Terror in Tôkyô

Iori Fujiwara und der letzte Held von Komaba

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Iori Fujiwaras Text Der Sonnenschirm des Terroristen aus den 1990er Jahren stammt, bemerkt man schon an der Menge von Alkohol, die hier hemmungslos aus der Whiskyflasche in die immer trockene Kehle des Protagonisten geschüttet wird. Besagter durstiger Protagonist reflektiert hellsichtig seinen Zustand, beharrt aber weiter auf die stete Zufuhr von hochprozentigem Lebenswasser. Eine derart renitente Gesinnung in Kombination mit Trinkfestigkeit und einem subversiven Geist lässt innerhalb der ostasiatischen Insel nur auf eine Herkunft schließen – Universität Tôkyô. Bis in die 1990er zumindest war die „Tôdai“ mit ihren zwei Hauptsitzen Hongô und Komaba die Heimat der japanischen Intelligenz. Fujiwaras Held Shimamura hat seine Alma mater nicht bis zum Abschluss frequentiert. Die Studentenunruhen Ende der 1960er Jahre sind ihm sozusagen dazwischengekommen und seither lebt er über zwei Dekaden mit einer falschen Identität.

Das Mädchen und die Bombe

Shimamura arbeitet als Barkeeper in Shinjuku. Seine Spezialität sind Hotdogs. Die überzeugen sogar die japanischen Mafiosi. Der Abstellraum der kleinen, eher schäbigen Kneipe „Gohei“ dient dem einsamen Helden als Schlafplatz. Mit der dunklen Seite der Stadt ist er bestens vertraut, kennt mögliche Schlupfwinkel und die Obdachlosen, die am Bahnhof von Shinjuku in ihren Pappkartons campieren, bis die Polizei sie vertreibt. Er hofft, nicht weiter aufzufallen in der Öffentlichkeit, wenn er aus der mit einer Papiertüte getarnten Whiskyflasche trinkt. Bei schönem Wetter nimmt er sein Quantum im Park ein, gemütlich auf dem Rasen in der Sonne.

Eines Tages spricht ihn ein kleines Mädchen in einem roten Mantel an. Das japanische Rotkäppchen gibt sich als begabte Geigerin aus und weist den Protagonisten auf seine Defizite hin. Während sich schnell die Assoziation an eine Märchengestalt einstellt, die – psychologisch verstanden – als anima und feine, sich dem Musischen zugeneigte weibliche Seele dem an der Küste des Lebens gestrandeten Mann den Weg weisen will, ereignet sich eine Explosion. Denkt man sich die Erscheinung des Mädchens als alkoholinduzierten Tagtraum, der Shimamura mit seiner Vergangenheit als unfreiwilliger Terrorist konfrontiert, kommt mit ihr zwangsläufig eine Rekapitulation des früheren Geschehens in Gange, in dessen Verlauf sich Keisuke Shimamura, damals noch mit richtigem Namen Shunsuke Kikuchi, und seine beiden besten Freunde, der hochintelligente Radikale Makoto Kuwano und die Gedichte schreibende, zeitweise bei Shimamura/Kikuchi wohnende Kommilitonin Yuko Endo, schuldig gemacht haben.

Die Bombe im Park von Shinjuku hinterlässt furchtbare Schäden. Shimamura übergibt das Mädchen, das nur leicht verwundet ist, einem Dritten und flüchtet, muss er doch immer fürchten, von der Polizei oder dem allgegenwärtigen Staatsschutz verhaftet zu werden.

Terrorismus im Jahr 1971

In den Nachrichten kann man schnell erfahren, dass der Vater des Mädchens, ein hochrangiger Polizist, durch den Anschlag ums Leben gekommen ist. Außerdem Yuko Endo und Makoto Kuwano. Shimamura wird nun als Hauptverdächtiger gesucht. Seine Schonzeit ist zu Ende. Notgedrungen macht er sich auf, um seine Unschuld zu beweisen und die rätselhaften Umstände der aktuellen Sprengstoffattacke aufzuklären. Wie ein Panther sein Revier durchkreuzt der Held die Metropole, meist per Bahn in den bekannten Linien: Von Yoyogi nach Harajuku und Omotesandô, nach Shibuya und mit der Inokashira-Linie weiter, wieder nach Kabukichô, Jiyugaoka, Shinagawa und dann zur Hafenstadt Yokohama in den berühmten Yamashita-kôen, an dessen Anleger stillgelegte Schiffe aus der Ära der Großväter verharren.

Seine Suche führt ihn zurück in die Zeitgeschichte. 1968 erreichte Japan die dritte Position unter den Industriemächten, der wirtschaftliche Erfolg konnte jedoch nicht über die politischen Probleme hinwegtäuschen. Studenten riefen wie in vielen anderen Ländern der Welt gegen den Vietnamkrieg auf. 72 japanische Hochschulen folgten dem Aufruf und forderten eine Demokratisierung der Bildungsstätten. Die Proteste richteten sich ebenfalls gegen die zunehmende Umweltverschmutzung, gegen die um sich greifende Urbanisierung sowie gegen die Enteignung von Bauern. Auf dem Hauptcampus der Universität Tôkyô in Hongô besetzen die Mediziner schließlich das Yasuda-Auditorium. Die „Unabhängigen“, zu denen die Freunde zählen, nehmen seit etlichen Monaten an der Gebäudebesetzung in Komaba teil. Nummer 8, Zentrum des Campus, wird entschlossen verteidigt. Aus dem Coop geraubte Instantnudelsuppen dienen als Proviant. Kikuchi / Shimamura, Yuko Endo und ihr Anführer, „Superhirn“ Kuwano, allesamt Studenten der Romanistik, beabsichtigen keine Gewalt anzuwenden, auch nicht gegen das konservative „Bündnis M.“, das die untere Etage bewohnt. Dieses, so heißt es, bestünde aus Jugendlichen, die eine „gewisse politische Partei“ aus ganz Japan rekrutiert habe, um die unbefristeten Streiks zu brechen und die Studentenbewegung zu zerstören.

Shimamuras Vertrautheit mit Tôkyô fügt dem Kriminalformat noch die Dimension des Stadtromans hinzu, wobei dieser auf den ersten Blick mit Ingredienzien wie Yakuza, Kokain, Waffenschmuggel, Spielhöllen und Investmentbetrug dem Hard Boiled-Genre zuzuordnende Text ohnehin auf die Rekonstruktion eines wichtigen Abschnitts der japanischen Zeitgeschichte fixiert ist beziehungsweise politische Ideengeschichte als spannende Unterhaltung darbietet.

Das Duell

Auf eine ähnliche Art, wie es bei Haruki Murakami oft thematisiert wird, erweist sich die Phase des studentischen Protests und dessen Niederschlagung als prägende Zäsur in der kollektiven Erinnerung. Bevor der graue Alltag in den Nachkriegsdekaden gänzlich das Leben einhüllte und die Konditionierungen der kapitalgesteuerten Leistungs- und Konsumgesellschaft immer stärker die Leitlinien vorgaben, hatte die Protestszene noch das Unkonventionelle, Anarchische und Individuelle gestärkt. Freizügigkeit, Vorurteilslosigkeit und ein gewisses Laissez-faire kennzeichneten den damaligen repräsentativen Charakter zu einem erfreulich hohen Grad, dessen Ausmaß man sich in der neoliberalen Kontrollgesellschaft von heute wohl kaum mehr vorstellen kann.

Letztlich befasst sich Fujiwaras Text mit der Frage nach Charakter und Haltung eines Menschen. Makoto Kuwano wird zunächst als intelligenter Student mit Idealen geschildert. Jahre später scheint er sich in ein „Monster“ verwandelt zu haben, das nach Macht und Geld strebt. Shimamura, während seiner Studienzeit in Komaba eher lässig als exzellent, lebt indes nach den Regeln der „ganz alten Schule“. Er gibt auch in seinen Vierzigern nichts auf Reichtümer, genießt die Freiheit und wirkt nicht zuletzt deshalb sehr „cool“. Außerdem ist er noch ein recht passabler Boxer. Eventuell hätte er in seinen jungen Jahren Karriere als Profi machen können, wenn es nicht den Zwischenfall mit der Autobombe in Shibuya gegeben hätte.

Fujiwara steht dem Ideologischen offenbar kritisch gegenüber. Politische Ambition, dies schilderte bereits Ôe Kenzaburô sehr nachdrücklich, korrespondiert nicht selten mit verhinderten sexuellen Impulsen. Gewalt, Kämpfe und terroristische Anschläge haben manchmal mehr mit Eifersucht, Hass und Rachegelüsten zu tun als mit einem Wettstreit der Weltanschauungen. So kommt es auch hier zwischen zwei unvermuteten Gegnern zu einem letzten Duell. 

Nachtrag:

Der Roman wurde im japanischen Original Mitte September 1995 veröffentlicht – ein halbes Jahr nach der Terrorattacke der neureligiösen Vereinigung AUM Shinrikyô vom 20. März 1995. Die Wirklichkeit hatte wie so oft den Kosmos des Textes und den imaginierten terroristischen Anschlag im Zentralpark von Shinjuku überboten. Eine Anspielung auf AUM findet sich bei Fujiwara eventuell in der Beschreibung des jungen Mannes, der im Park Flyer verteilt und Shimamura fragt, ob er mit ihm über „Gott sprechen“ wolle. Später verpasst er dem unter Schock Stehenden zwei Ohrfeigen und gibt das Mädchen in seine Obhut mit der Anweisung, es dann zum Krankenwagen zu bringen.

Titelbild

Iori Fujiwara: Der Sonnenschirm des Terroristen. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Katja Busson.
Cass Verlag, Löhne 2017.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783944751153

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