofort alarmiert. Eine Frau, die verschwindet – das kennt er doch. Und so reist er, ohne lange zu überlegen, ins Dorf. Eigentlich kommt ihm dies alles nicht ungelegen, lebt er doch in Trennung, wovon er aber nicht redet. So ist er froh um diese Fluchtmöglichkeit.

Im Ort, in dem Jakob seine Jugendjahre verbracht hat, scheint sich kaum etwas verändert zu haben. Anton und Anders, inzwischen um die neunzig, leben immer noch im selben Haus. Anton kümmert sich um den Bruder, der alleine verloren wäre. Auch Sten ist im Ort geblieben, hat die Hühnerfarm seines Vaters übernommen, weiterentwickelt und ist auf dem besten Weg, sie in den Ruin zu führen, denn auch was das Trinken betrifft, ist er in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Für Jakob bedeutet die Suche nach Ellen eine Rückkehr in seine Jugend, eine Konfrontation mit Erinnerungen, denen er sich lieber nicht stellen möchte.

Agnete Friis, die mit diesem Roman 2018 auf der Shortlist des angesehenen DR Romanpreises für den besten dänischen Roman stand, erzählt die Geschichte von Jakob auf zwei Ebenen. Da ist zum einen der Sommer 1978, der für Jakob – wie für den Ort – prägend und traumatisierend war und gleichzeitig von allen Beteiligten verdrängt wurde. Zum anderen ist es das Heute, das wesentlich geprägt ist von jenen Ereignissen im Sommer 1978, die nie aufgeklärt wurden. Diesen Geschichten nachzugehen, sie zu klären, erweist sich als unabdingbar, um im Heute anzukommen. Eine schmerzhafte Erfahrung die Jakob machen muss. Geheimnisse, die unter dem Deckel gehalten werden, verletzen auch Jahrzehnte später. Und falsche Verdächtigungen und Schuldzuweisungen an Sündenböcke verunmöglichen ein ehrliches Sein.

In ihrem Roman deckt Agnete Friis eindrücklich diese Verflechtungen auf, ohne nach simplen Lösungen zu suchen. Dass sie sich manchmal in allzu klischierten und überholten Zuschreibungen verliert, ist bedauerlich. Denn Sätze wie „Sie betrachtete mich mit dem inquisitorisch kritischen Blick, der dem weiblichen Geschlecht eigen ist“ sagen tatsächlich wenig über den Blick des Mädchens aus, das mit solchen Zuschreibungen versehen wird. Doch abgesehen von solchen Ausrutschern gelingt es der dänischen Autorin, die bekannt ist für ihre gemeinsam mit Lene Kaaberbol geschriebenen Nona-Borg-Krimis, überzeugend, die Stimmung sowohl der Jugendlichen von 1978 wie der erwachsen gewordenen Männer vierzig Jahre später einzufangen und uns mit diesen Parallelgeschichten einen spannenden Roman vorzulegen.

 

Titelbild

Agnete Friis: Der Sommer mit Ellen. Roman.
Aus dem Dänischen von Thorsten Alms.
Eichborn Verlag, Köln 2020.
335 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900481

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