Zum Verschwinden verurteilt?

Ausgehend von DDR-Schriftstellern werden Vergangenheit und Zukunft des Intellektuellen-Konzepts analysiert

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Intellektuelle im heutigen Verständnis hat es noch nicht immer geben. Ob es sie in Zukunft noch geben wird, bleibt abzuwarten. Festhalten lässt sich aber Carsten Gansel zufolge, dass man den Beginn des heutigen Intellektuellen-Konzepts in der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts verorten kann. Statt für das Vaterland oder bestimmte Interessensgruppen wurde darin Partei ergriffen für Freiheit und Gleichheit. Indem Émile Zola den zu Unrecht des Landesverrats angeklagten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus verteidigte, katalysierte er gleichzeitig eine Vorstellung des Intellektuellen, der nicht nur Denker war, sondern durch seine geistige Tätigkeit zu einer unabhängigen Meinung im Besonderen befähigt war und sich mit dieser öffentlich für das allgemeine Wohlergehen engagierte.

In ihrem gemeinsamen Sammelband Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 geht es Carsten Gansel und Werner Nell darum, die Wirkung von Intellektuellen auf die Gesellschaft wie auch gesellschaftliche Einflüsse auf Intellektuelle näher zu bestimmten. Der gewählte Untersuchungszeitraum dafür ist breit angelegt und umfasst, da ebenso die Vorläufer der Dreyfus-Intellektuellen beleuchtet werden, auch die Goethezeit mit Christoph Kaufmann. Der Schwerpunkt des Bandes liegt jedoch in der Analyse des Verhältnisses von DDR-Schriftstellern und ihrer Beziehung zum Staat. Umrandet wird dieses mittlere Hauptthema von zwei weiteren Teilen: Als Einstieg werden in Einzelporträts ‚klassische‘ Rollen in ‚offener‘ Gesellschaft betrachtet, als Abschluss geht es um Perspektiven auf neue (alte) Medien. Entstanden ist der Band im Anschluss an die Tagung der sechsten Hans Werner Richter-Literaturtage 2013.

DDR-Schriftsteller in ihrer Haltung zum Sozialismus zu erkunden, ist sicher ein wichtiges Thema, weil es dazu beitragen kann, mentale Mauern abzubauen, die auch nach dem Mauerfall noch zwischen Ost- und Westdeutschland weiterbestanden und -bestehen. Denn wie man erfährt, gelangen Gespräche selbst nach der Wende nicht immer. So seien die Westdeutschen häufig mit einem unterminierenden Überlegenheitsanspruch aufgetreten, weil die DDR für sie dasjenige Land war, dem sie Kaffeepakete geschickt hatten, sogar wenn sie selbst nur arbeitslose Handwerker waren und ihre Verwandten in der DDR Ärzte. Auch fiel es einigen DDR-Intellektuellen nach der Wende nicht leicht, ihre neue Rolle in der Bundesrepublik zu finden und dort weiter beispielsweise als Schriftsteller tätig zu sein. Für sie war der Untergang der DDR weniger eine ersehnte Befreiung als ein Ende ihrer Sehnsucht, die Utopie Sozialismus möge doch noch irgendwann gelingen. In der Tat setzte sich beispielsweise Christa Wolf 1989 gegen eine Auflösung der DDR ein, denn für sie galt: „Eine Vereinigung würde die Negation von ‚vierzig Jahren ihres Lebens‘ bedeuten“. Entsprechend engagierte sie sich gemeinsam mit anderen für den sogenannten Dritten Weg, eine Bemühung um eine Erneuerung statt einer Auflösung der DDR, was jedoch im kollektiven Gedächtnis heutzutage kaum noch erinnert wird, aber Möglichkeiten für neue Forschungsarbeiten bietet. „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“, appellierte Wolf damals an ihre Mitbürger und traf damit den Nerv der von der DDR geduldeten, wenn auch unterdrückten Schriftsteller.

Auf der anderen Seite wird aber auch deutlich, wie die DDR-Autoren der Zensur und weiteren Repressalien ausgesetzt waren. Ihre Identität war meist eine gespaltene, insofern sie sich einerseits dem Staat beziehungsweise der Idee des Sozialismus verbunden fühlten, dem sie auch mit ihrem Werk auf ihre Weise dienen wollten, andererseits aber viele Aspekte der DDR-Realität nicht gutheißen konnten und auch nicht schweigen wollten. Bekanntes Beispiel für Letzteres ist die Wolf Biermann-Petition, in der DDR-Autoren in einem offenen Brief (1976) die Ausbürgerung Biermanns aus der DDR als falsch verurteilten. Initiiert wurde sie von Stephan Hermlin, dem ein Beitrag des Sammelbands gilt. Er war wie Wolf vom Sozialismus überzeugt und genoss darüber hinaus das Privileg, in der Gunst von Erich Honecker zu stehen. Erläutert wird, wie Hermlin wiederholt mit Honecker verhandelte und dabei auch gewisse Zugeständnisse von Honecker in Sachen Meinungsfreiheit erhielt, andererseits aber auch Rückzüge hinnehmen musste, die es Honecker ermöglichten, seinen Freund Hermlin vor ansonsten unumgänglichen Strafmaßnahmen zu schützen.

Auch Wolf bezieht sich in ihrem Tagebuch Ein Tag im Jahr auf die Biermann-Petition, die sie mit unterschrieben hatte. Offenkundig wird, wie sehr sie unter dem Druck der Stasi litt – und auch daran, dass sie sich nicht in dem Maße am Allgemeinwohl beteiligen konnte, wie sie eigentlich wollte. Für sie war die Schattenseite ihres DDR-Lebens, dass sie zu Beruhigungsmitteln griff, um überhaupt noch weiterarbeiten zu können, und dass sie sich von der DDR zunehmend als nicht gebraucht und nicht gewollt empfand. Ihr Tagebuch belegt eindrücklich, wie sich ihr Verhältnis zur DDR mit der Zeit wandelte und dunkler wurde. Zu Beginn hatte sie die DDR vor allem als Antwort auf den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus gesehen, erkannte dann aber, wie sehr das Leben in der DDR machtpolitisch von Funktionären bestimmt war. Dennoch wird in ihrem Tagebuch deutlich, dass eine Auswanderung in ein anderes Land nie eine Alternative für sie gewesen wäre. Selbst in poetologischer Hinsicht stand sie mit der DDR in einem gespannten Verhältnis, insofern sie Georg Lukácsʼ an Lenin angelehntes Konzept des Sozialistischen Realismus nicht teilte. Für sie ging es in ihrem Schreiben um einen subjektiven Zugang zur Wirklichkeit, während Lenin von einer ungebrochenen Wahrnehmung beziehungsweise Widerspiegelung der Objektwelt sprach. 1989 kam für Wolf dann kurze Zeit Hoffnung auf, insofern sie nun eine Wandlung der DDR ersehnte, bei der sie eine aktive Rolle übernehmen könnte. Mit der Wiedervereinigung wich diese Wunschvorstellung freilich erneuten Zweifeln.

Besonders schwierig gestaltete sich die Situation nach der Wende unterdessen auch für Volker Braun, dem zwei weitere Beiträge gewidmet sind. War er zu DDR-Zeiten noch ein sehr gefragter Autor gewesen, werden seine Bücher heutzutage kaum noch oder nur in speziellen Kennerkreisen gelesen. Ähnlich wie Wolf und Hermlin wünschte er sich mehr Mitspracherecht für die Menschen in der DDR, war aber der Grundidee des Sozialismus gegenüber durchaus aufgeschlossen. Über das Desinteresse der Gesellschaft an seinem Werk nach der Wende war er entsprechend verärgert, wobei er sich Zuspruch im Kontakt mit Wolf holte. Für beide war die Situation im vereinigten Deutschland durchwachsen: „Ihre Äußerungen lassen erkennen, dass es ihnen keineswegs leicht fällt, mit der neuen gesellschaftlichen Situation angemessen umzugehen. Sie wollen nach vorne schauen, können ihre Vergangenheit jedoch nicht vergessen und suchen gemeinsame Formen des Umgangs mit der Gegenwart.“ Betrachtet man die DDR-Autoren insgesamt, vermittelt der Sammelband den Eindruck, dass sie idealistische Ansprüche hatten, in der Realität aber häufig zu Opfern der Gegebenheiten wurden, was sich auch – zumindest implizit – in ihren Werken ausdrückte. Was man über Heiner Müller erfährt, scheint demnach auch auf andere Autoren zugetroffen zu haben: „Sein Werk, für die Zensoren oft unverständlich, verriet mehr als der Autor selbst verraten wollte: mit der Zeit verriet es Verzweiflung und Ohnmacht, eine Kapitulation des Intellektuellen in einer Welt, die er mit seiner Kunst legitimierte und gleichzeitig immer weniger akzeptieren konnte.“

Was bringt die Zukunft, abgesehen von den ehemaligen DDR-Schriftstellern? Als „erster Computer-Intellektueller“ kann Marshall McLuhan mit seiner berühmten These gelten, dass das Medium die Nachricht sei. Daran anknüpfend lässt sich nach Gefahren fragen, die das neue Medienzeitalter mit sich bringen könnte. Gansel konstatiert, dass die Hochzeit der Intellektuellen in den 1950er und 1960er Jahren lag und dass von da an ein Rückgang zu beobachten ist. Überlegenswert ist, ob sich Intellektuelle danach nur einfach anders ausdrücken als früher und gerade deshalb häufig nicht als Intellektuelle erkannt werden. Der dem zugrundeliegende Gedanke ist, dass sich viele Autoren außerhalb der DDR im Spannungsfeld zwischen Autonomieästhetik und gesellschaftspolitischem Engagement befanden, beispielsweise Günter Eich. Daraus resultierte zuweilen eine gewisse Verweigerungshaltung, die jedoch politisch verstanden werden kann. Ebenso trifft dies auf Christian Kracht zu: Man würde ihn nie als Intellektuellen im eigentlichen Sinne bezeichnen. Dennoch trägt er etwas zur Transparenz von Geschichte bei, wenn er historische Fakten und Personen umgestaltet und beispielsweise von einer Schweizer Sowjetrepublik schreibt. Zu überlegen wäre folglich, ob das Intellektuellen-Konzept in der Gegenwart in Abgrenzung zu demjenigen bezüglich der DDR-Autoren zu modifizieren ist. Interessant ist insbesondere der den Band abschließende Beitrag von Patricia A. Gwozdz, die die Frage nach den Intellektuellen resümierend aus einer globaleren Perspektive betrachtet und dazu unterschiedliche Theorien und Konzepte vergleicht. Sie kommt zu dem Schluss, dass es heutzutage nicht mehr den Intellektuellen, sondern vielmehr verschiedene Typen von Intellektuellen gibt. Für alle gilt jedoch: Intellektuelle heutzutage sind „Nomaden innerhalb von in Bewegung geratenen globalisierten und massenmedial vernetzten Öffentlichkeiten“.

Etwas störend ist, dass der Sammelband nicht näher auf die im Vorwort erwähnten exemplarischen Intellektuellen wie Bertrand Russell, Simone de Beauvoir, Mahatma Gandhi, Martin Buber, Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir eingeht. Dennoch ist er insgesamt sehr informativ, offeriert viele Denkanstöße und bietet insbesondere an DDR-Literatur interessierten Lesern neue Blickwinkel.

Titelbild

Carsten Gansel / Werner Nell (Hg.): Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
402 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837630787

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