Geister der Utopie in der Novemberrevolution 1918

Die November-Ausgabe 2018 von literaturkritik.de und ihr Themenschwerpunkt

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

In Kiel begann am 3. November der Matrosen- und Arbeiteraufstand, der die deutsche Novemberrevolution, das Kriegsende und den Zusammenbruch der Monarchie einleitete. Am 7. November verkündete Kurt Eisner nachts in München den Kriegsaustritt Bayerns und das Ende der Monarchie. Am nächsten Morgen konnte man die Proklamation in den Münchner Neuesten Nachrichten lesen:

An die Bevölkerung Münchens!

Das furchtbare Schicksal, das über das deutsche Volk hereingebrochen, hat zu einer elementaren Bewegung der Münchener Arbeiter und Soldaten geführt. Ein provisorischer Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat hat sich in der Nacht zum 8. November im Landtag konstituiert.

Bayern ist fortan ein Freistaat.

Am 8. November wurde Rosa Luxemburg aus dem Strafgefängnis in Breslau entlassen und gründete am nächsten Tag mit Karl Liebknecht in Berlin Die Rote Fahne als publizistisches Organ des Spartakusbundes. Am 9. November rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann in Berlin die Republik und das Ende der Monarchie aus, wenige Stunden später Liebknecht die sozialistische Republik mit den Worten: „Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der Friede ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr.“ Die Macht übernahmen jedoch die Mehrheitssozialisten unter Friedrich Ebert. Ein Tag später floh Kaiser Wilhelm II. in die Niederlande.

Am 12. November veröffentlichte der zwei Tage vorher gebildete Rat der Volksbeauftragten, die vorerst höchste Regierungsgewalt in Deutschland, einen Aufruf, der zur Geburtsstunde des Frauenwahlrechtes wurde: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“

Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler waren in das Revolutionsgeschehen eng involviert. Heinrich Mann, in Deutschland seit seinem 1910 publizierten Aufsatz Geist und Tat ein Prototyp des politisch engagierten „Intellektuellen“, hielt am 22. November 1918 in München auf einer Mitgliederversammlung des Politischen Rats geistiger Arbeiter eine Rede über Sinn und Idee der Revolution. Sie endete mit dem Satz: „Wir geistigen Arbeiter wollen es uns verdienen, unter den Ersten zu sein, die Deutschland mit der Welt versöhnen.“

Für die jüngere, die expressionistische Schriftstellergeneration schien mit dem Ende des Krieges und des hoffnungslos überalterten Kaiserreichs, das die Novemberrevolution  mit einem Schlag beseitigt hatte, ihr Geist der Utopie (Ernst Blochs Werk mit diesem Titel erschien 1918), die auch die Utopie einer gewaltlosen Revolution war, vorübergehend Realität zu werden. In Verbindung mit der politischen Revolution und von dem Druck der Kriegszensur befreit, erreichte die kunst- und kulturrevolutionäre Bewegung 1918/19 ihren Gipfelpunkt. „Der Expressionismus, der kein Begriff mehr ist, sondern eine herrliche Wirklichkeit, findet in der beginnenden Weltrevolution seine Bestätigung.“ So warb Anfang 1919 ein Berliner Kunsthändler in einem Zeitschriftensonderheft, das sich die „Politik des Geistes“ zum Thema gewählt hatte. Das zunächst weithin ungetrübte Pathos der Revolutionsbegeisterung löste das der Kriegskritik ab. Der Expressionist René Schickele triumphierte: „Jetzt, jetzt. Endlich. Jetzt! Die neue Welt hat begonnen. Das ist sie, die befreite Menschheit!“ Mit dem Krieg sah man den apokalyptischen Zusammenbruch der alten Welt vollendet und feierte nun mit oft religiöser Emphase die Revolution als Auferstehung des neuen Menschen. Wilhelm Herzogs „Forum“, René Schickeles „Die weißen Blätter“ oder auch Carlo Mierendorffs neue Zeitschrift „Das Tribunal“ setzten sich unter dem Slogan „Geistige Kämpfer aller Länder, vereinigt euch!“ für eine internationale Organisation der Intelligenz ein.

Während sich die Eingriffe der Intellektuellen in die Politik in solchen Bemühungen weitgehend auf eine organisierte Form ideologiepolitischer Einflussnahme ohne faktische Entscheidungsbefugnisse beschränkten, waren an der Münchener Revolution, und zwar in allen Phasen, Künstler, Wissenschaftler und vor allem Schriftsteller tatsächlich führend beteiligt. Nachdem der Literat Kurt Eisner mit der Bayerischen Republik den ersten revolutionären Staat in Deutschland ausgerufen hatte, nahmen im Revolutionsverlauf, mit aktiver Unterstützung oder sympathisierender Anteilnahme von Autoren wie Oskar Maria Graf, Ret Marut (alias B. Traven), Bruno Frank, Ricarda Huch, Heinrich Mann und auch Rainer Maria Rilke, vor allem Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller einflussreiche Positionen ein. Als sechs Wochen nach der Ermordung Eisners am 7. April 1919 die Bayerische Räterepublik ausgerufen wurde (die offizielle Proklamation ist von Landauer und Mühsam unterzeichnet), übernahm Toller den Vorsitz des Revolutionären Zentralrats und wurde damit kurzfristig zum formell mächtigsten Mann Bayerns.

Literaturkritik.de hat sich das Revolutionsjahr 1918 wiederholt zum Thema gemacht, vor allem vor zehn Jahren in der November- und der Dezember-Ausgabe 2008. Das Jahr 2018 leitete unsere Zeitschrift mit dem Themenschwerpunkt „1918 und 1968“ ein. Im Editorial zur Januar-Ausgabe war angekündigt, die Beiträge dazu seien „nur der Auftakt“, um „Fragen, die mit diesen Jahreszahlen assoziiert sind, in den kommenden Monaten weiter nachzugehen“. In den beiden letzten Monaten des Jahres setzen wir die Rückblicke auf die Zeit vor 100 und vor 50 Jahren noch einmal gesondert fort. Die November-Ausgabe enthält neben Rezensionen zu einigen der vielen Neuerscheinungen über das Kriegsende, die Revolution und die Anfänge der Weimarer Republik Essays, Dokumente und auch ein Interview zu spezielleren Aspekten dieser Zeit: zum „Bruderzwist“ zwischen Heinrich und Thomas Mann, zu den unterschiedlichen Positionen der Wissenschaftler Max Weber und Edgar Jaffé (Finanzminister des Freistaates Bayern unter Kurt Eisner) sowie im Protestantismus, zu Alfred Döblins Roman-Trilogie „November 1918“, zu Rosa Luxemburg und zum Frauenwahlrecht. Ein Themenschwerpunkt der Dezember-Ausgabe widmet sich dann erneut dem Jahr 1968.

Auch dieses Mal danken wir allen, die mit Ihren Beiträgen oder auf andere Weise die neue Ausgabe ermöglicht haben. Unser besonderer Dank gilt dabei aus aktuellem Anlass Rebecca Ruth. Sie hat 2014 zunächst als Praktikantin, danach als freie Mitarbeiterin, als Studentische Hilfskraft und seit 2016 als Koordinationsleiterin die Redaktionsarbeit unterstützt. Nach dem erfolgreichen Abschluss Ihres Studiums an der Universität Marburg ist sie seit dem 1. November in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt tätig. Ihre bewährte und hilfreiche Mitarbeit werden wir vermissen, aber in bester Erinnerung behalten. Für Ihre neue Tätigkeit wünschen wir ihr herzlich alles Gute.