Coming of Age im Weltkriegsengland

Jane Gardams spät übersetzter Debütroman „Weit weg von Verona“ ist ein Jugendbuch für alle Altersklassen – und wartet bereits mit vielem auf, was Fans der Autorin lieben

Von Franziska RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange musste Jane Gardams Romandebüt auf seine deutsche Übersetzung warten: Schon 1971 erschien die Erzählung über das Erwachsenwerden eines eigenwilligen jungen Mädchens im England des Zweiten Weltkriegs, fast fünfzig Jahre später folgt nun Isabel Bogdans Übersetzung ins Deutsche. Nach dem beeindruckenden Erfolg der Trilogie um Old Filth (Ein untadeliger Mann, Eine treue Frau, Letzte Freunde) und dem Erzählband Die Leute von Privilege Hill ergänzt Weit weg von Verona die Reihe deutscher Gardam-Neuentdeckungen um deren literarische Anfänge.

Der Roman hat alle Zutaten einer klassischen Coming of Age-Geschichte, eingebettet in das Setting eines verschnarchten Badeortes im Nordosten Englands, Gardams Heimatregion: Es gibt eine dreizehnjährige Ich-Erzählerin, die uns an ihrer Sicht auf die Welt teilhaben lässt, Probleme mit Lehrern, erste romantische Gefühle und Eltern, die irgendwie gar nichts verstehen. Diese Probleme werden in der Ausnahmesituation der Luftschlacht um England verhandelt,  die für die Erzählerin Jessica Normalität ist: Sie greift morgens zur Gasmaske genauso wie zum Schulranzen und zum Kindergeburtstag bringt sie ihre Lebensmittelmarken mit. Doch nicht nur der historische Kontext macht Gardams Geschichte vom Erwachsenwerden besonders. Ihre Protagonistin Jessica ist, wie sie selbst von Anfang an klarstellt, „nicht ganz normal“. Denn sie ist Schriftstellerin oder wird zumindest in nächster Zukunft eine sein. Seit sie klein ist, schreibt sie Geschichten und Gedichte, ausgezeichnet durch die besondere Gabe, die Gedanken anderer Leute lesen zu können (was ihr als Ich-Erzählerin ermöglicht, souverän Einblick in die Innenwelt anderer Figuren zu geben). Der Besuch eines Autors in ihrer Schule wird zu einem Erweckungserlebnis: Jessica ist begeistert von seiner Lesung und gibt ihm ihr gesamtes bisheriges Œuvre zur Begutachtung mit. Monate später erhält sie eine Rückmeldung: „Jessica Vye, du bist ohne jeden Zweifel eine echte Schriftstellerin!“

Leider sehen das in der Schule viele anders und Jessica eckt mit ihrer unbedingt wahrhaftigen, offenen, selbstbewussten Art immer wieder an. Ihre Aufsätze werden von ihrer engstirnigen Klassenlehrerin als „selbstverliebt“ abgekanzelt. „Warum können wir keine guten Bücher lesen?“, hält Jessica dagegen, verzweifelt über die Schullektüre, in ihren Augen ein „lausiges, schlampig geschriebenes, unzusammenhängendes, langweiliges Buch“. So ist klar, dass Jessica ihre wichtigsten Lektionen nicht in der Schule lernt. Prägend sind für sie stattdessen die Begegnung mit einem psychisch kranken entflohenen Kriegsgefangenen, ein Bombenangriff auf eine Arbeitersiedlung, bei dem ihre erste Liebe sie im Stich lässt, ein Gedichtwettbewerb der Times und viele Stunden in der öffentlichen Bücherei, wo sie sich in schwindelerregendem Tempo durch das Klassiker-Regal liest.

Gardam lässt Jessica von all dem in nüchternem Ton und mit sehr viel Witz aus einer Außenseiterperspektive berichten. Nicht nur, dass Jessicas Eltern sie nicht verstehen, sie scheint überhaupt nicht so recht in diese Welt zu passen, die oft in anderen Kategorien denkt und nach anderen Regeln funktioniert, als es Jessica plausibel erscheint. Dabei ist es nicht so, dass sie diese Welt nicht versteht: Sie durchschaut sie im Gegenteil stellenweise sehr klar und spricht aus, was sie darüber denkt. Einmal mehr beweist sich hier Gardams Gabe, Dialoge, und in diesem Fall auch Selbstgespräche, absolut authentisch und natürlich wiederzugeben. Nichts wirkt gekünstelt, nie wirkt das Einnehmen der Perspektive der Teenagerin anbiedernd. Jessica ist eine hervorragende, unbestechliche Beobachterin, das verbindet sie mit der Erzählstimme in Gardams anderen Texten. Sie ist extrem reflektiert und hin und wieder sarkastisch, und doch ist ihre Perspektive die einer Heranwachsenden. Gardam gelingt es so überzeugend, Jessicas Sichtweise zu vermitteln, wie man es nur selten zu lesen bekommt: Sie scheint genau zu wissen, wie es ist, dreizehn zu sein, nicht nur – und das macht ihren Roman bei allem historischen Setting zeitlos – in den 1940er Jahren, sondern überhaupt. Weit weg von Verona ist darum ein Buch für alle, die heute dreizehn sind, gerne einmal wieder dreizehn wären oder völlig vergessen haben, wie es ist, dreizehn zu sein.

Jessica Vye ist eine Figur, die Eindruck hinterlässt, auch über die Lektüre hinaus. In ihren schriftstellerischen Ambitionen und der genauen Beobachtungsgabe erinnert sie an die junge Briony Tallis aus Ian McEwans Abbitte, ohne dass ihr Handeln ähnlich abgründige Folgen hätte wie Brionys. Vor allem aber könnte sie eine Verwandte von Hilary MacKays Vier verrückten Schwestern sein: sowohl in Sachen Eigensinn, als auch in Sachen Lesehunger. Überhaupt erinnert Gardams Debüt an MacKays Jugendbücher. Der chaotische Haushalt von Jessicas Eltern, in dem immer etwas anbrennt und die Eltern eigentlich keine Ahnung haben, was ihre Kinder so treiben (geschweige denn, was in ihnen vorgeht), hat mit dem Bananenhaus der Familie Casson aus Engel verzweifelt gesucht (und dessen Folgebänden) viel gemeinsam. Die authentische Perspektive Heranwachsender, der humorvolle Blick auf das Chaos des Erwachsenwerdens und seine Bewältigung durch Literatur verbinden die beiden britischen Autorinnen Gardam und MacKay.

Wie das mit spät beachteten Erstlingswerken so ist, fragen sich Foren und Feuilleton bei Weit weg von Verona: Wie viel Jane Gardam steckt bereits in diesem Roman? Ist hier schon eine Handschrift erkennbar, der charakteristische Witz, der nüchterne Ton, die scharf beobachteten Dialoge? Um es abschließend noch einmal kurz zu machen: Ja, all das, was als typisch für Gardam gilt, lässt sich bereits in Weit weg von Verona finden, es macht Spaß, in einem ganz anderen erzählerischen Rahmen den vertrauten Ton wiederzufinden, und natürlich machen auch mögliche autobiografische Bezüge den Text für Gardam-Fans attraktiv. Darüber hinaus ist Weit weg von Verona aber auch einfach ein sprachlich außerordentlich ansprechender Jugendroman und eine erfrischend kitschlose Auseinandersetzung mit der therapeutischen Funktion der Literatur.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jane Gardam: Weit weg von Verona. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Isabel Bogdan.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260405

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