„In zwei Formen gleichzeitig leben“?

Zu Wilhelm Genazinos Heidelberger Poetikvorlesungen „Die Angst vor der Penetranz des Wirklichen“

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerne habe ich den 2004 mit dem Büchner-Preis ausgezeichneten Wilhelm Genazino gelesen in der Vergangenheit. Gerne werde ich auch künftig Romane von ihm wieder einmal in die Hand nehmen und daran eine Freude haben, obwohl mich seine drei Heidelberger Poetikvorlesungen (sie wurden im Jahre 2014 gehalten, wie eine Internet-Recherche ergab) mit den Titeln Furcht und Zittern der Überempfindlichen – Die Angst vor der Penetranz des Wirklichen, Das vermisste Zuhause – Die verschwundene und doch nicht verlorene Heimat und Das Eine folgt richtig auf das Andere – Die Form oder wie etwas in die Welt tritt mehr enttäuscht als angesprochen haben. Doch bevor ich auf diese Enttäuschung und deren Gründe und selbstverständlich auch auf meinen Lektüre-‚Gewinn‘ zu sprechen komme, zunächst einige Hinweise auf die Publikation als solche und deren Kontext.

Das gerade einmal vier Bögen umfassende, rein äußerlich dank Covergestaltung, Fadenheftung und guter Papierqualität dennoch achtbar daherkommende Büchlein ist der 6. Band der von Friederike Reents seit 2018 herausgegebenen Reihe Heidelberger Poetikvorlesungen. Bislang sind die Vorlesungen von Frank Witzel (2017), Felicitas Hoppe (2016), Maxim Biller (2018), Lutz Seiler (2015) und Ulf Stolterfoht (2019) erschienen. Neben den zukünftigen sollen auch alle vergangenen publiziert werden, zurückreichend bis ins Jahr 1993, als die Heidelberger Poetikdozentur mit Martin Walser eröffnet wurde.

Vorangestellt ist dem Genazino-Bändchen ein knappes Reihenvorwort der Herausgeberin. Das dürfte seinem Inhalt nach zu einem Großteil auch allen anderen bisher erschienenen Vorlesungen vorangestellt sein. Erst der letzte Absatz nämlich gibt willkommene Auskunft über das vorliegende Bändchen – die Vorlesungen befinden sich in Genazinos Nachlass in Marbach und werden hier erstmals publiziert –, sagt aber nichts über den Zeitpunkt seiner Vorlesungen und gibt auch sonst keine weiteren Informationen zu diesen. Dafür werden erfreulicherweise diejenigen genannt, die im Hintergrund in besonderer Weise zur Publikation beigetragen haben. An dieser Stelle sei stellvertretend Friedhelm Rathjen genannt, der bei „der Suche nach vom Autor nicht nachgewiesenen Zitaten eine große Hilfe war“. Anzumerken ist allerdings, dass wohl nicht alle Zitate nachgewiesen wurden bzw. vereinzelt wie bei Marcel Proust (s.u.) der Eindruck entstehen kann, ein Zitat stamme aus einer anderen als der tatsächlichen (in diesem Falle hier nachgereichten) Quelle.

Wünschenswert wäre es trotz dieser zuletzt genannten, im Ganzen erfolgreichen Bemühungen um einen zitierfähigen Text gewesen, der Publikation noch eine editorische Notiz nebst der einen oder anderen Erläuterung hinzuzufügen. Dies nicht nur deshalb, weil der 2018 verstorbene Autor ja selbst die Edition nicht mehr autorisieren konnte, sondern auch deshalb, weil Genazinos Texte Tippfehler, ‚Merk‘- oder auch Fragwürdigkeiten enthalten, die, da weder (stillschweigend) korrigiert noch markiert, irritieren.

So ist von Goethes Die Leiden des jungen Werther zu lesen, Marcel Proust habe „zu Beginn des 19. Jahrhunderts“ gelebt, und an anderer Stelle liest man, in Supermärkten und anderen „Bereichen der Nah-Überwachung, etwa in Bahnhöfen oder in Schalterhallen der Banken“, seien in den letzten Jahren „Überwachungskameras verschwunden“ (jeweils erste Vorlesung). Ob Genazino einen zwar feinsinnig-genauen, doch im Rahmen einer Vorlesung (der zweiten) eher unglücklichen Satz wie „Ich erkannte einen Flachbau, der mir bekannt vorkam“ so stehen gelassen hätte? Und kann der Gang von Hugo von Hofmannsthals Buch der Freunde (1922) zu Georg Lukács Die Seele und ihre Formen (1911) tatsächlich zeitlich (!) wie geistesgeschichtlich „ein Riesenschritt“ in die „avancierte[] Moderne“ sein? Wenn schließlich anhand eines ins Deutsche übersetzten Satzes von Virginia Woolf in der dritten Vorlesung einlässlich auf deren Form-Begriff eingegangen wird – an einer solchen Stelle geht es nun ganz offensichtlich nicht wie zuvor mehrheitlich um ‚Kleinkram‘, sondern um Gewichtiges –, wäre der Hinweis auf die originale Formulierung und deren Kontext sicherlich hilfreich für die Einschätzung von Genazinos Lesart gewesen. Doch dazu später.

In der ersten Vorlesung Furcht und Zittern der Überempfindlichen… geht es um Begriffe wie Empfindlichkeit, Überempfindlichkeit, Neurasthenie und Empfindsamkeit – und dabei selbstverständlich recht eigentlich um „künstlerische[] Tätigkeit“ und Literatur als „phantasierte Autonomie“. Es überrascht, wenn man gleich eingangs liest, eine als „empfindlich“ bezeichnete Person lasse zugleich folgendes assoziieren: „Die Person ist außer empfindlich auch gebildet, sie hat kulturelle Interessen, sie ist gut erzogen, sie drängt sich nicht auf, sie ist geduldig; außerdem ist sie höflich, zuvorkommend, freundlich.“ Trifft das nicht eher – und wenn ja, dann auch in dieser Massierung? – auf eine Person zu, die man als empfindsam, feinfühlig, sensibel oder dergleichen mehr bezeichnen würde? Und bezeichnet Empfindlichkeit bei Personen heutzutage nicht basal (von Anfälligkeit bedrohte oder von Gehabe begleitete) Erregbarkeit, Empfindsamkeit hingegen jenes Feingefühl, jene Sensibilität, mit dem die anderen von Genazino genannten Zuschreibungen einhergehen mögen? Der jedenfalls hält dafür, dass empfindsam und Empfindsamkeit keine Wörter mehr seien, die der heutigen Sprache angehörten, und dass empfindlich und Empfindlichkeit ihre bedeutungsgleichen Nachfolger seien.

Freilich wird deutlich, dass die Vergangenheit, beispielsweise die von Genazino zitierten Siegmund Freud und Marcel Proust, sehr wohl zwischen Empfindlichkeit – das Wort war selbstverständlich auch schon damals in Gebrauch – und Empfindsamkeit unterschieden haben, wird bei diesen doch Überempfindlichkeit als „‚krankhafte Empfindsamkeit‘“ („sensibilité maladive“; Proust, La Confession d’une jeune Fille, in: Les Plaisirs et les Jours, 1896) verstanden. Zuzustimmen ist dem seinem Gewährsmann Proust selbst zustimmenden Genazino darin, dass dieser in der „‚krankhafte[n] Empfindsamkeit‘“ der „‚Nervösen‘“ die Voraussetzung für alles Große gesehen hat – „Le nervosisme est un pasticheur de génie“, heißt es in Le Côté de Guermantes sogar ausdrücklich –, doch versteht er m. E. Peter Altenberg miss, wenn er durch ein Zitat glaubt belegen zu können, dass dieser auf den „Beginn des Risikos durch Überempfindlichkeit“ verwiesen habe. „‚[D]ekadent werden, das heißt >überempfindlich<‘“ war für Altenberg doch vermutlich etwas Positives.

Im Folgenden geht es Genazino um die „moderne Überempfindlichkeit“ als „Daueraufreizung“, die durch die „Übernähe der Phänomene“ ausgelöst werde. Wenn er dabei dem stets mitzudenkenden studentischen Publikum gegenüber vereinnahmend von „wir“ spricht, gibt es allerdings gute Gründe, die Existenz dieses „wir“ in Zweifel zu ziehen. Faktisch nämlich spricht Genazino doch wohl eher von sich selbst und von seinen literarischen Figuren, wie jene Beleg-Beispiele nahelegen, die er anführt. Die dürften erdrückend mehrheitlich nicht zu jener Beeinträchtigung führen, an der er selbst und seine Figuren leiden, zumal „Fluchtorte“ rar sind und eigens aufgefunden werden müssen.

Um Überempfindlichkeit literarisch zu illustrieren, kommt Genazino im Anschluss auf deren „Standardwerk“ zu sprechen, auf Virginia Woolfs Mrs Dalloway. Es verwundert gewiss nicht, dass er zu diesem Jahrhunderttext Bedenkenswertes und Zutreffendes zu sagen hat. Dennoch entsteht nicht der Eindruck, dass ein komplizierter ‚Merksatz‘ wie der nachfolgende schlüssig entwickelt worden sei, zumal für die Zuhörerschaft: „Nur eine intakt bleibende Überempfindlichkeit kann zu einer Wahrnehmung finden, die sich in der Reflexion nicht selbst wieder auflöst – und gerade dadurch zu einem stabilen psychischen Fundament wird.“

Genazino wechselt dann wieder zu einer ganzen Reihe von Alltagsbeobachtungen, die Dimensionen von Überempfindlichkeit und deren „kaum verallgemeiner[baren] Entwicklung ausloten sollen und die seines Erachtens zum nicht geringen Teil sogar von einem regelrechten, den Menschen kategorisch vom Tier unterscheidenden „Kult der Überempfindlichkeit“ zeugen. Dabei ist sein letzter ‚Punkt‘ die „Fremdscham“, die der „überempfindliche Mensch“ für „Intim-Entdeckungen“ fühle. Als Paradebeispiel dafür führt er Kafka und dessen Probleme mit dem „Gebiss aus Goldzähnen“ seiner zweimaligen Verlobten Felice Bauer an, die er deren Freundin Grete Bloch in einem „delikaten Brief“ dargelegte. Kafka habe seine „Überempfindlichkeit“, seine „eigene[] innere[] Unheimlichkeit“ zum Gegenstand seines Werkes gemacht, sie im Privatleben hingegen als „vorausschauende Nützlichkeit“ getarnt.

Beobachtungen zur ersten Vorlesung haben, sofern sie denn zutreffen, auch für die zweite Das vermisste Zuhause… Gültigkeit. Auch hier irritieren ‚steile Thesen‘, ein argumentativer Aufbau, den man in diesem Falle stellenweise sogar als unkonzentriert bezeichnen könnte, und befremdende Wortverwendungen wie insbesondere die auf Synonymie hinauslaufende Engführung von „zu Hause“ und „Heimat“ nicht nur im Titel, sondern auch im Argumentationsverlauf.

Wer würde dem ersten Satz dieser Vorlesung „Es gibt keine Heimatliteratur, jedenfalls keine ernstzunehmende, aber es gibt bedeutende Romane, die nebenbei und nachträglich auch Heimatromane geworden sind, obgleich auch sie nicht als solche geschrieben wurden“ unumwunden zustimmen? Mir scheint, selbst bei der an sich schon fragwürdigen Engführung auf den Roman ergeben sich erhebliche Zweifel schon dann, wenn man sich beispielsweise bloß auf AutorInnen im Umfeld der Weimarer Republik wie Lena Christ, Marieluise Fleißer, Leonhard Frank oder Oskar Maria Graf und deren freilich kritische Auseinandersetzung mit der Heimat besinnt.

Genazino kommt dann in Annäherung an sein Thema „Heimat“ zunächst auf die von ihm diagnostizierte „Hassliebe“ von James Joyce zu Dublin zu sprechen, gibt aber für den ‚Liebesanteil‘ kein einziges Beispiel, wenn man den nicht darin sehen will, dass sich Joyce – Genazino zitiert ausgiebig – ein ums andere Mal in sarkastisch-drastischer, verächtlicher Weise über Dublin und Irland geäußert hat. Aber lässt das auf jenes Sowohl-als-Auch, auf jene psychologische Ambivalenz schließen, die wir landläufig mit dem Wort Hassliebe belegen?

Die feinfühligen Ausführungen zu „Heimat“, die sich dann anschließen – „Die innere Unfassbarkeit der Heimat ist vielleicht sogar die stärkste offene Erfahrung des Menschen“; „Der überstarke Wunsch, eine reale Heimat zu finden, muss vor seiner Erfüllung geschützt werden, damit eine haltbare Sehnsucht aus ihm werden kann“ –, beeindrucken nicht nur, sie werden auch plastisch. Dies vor allem, indem Genazino mit wenigen Sätzen die Essenz von Eduard Mörikes ‚Heimatgedicht‘ Gesang Weylas herausarbeitet. Gut vorstellen können hätte man sich in diesem Zusammenhang sicherlich noch ein paar Worte zu einem der großen Philosophen der Heimat, zu Ernst Bloch und dessen auf kollektives Erwirken hinauslaufende Konzipierung.

Wenn man dann im Fortgang gewiss noch auf weitere anstoßende und/oder anstößige Thesen zum Thema Heimat stößt – mit Heimatverlust und neuem Zuhause gehe das „Phänomen der durchscheinenden Bilder“ einher; Heimatempfinden sei „oft mit heimlicher Scham besetzt, die mitgeschützt werden muss“; „Die Bedürftigkeit der Vororte“ ähnele „der Bedürftigkeit ihrer Bewohner“ –, kann dies doch nicht über eine gewisse Verwunderung darüber hinwegtäuschen, dass Genazino argumentativ ‚springt‘ und (folglich) in Benennungsnot gerät. Diese vermutlich aus konzeptioneller Unschärfe resultierende Not kann daran abgelesen werden, dass er bei dem von ihm für ein und dasselbe verwendeten Ausdruck „erste Heimat“ das Wort „erste“ einmal in doppelte und einmal in einfache Anführungszeichen setzt: doppelte Anführungszeichen dann, wenn Heimat und Wohnort identisch sind und die „lebensgeschichtliche Bindung“ an diesen alltäglich gelebt werden kann, einfache hingegen dann, wenn man sich anderenorts angesiedelt hat oder ansiedeln musste und von da aus, sei es auch nach Jahrzehnten, auf den vergangenen Wohnort zurückblickt. Es fragt sich aber m.E., ob der Mensch überhaupt zwei Heimaten zugleich haben, zugleich empfinden kann, oder ob in Fällen wie dem beschriebenen nicht ein auch mit intensiver, doch unterschiedener „lebensgeschichtlicher Bindung“ verbundener Begriff wie „zu Hause“ in Anschlag zu bringen wäre.

Auffällig ist, dass Genazino – ich übergehe banal-stereotype, in Teilen sogar peinliche Ausführungen zum ‚Heimatkonflikt‘ des Berufspendlers – Heimat im Wesentlichen als etwas begreift, das man sich als Erwachsener schafft, weniger als etwas, das einem als Kind zugefallen ist. Herkunft und deren Kontingenz scheinen für ihn selbst keine große Rolle zu spielen, auch wenn er zum Schluss auf den lebenslangen ‚Ur-Kölner‘ Heinrich Böll zu sprechen kommt und an dessen „zur Heimat mutierte[n] Fixierung […] an eine Stadt“ demonstriert, dass Heimat „für einen Autor ein Produktionsmittel ist“. Böll, der darum gewusst habe, habe freilich nicht „erwähnt […], dass der Verlust von Heimat die Einbuße der Produktivität bedeuten kann.“

Die dritte und letzte Vorlesung Das Eine folgt richtig auf das Andere… handelt von „Form“ in der Kunst und im Leben. Georg Simmel wird herangezogen, wenn es um die unabweisbar notwendige Form bei Lebensvollzügen gleich welcher Art, den damit verbundenen Widerstreit mit der ewigen „‚wogende[n] Dynamik‘“ des Lebens selbst und der daraus resultierenden „Tragödie mit der Kultur“ geht. Die Literatur betreffend werden hingegen diverse Dichter und Denker befragt.

Hugo von Hofmannsthals mit „Risiko“ und „erheblicher Lebensangst“ verbundenes Diktum „Die Gegenwart oktroyiert Formen. Diesen Bannkreis zu überschreiten und andere Formen zu gewinnen, ist das Schöpferische“, des frühen (!) Georg Lukács Dafürhalten „Der Dichter, der poetische Mensch, ist dadurch ausgezeichnet, dass es ihm gelingt, aus der Welterfahrung eine Kunsterfahrung zu machen, die ihm dann als Welterfahrung gilt“, Theodor W. Adornos Postulat „So wenig allerdings wie Kunst durch irgendein anderes Moment zu definieren wäre, ist sie mit Form einfach identisch“ sowie Dieter Henrichs tiefe Einsicht „[Die Vergegenwärtigung des Lebensganges, die nicht nur über ihn oder zu ihm spricht, sondern die es in der Betrachtung zugleich seiner selbst innewerden lässt, ist überhaupt] nur als Kunst möglich“ („ist überhaupt“ wird irrtümlich als Formulierung Genazinos wiedergegeben): Das sind Sätze, an denen sich Wilhelm Genazinos Schreiben und Denken ganz offensichtlich ausrichtet.

Letzteres geht in dieser Vorlesung von Virginia Woolfs „verblüffend einfache[m] Satz“ „‚Form ist also das Gefühl, dass das eine richtig auf das andere folgt‘“ (Tagebucheintragung vom 16. August 1933) aus. Schaut man sich die Originalformulierung und deren Kontext an – „Form, then, is the sense that one thing follows another rightly”, es geht um Ivan Turgenevs poetisches Verfahren – wird rasch deutlich, dass Genazinos Ausdeutung in die Irre geht. Woolf spricht nicht von ‚platten‘, wankelmütigen und nur schwer zu durchschauenden Gefühlen als „ungefähre[r] Instanz“, sondern von Einsicht, bestimmtem Eindruck, Bewusstsein und dergleichen. Auch müssen wir nicht der „irrtumsanfällige[n] Instanz“ „Instinkt“ vertrauen, wenn es um „richtig“ geht, sondern unserer Erfahrung, unserer Menschenkenntnis und unserem Weltwissen. Denn „thing“ referenziert hier nicht auf Dinge im landläufigen Sinne oder äußere Geschehensabläufe, sondern auf das Gefühlsleben und die Abfolge seiner Momente.

Schließlich: „Man muss unterscheiden“, heißt es in der dritten Vorlesung, „ob man das Formproblem praktisch oder theoretisch angehen möchte. Es liegt auf der Hand, dass ich mich […] vor allem für die praktische Seite interessiere.“ Wie vorzüglich Genazino das Formproblem in seinen Romanen angegangen ist, kann hier nicht eigens ausgeführt werden. Dass der theoretische Angang in den Heidelberger Poetikvorlesungen an die Qualität der Romane nicht annähernd heranreicht, tut jenen keinen Abbruch und besagt nichts beispielsweise über seine Poetikvorlesungen in Paderborn (1998), Frankfurt (2006) und Bamberg (2009). Wohl aber leitet dieser Sachverhalt zu jenem anderen, auch völlig anders gelagerten über, den Genazino zum Schluss der dritten Vorlesung für die darob tragisch endende Anna Karenina in Leo Tolstois gleichnamigem Roman herausstreicht und der hier im Haupttitel aufgegriffen wird: „Sie will“, so Genazino, völlig unzeitgemäß „in zwei Formen gleichzeitig leben.“ Das wollte, siehe seine zuvor zitierte Unterscheidung und Selbstpositionierung, der angesichts der „vergewalti[genden] Wirklichkeit“ im „Fluchtort“ Literatur „verbindlich[e] Heimat“ suchende Praktiker Genazino klugerweise ganz gewiss nicht – womit ihm von vornherein ein tragisches Scheitern erspart geblieben ist.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Die Angst vor der Penetranz des Wirklichen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
64 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347406

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