Keine hoffnungsfrohen Botschaften
13 neue Kurzgeschichten von T. C. Boyle sind erstaunlich aktuell und lesenswert
Von Herbert Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSo romantisch, wie es der Titel des Buches I Walk Between the Raindrops andeutet, geht es in den Texten nicht zu. Im Gegenteil: Fast alle befassen sich mit Themen, die in unserer Zeit heftig diskutiert werden. Sie zwingen den Leser, sich mit melancholisch-traurigen, oft mit bissigen, bitterbösen, bedrohlichen Szenen auseinanderzusetzen, die, wenn man von der letzten Geschichte absieht, allesamt wenig hoffnungsfroh enden. Dazu passt ein Satz, den der Autor 2022, also im Jahr der Veröffentlichung der amerikanischen Ausgabe, geschrieben hat: „Es ist wieder der 1. April und ich kann mich kaum dazu aufraffen, Witze zu machen, so trostlos, unharmonisch und erschreckend ist die Welt in letzter Zeit.“ „Trostlos“, „unharmonisch“ und „erschreckend“ sind Wörter, die die Menschen in den Geschichten charakterisieren. So sehr sie sich auch bemühen, Lösungen für ihre Probleme zu finden und ihre Lebensumstände zu verbessern, spätestens Boyles Schlusssätze setzen hinter alle und alles ein großes Fragezeichen.
Boyle ist ein erfahrener Erzähler. Das hat er in zahlreichen Romanen bewiesen. Aber auch mit seinen Kurzgeschichten packt er die Leser. Er entlässt sie nicht mit dem Gefühl einer wohligen Entspannung und oberflächlichen Zufriedenheit. Spannung und gute Unterhaltung findet man bei ihm zuhauf, aber keine klischeehaften Happyends oder vorschnellen Glücksfindungen. Der Leser muss sich seinen eigenen Reim auf das Gelesene machen und auch mit offenen Schlüssen zufrieden sein.
Die 13 Erzählungen, alle um die 20 Seiten lang, greifen aktuelle Themen auf, die die Menschen überall auf der Welt angehen: Umweltkatastrophen, den Umgang mit KI und Robotern, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Wohnungsknappheit, Trunksucht, die Verarbeitung schrecklicher Halluzinationen von Bewohnern eines Dorfes aufgrund einer Lebensmittelvergiftung, das sogenannte Naturbaden, die kaum erträgliche Zeit einer Quarantäne während der Corona-Pandemie auf einem Kreuzschiff oder das unfreie Leben in einem Überwachungsstaat Orwell’scher Prägung, so schlimm wie in 1984, aber mit anderen Methoden. Die Liste der Themen liest sich nicht besonders aufregend; über sie gibt es zahlreiche Bücher und Filme.
Vor allem zwei Beobachtungen heben die Erzählungen dennoch weit über ähnliche literarische Werke hinaus. Die Texte haben mehrere Lese- und Verständnisebenen. Da ist einmal die vordergründige, auf der die Handlung abläuft, immer spannend und unterhaltsam. Dahinter gibt es aber eine weitere Dimension, über die der Leser nachdenken kann. So geht es beispielsweise in der Titelgeschichte I Walk Between the Raindrops um Naturkatastrophen und Unglück im Leben von Menschen. Dabei erhebt sich die Frage: Wie kommt es, dass viele Menschen von Unheil heimgesucht werden, einige wenige dagegen von allem Schlimmen verschont bleiben. Und was verbirgt sich hinter dem Schlusssatz: „Lieber Herr Jesus, erlöse uns! Erlöse uns alle, und zwar jetzt!“ Ist das Blasphemie, Empörung oder drückt der Satz Einsicht in das Unabwendbare und Unwägbare aus? Diese Mehrdimensionalität der Geschichten, die sich nicht aufdrängt, die aber zwischen den Zeilen greifbar wird, macht ihren Reiz und ihre literarische Qualität aus.
Überhaupt die Schlusssätze der Storys: Sie stellen manches richtig und vieles auf den Kopf. Gewissheiten, zum Beispiel darüber, ob eine Pandemie zu Ende kommt oder ungebremst weitergeht oder ob die schrecklichen Halluzinationen in einem Dorf jemals überwunden werden können oder warum man im Urwald den Klapperschlangen entgeht, zu Hause aber im gepflegten Garten fast am Biss einer bereits erschlagenen Klapperschlange stirbt, Gewissheiten darüber und über ähnliche Fragen sucht man bei Boyle vergebens. Das Leben ist ein „stochastisches Glücksrad“, wie es in einer Erzählung heißt; den Zufällen des Lebens entkommt keiner. „Manche Menschen haben von Anfang an keine Chance.“ Und wenigen ist beschieden, „zwischen den Regentropfen“ trockenen Fußes hindurchzugehen.
Das andere, was Boyles Geschichten auszeichnet, sind ihre Sprache und ihre Struktur. Perspektiven- und Szenenwechsel, die manchmal an Filmschnitte erinnern, sind ein wichtiges literarisches Merkmal. Einige Erzählungen sind eher herkömmlich, der Handlung folgend aufgebaut, andere springen von einer Szene zur anderen und breiten vor dem Leser ein vielschichtiges Handlungsgeflecht aus, einige Texte werden in einer Art Plauderton, der sich an ein fiktives Du richtet, erzählt, andere wechseln zwischen Ich und Er-Erzähler. Über vielen Texten liegt eine unterhaltsame erzählerische Leichtigkeit, die erst auf den zweiten Blick brüchig und fragwürdig wird.
An zwei Beispielen soll das bisher Gesagte erläutert werden. Der eine Text trägt die Überschrift Schlaf am Steuer. Es geht dabei um ein selbstfahrendes Auto, das mit seinen Insassen Gespräche führt, sie an Termine erinnert oder auch auf mögliche Versäumnisse hinweist, sie warnt und tadelt, als sprächen Menschen miteinander. Zwischen den Zeilen stellt sich die Frage, ob und inwieweit Künstliche Intelligenz die Bürger einer Gesellschaft – oder sollte man sagen: die Menschheit? – in ihrem Umgang untereinander weiterbringt oder nicht. Der Text legt nahe, diese Frage zu bezweifeln.
Und das ist die Handlung: Jugendliche, um die 14 Jahre alt, sind fasziniert von dem Film Denn sie wissen nicht, was sie tun aus den 1950er Jahren. In ihrem Übermut beschließen sie, die berühmte Autoszene aus dem Film „nachzuspielen“. Die Motive allerdings sind völlig verschieden. Damals symbolisierte die rasende Fahrt auf die Klippe zu ein Aufbegehren gegen die verkrusteten Autoritätsstrukturen der Erwachsenenwelt. Jetzt, in den Zeiten der KI, werden die Jugendlichen durch die Reklamewelt dazu verführt und durch Gedankenlosigkeit und reinen Übermut getrieben. Verstärkt wird das durch die Arbeitsbesessenheit der Mutter und ihre völlig unzureichende Teilnahme am Leben ihres heranwachsenden Sohnes. Das alles endet, muss enden, in einer Katastrophe. Der Roboter allein zeigt so etwas wie Fürsorge und erinnert die Mutter an ihre Verantwortung gegenüber ihrem Kind. Aber die Beziehung zwischen den Menschen innerhalb der Familie hat sich seit den Zeiten des Film nicht wesentlich verändert und kann schon längst nicht mehr mit der Weiterentwicklung der KI Schritt halten.
Das zweite Textbeispiel führt in eine ganz andere Welt, in die Welt des Kneipen-Jazz und Kneipen-Blues und könnte in den 1950er Jahren spielen. Viele Filme und Romane dieser Zeit handeln von einem ähnlichen Milieu. Big Mary, so der Titel der Erzählung, gehört zu den besten und nachdrücklichsten Geschichten des Bandes, vielleicht auch deshalb, weil uns der Text in vielem bekannt vorkommt, ohne dass wir die Szenen wirklich kennen, vor allem aber weil er eine melancholisch-traurige Liebesgeschichte erzählt und dabei auf weinerliche und oder kitschige Zwischentöne verzichtet. Es geht um eine Bluessängerin, die mit ihrer eindringlichen Stimme einer unbekannten Kneipenband zu Glanz und überregionalem Ruhm verhilft, mit dem Bassisten eine Liebesbeziehung eingeht und ihn dann wegen eines anderen Musikers, der zu Gewalttätigkeiten neigt, verlässt. Die Band zerfällt wenig später, und was einmal hoffnungsvoll und glücklich begann, endet in Chaos und Gewalt.
Was den Text auszeichnet, sind die knappen, aber treffenden Charakterzeichnungen und die Schilderung der Figuren und ihres musikalisch-künstlerischen Umfelds. Er wird erzählt, als würde der Leser direkt angesprochen, ohne Pathos, aber mit großer suggestiver Sprachkraft. Der Blues, den die Musiker auf die Bühne bringen, bestimmt ihr Leben, macht ihr Musizieren zu einem ungewollt authentischen Musizieren. Sie erfahren den Blues als ihre perspektivlose Wirklichkeit.
Die Unterschiedlichkeit und Vielseitigkeit der Texte machen einen Teil der Attraktivität dieser Erzählungen von Boyle aus. Eine Geschichte endet mit einer Zeichnung, die ein kleines Kind seinem halb verlotterten Vater, der von Kind und Mutter getrennt lebt, zuschickt. Der interpretiert die Kleckse auf der Zeichnung als geheime Botschaften des Kindes an ihn, den Vater, als Tränen voller Sehnsucht nach ihm. Die Deutung, die zu Konsequenzen väterlicherseits führen müsste, wird von Boyle im Schlusssatz sofort wieder zurechtgerückt. Es heißt dort: „[…] aber die Sache war, dass das Kind nun mal kein Künstler war, und man konnte nicht wirklich erkennen, was es sein sollte.“ – T. C. Boyle ist ein großer literarischer Künstler. Seine Texte enthalten viel mehr, als auf den ersten Blick erkannt wird. Eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen lohnt immer. Sie lassen im Leser Eindrücke zurück, die lange nachwirken.
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