Gegenwartslyrik

Vorbemerkungen zur November-Ausgabe von literaturkritik.de

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Lyrik hat Konjunktur. Das wissen wir in Deutschland, seit Jan Wagner 2017 den Georg-Büchner-Preis erhalten hat. Auch der Literaturnobelpreis wurde in den letzten Jahren mit Louise Glück (2020) und Bob Dylan (2016) an zwei Lyriker*innen verliehen. Und wem das nicht als Beleg genügt, der muss nur in die Sozialen Medien, in Studenten-Bars und Konzerthallen schauen, wo junge Menschen mit instagram und slam poetry inzwischen ein großes Publikum ansprechen.

Wohin bewegt sich die Lyrik der jüngeren Gegenwart? Das ist eine Frage, die sich auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht nur schwer beantworten lässt. Sprachreflexive und -destruktive Texte entstehen heute parallel zu Alltagslyrik und Texten, die wieder einen seherischen Ton anschlagen. Es gibt kritische Gedichte und solche, die der tiefreichende Zweifel ihrer Verfasser*innen bis an den Rand des Schweigens gebracht hat, neben solchen, die scheinbar unbedarft Sprachmaterial anhäufen. Schließlich hat sich die Lyrik längst das Digitale als Medium und intermedialen Resonanzraum erschlossen, begleitet von einer Tendenz zur performance, wie sie in poetry slams praktiziert wird.

Womöglich bewahrheitet sich für die Lyrik der Gegenwart, was Josef Theisen schon vor 50 Jahren über die französische Lyrik gemutmaßt hat: „Eine spätere Generation erkennt die augenscheinliche Vielfalt vielleicht als eine einheitliche Suche nach einer neuen Ausdrucksform zur Bewältigung des Daseins in einem technischen, Geist und Seele überfordernden Zeitalter.“[1] Ob die Lyrik der Nuller- und Zehnerjahre diese einheitliche Suche fortsetzt, wird sich erst mit zeitlichem Abstand beurteilen lassen. Für den Moment bleibt nur, die literarischen Produktionen der aktuellen Generation von Lyriker*innen in ihrer Vielfalt wahrzunehmen.

Diese Vielfalt lässt sich schwerlich erschöpfend abbilden. Daher werfen wir essayistische Schlaglichter auf gänzlich unterschiedliche Aspekte zeitgenössischer Lyrik. Sie markieren gleichsam Randpunkte des poetischen Ausdrucks unserer Gegenwart. Zum einen bedient sich die Lyrik von heute auf inhaltlicher Ebene nicht selten althergebrachter Themen. Einer unserer Schwerpunkttexte richtet den Blick deswegen auf Gedichte, die die Natur in den Vordergrund stellen – und damit an eine Tradition anknüpfen, die lange als überholt galt. Zum anderen präsentiert sich Lyrik heute auf formaler Ebene oft in einer Weise, die überhaupt erst durch die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte möglich wurde. Ein zweiter Essay stellt daher Überlegungen zum medialen Status einiger zeitgenössischer lyrischer Werke an.

Daneben finden sich Rezensionen zu aktuellen Publikationen aus dem Bereich der Lyrik, aber wie immer auch zu einer breiten Auswahl an Büchern aus den Gebieten Literatur, Sachbuch und Wissenschaft.
Wir wünschen eine anregende Lektüre.

 

Die Redaktion

 

Anmerkungen

[1] Theisen, Josef: Geschichte der französischen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart u.a. 1976. S. 198.