Wechselwirkungen zwischen Raum und Region
Raumbezüge in der Landes- und Regionalgeschichte erkennen und analysieren
Von Lina Schröder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit der Festschrift Regionalgeschichte. Potentiale des historischen Raumbezugs gratulieren 20 Autor*innen dem Kieler Regional- und Landeshistoriker Oliver Auge in 22 Beiträgen zu dessen 50. Geburtstag. Der Schwerpunkt des Sammelbandes liegt dabei auf den Themenblöcken „Potentiale einer Perspektive des Raumes“, „Quellen der Regionalgeschichte“, „Räume in der Regionalgeschichte“, „Handlungsspielräume in der Regionalgeschichte“ sowie „Akteure in der Regionalgeschichte“.
In Bezug auf die Wechselwirkungen zwischen Raum und Region halten die Herausgeber*innen in ihrer Einleitung fest, dass nicht nur die eine Region existiert, sondern es viele Regionen gibt, die immer wieder neu konstruiert werden und in erster Linie in den Köpfen der Menschen, sowohl in der historischen Vergangenheit als auch bei der Erforschung derselben, entstehen. „Die im Einzelnen zu analysierende Region wird dabei räumlich stets neu je nach Erkenntnisinteresse, beleuchteter Zeit und behandelter Fragestellung konstruiert.“ Dabei sei der jeweils zu untersuchende Raum auf keinen Fall beliebig auszuwählen. Stattdessen müsse es sich stets um eine durchdachte, an die jeweilige Fragestellung angepasste und exemplarisch angelegte Raumkonstruktion handeln – die hier vertretenen fünf Themenblöcke machen dies bereits sichtbar. Der erste Block, „Potentiale einer Perspektive des Raumes“, veranschaulicht außerdem zugleich die hier beschriebene Herangehensweise, indem in drei Aufsätzen exemplarisch ein verwaltungstechnischer (hier Polizeigeschichte), kultureller (hier Sprachgeschichte) und ein personengeschichtlicher (hier Kieler Gelehrtenverzeichnis) Raumbezug konstruiert wird. Dabei lässt sich Raum durchaus auch virtuell denken – somit automatisch der Bogen zu den Digital Humanities spannen, wie der Beitrag von Karen Bruhn, Thorge Petersen und Swantje Piotrowski zum Kieler Gelehrtenverzeichnis deutlich macht.
Mit Blick auf die „Quellen der Regionalgeschichte“ (vier Beiträge) sind die hier verorteten Artikel sehr schöne Beispiele dafür, dass Regionalgeschichte nicht nur epochenübergreifend, sondern auch anhand vielfältiger Schriftquellen (hier Chroniken, Prozessakten, Briefkorrespondenzen, Tagebüchern, zeitgenössischer Propaganda, Entnazifizierungsakten, Martrikelkarten etc.) praktizierbar ist. Diesbezüglich besonders erhellend ist der Beitrag von Jelena Steigerwald über die Entstehung und den zurückgelegten Weg der verschiedenen Archivalien bis zu ihrer Deponierung in einem Archiv. Im Aufsatz von Marvin Groth zu den studentischen Entnazifizierungsakten in der britischen Besatzungszone zeigt sich darüber hinaus besonders gut das Zusammenspiel von Landes- und Regionalgeschichte im Kontext der Quellen: Über einen landesgeschichtlichen Zugang wird es zunächst möglich, eine Besatzungszone politisch, wirtschaftlich, kulturell, bildungstechnisch etc. als eine eigene ‚Landeseinheit‘ zu erfassen. Ein zusätzlicher regionalhistorischer Zugang ermöglicht es dann, über die einzelnen Regionen innerhalb einer solchen Besatzungszone, als Herkunftsorte einzelner Studierender, weitere Daten abzugreifen und Verflechtungen im Kontext z. B. der politischen bzw. wirtschaftlichen Entwicklung und Wirksamkeit aufzuzeigen.
Zentrale Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Räumen stehen im Fokus einer wie auch immer gedachten Untersuchungs- und Arbeitskategorie ‚Raum‘ (z. B. zwischen Stadt-, Siedlungs-, Meeres-, Landschafts-, Architektur-, Sprach-, Grenz- oder Kulturräumen). Darüber hinaus entsteht die Möglichkeit, diese zentralen Gemeinsamkeiten über eventuell bestehende nationale, religiöse etc. Grenzziehungen hinweg zu untersuchen. Der Themenblock „Räume in der Regionalgeschichte“ (fünf Beiträge) lässt zudem deutlich werden, dass solche Räume bezüglich ihrer Ausdehnung variieren und sich im Verlauf der Jahrhunderte verändern – sich also vergrößern, verkleinern oder gar auflösen – können. Die Beiträge in diesem dritten Themenbereich haben außerdem gezeigt, dass solche Räume auch durch Mythen oder Narrative aufgeladen sein können. Diese können dann, wie z. B. von Stefan Brenner am Beispiel der mittelalterlichen Ostsiedlung („Deutschordensstaat Preußen“ in der Danziger Bucht) und anhand eines im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts kursierenden Kultivierungsnarrativs dargelegt, sogar auf weit entferntere Regionen (hier die Danziger Bucht des 19. Jh.) und ihre Wahrnehmung zurückwirken. Einen Bogen zum zweiten Block schlägt ferner der Aufsatz von Caroline Elisabeth Weber, in welchem sie Friedhöfe als Gedächtnislandschaften vorstellt, die sich durchaus als potentielle Quellen nutzbar machen ließen.
Im Themenblock „Handlungsspielräume in der Regionalgeschichte“ (fünf Beiträge) geht es vor allem um das Zusammenspiel der sogenannten „regionalen Referenzgrößen“ und der Kernlage einer Region. Beide können sich, vor allem im Kontext der Vormoderne, wenn es um administrative, religiöse, dynastische oder bündnisbezogene Aspekte geht, je nach tatsächlicher Nähe oder Ferne der sie gestaltenden Akteure realiter anders auswirken, als es auf den ersten Blick durch z. B. die Zugehörigkeit einer Region zur jeweiligen Landesherrschaft (= Referenzgröße) scheint. Franziska Hormuth legt dieses Spannungsverhältnis in ihrem Aufsatz offen, indem sie anschaulich beschreibt, wie die Herzöge von Sachsen-Lauenburg bezüglich ihrer Bündnispolitik zwischen den geographisch nahegelegenen, daher in Sachen Kooperation viel wirksameren Königreichen Dänemark und Schweden sowie dem dagegen in weiter Distanz erscheinenden, jedoch als eigentliche kommunikative Referenzgröße (auch in bündnispolitischen Angelegenheiten [z.B. Landfrieden]) fungierenden Heiligen Römischen Reich oszillierten.
Wenn es im letzten Themenblock um „Akteure in der Regionalgeschichte“ (vier Aufsätze) geht, sind vor allem das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen der auf verschiedenen Ebenen (Mikro-Meso-Makro) angesiedelten Akteure von Interesse. Sie sind Bestandteil einer „innerregionalen Kommunikation“, deren Untersuchung wiederum Aufschluss über eine Region (Meso) an und für sich gibt. Überlegungen zu Siedlungszentren (Mikro) – sowohl Städte als auch Klöster – und Peripherie (Meso) sind hier ebenso angebracht, wie etwa Analysen von Siedlungszentren (Mikro) und jeweiliger Landesherrschaft (Makro). Besonders interessant und komplex sind, wie der Beitrag von Jörg Mißfeldt zu Paul Johann Friedrich Boysen zeigt, solche Akteure, die im Verlauf der Jahre aufgrund verschiedener Ämter sowohl eine Perspektive aus der Mikro- bzw. Meso-, als auch aus der Makroebene entwickeln konnten. Hier lässt sich mit Blick auf den vorherigen Themenblock im zweiten Schritt ebenfalls wieder nach den sich daraus ergebenden Handlungsspielräumen fragen. Nicht zuletzt bezüglich der Erfassung und Beschreibung von Region aus vormoderner Warte spannend zu untersuchen – das sei hier lediglich am Rande und aus einer dezidiert fränkischen Perspektive angemerkt – sind dabei gerade solche Verflechtungen, die aus dem sogenannten territorium non clausum resultieren. Denn es stellt sich natürlich immer auch die Frage, seit wann und unter welchen Bedingungen Akteure die Region (Meso) als eigene Größe überhaupt wahrgenommen haben bzw. wahrnehmen konnten.
Wie von den Herausgeber*innen in der Einleitung angekündigt, erschließt vorliegender Sammelband einen raumbasierten Zugang – verstanden als Beziehungsgeflecht von Ideen, Orten, Objekten, Personen und Praktiken, „der die enge Verbindung von transnationalen, regionalen und lokalen Kontexten analysiert, wodurch […] die Notwendigkeit einer nachhaltigen, interdisziplinär betriebenen und transnational gedachten Regionalgeschichtsschreibung augenfällig wird.“ Während die „interdisziplinäre Komponente“ in den einzelnen Beiträgen am Ende weniger im Fokus stand, muss an dieser Stelle dagegen unbedingt der epochenübergreifende Ansatz, der in allen fünf Themenblöcken völlig selbstverständlich praktiziert wurde und als Privileg der Landes- und Regionalgeschichte verstanden werden darf, hervorgehoben und ergänzt werden. Am Ende bietet der gelungene Band außerdem nicht nur eine breite Auswahl regionalgeschichtlicher Perspektiven, sondern auch für die an der Region Schleswig-Holstein interessierte Leserschaft zahlreiche Anknüpfungspunkte, was u. a. auch durch ein ausführliches Personen- und Ortsregister am Ende unterstützt wird.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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