Werkstücke

Zur Edition der Texte aus Stefan Georges Nachlass

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Veröffentlichung sämtlicher Texte aus dem Nachlass des Dichters Stefan George ist aus mindestens drei Gründen bemerkenswert. Erstens finden sich darunter zahlreiche Arbeiten von hohem ästhetischem und gedanklichem Anspruch, und zwar in allen sieben von der Herausgeberin Ute Oelmann angelegten Genrekapiteln. Einige Beispiele seien hier genannt. Bei den Gedichten sticht Noch jeder gott war menschliches geschöpfe hervor, ein Text, der bereits seit Längerem bekannt ist und hier und da „Teuflische Stanze“ genannt wird. Er bildet den zynisch-nihilistischen Gegenpol zum gesamten Rest von Georges Werk und ist daher in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. George hat ihn, so sagt er selbst, „in den Papierkorb geworfen“; sein Freund Friedrich Gundolf bezeichnete ihn als Einsendung, die Georges Zeitschrift Blätter für die Kunst zugegangen sei. Beides ist natürlich Unsinn oder jedenfalls grob irreführend. Gegen Georges Willen hätte sich der Text nicht erhalten; dass sein unmittelbares Umfeld nicht wusste, dass er von ihm stammt, ist kaum vorstellbar. Ihn, wie die Herausgeberin vorschlägt, auf eine Stufe mit dem frühen Scherzgedicht Fürst Commedotutti zu stellen, greift meiner Meinung nach zu kurz.

Unter den „Aphorismen · Notizen zur Literatur“ sowie unter „Aphoristisches“ stehen Gedankensplitter, die neues Licht vor allem auf Georges Poetologie werfen. Vom Umfang her bilden die beiden Jugenddramen Phraortes und Graf Bothwell sowie zwei frühe Ibsen-Übersetzungen den Schwerpunkt der Edition. Alle vier sind Fragment geblieben und bisher nur auszugsweise und „geglättet“ publiziert worden. Hier liegt zum ersten Mal der gesamte erhaltene Textbestand buchstabengetreu vor und bezeugt den Stellenwert, den das Drama, die Übersetzung und die skandinavische Literatur – oder eben die Kombination aus allen dreien – (schon) für den frühen George hatte. Angela Beuerle sprach in diesem Sinne vom „Prüffeld“, auf dem sich sein Frühwerk entfaltet.

Zweitens ist bemerkenswert, was der Nachlass ausweislich seiner sorgfältigen Edition nicht enthält. Die Publikation jener Texte, „deren Veröffentlichung nicht der Intention des Dichters und seiner Erbengeneration entsprach“ (Oelmann), taugt nicht zum Skandal und auch nicht dazu, das George-Bild der verschiedenen Fraktionen innerhalb der polarisierten Rezeptionsgeschichte des Dichters radikal zu verändern. Anders als etwa bei den „Schwarzen Heften“ aus dem Nachlass Martin Heideggers muss George im Anschluss an diese Edition nicht neu auf den Prüfstand. Wer, wie im Sommer 2018 im Umfeld des 150. Geburtstags verschiedentlich sichtbar wurde, George im Hinblick auf seine Sexualität und/oder die Praxis seiner Machtausübung bereits für waidwund hält, wird hier keine neue Munition finden.

Der dritte Grund ist der spannendste. Gleich zu Beginn ihrer Einleitung kennzeichnet Oelmann ihre Edition als „Einblick in die Werkstatt“ des Dichters. ch habe an anderer Stelle gesagt, dass ich Georges Werkstatt für sein bedeutendstes Werk halte. Hier sieht man sie in Aktion. Vorgelegt werden Skizzen zu dichterischen, poetologischen und nachrichtlichen Texten, Ausschnitte aus Briefbeilagen und Exzerpte, Gesellenstücke wie die Ibsen-Übersetzungen und Hilfsmittel wie der Versuch einer Kategorisierung der Shakespeare-Dramen, die Gundolf übersetzte, und Kommentare zu Werken, an denen Georges Mitstreiter gerade arbeiteten – und das, jedenfalls bei den dichterischen Texten, gleich in mehreren Sprachen: auf Deutsch, Französisch, Englisch und in der von George erfundenen Sprache Romanisch.

Zur Arbeitspraxis gehört die von der Herausgeberin in knappen Worten angedeutete Überlieferungsgeschichte; „Niederschriften Stefan Georges II“ etwa sind Exzerpte aus Friedrich Nietzsche, Jean Paul und Johann Wolfgang Goethe, die nicht etwa aus einer Handschrift Georges, sondern nach Karl Josef Partschs Abschrift eines nicht überlieferten Textträgers ediert werden, an dem George und, laut Partschs Vermutung, auch Gundolf und Ernst Bertram beteiligt waren.

Auch die Tatsache, dass sich manche Formulierungen und Zitate über mehrere Dokumente hinweg verfolgen lassen, bezeugt die engmaschige, langfristig angelegte und kollaborative Arbeitsweise im George-Kreis. Begriffe wie „Autorschaft“ und „Werk“ verstand der George-Kreis ganz offensichtlich anders als viele moderne Schriftsteller. Redeweisen wie die von George als „dem Dichter“, die in der Nachfolge Georges ossifizierten, werden den arbeitspraktischen Gegebenheiten, die die vorliegende Edition nachzeichnet, allenfalls in einer Weise gerecht, die analytisch nur mit Mühe transparent gemacht werden kann. Schon die Edition wird von der werkstättischen Schaffenspragmatik vor große Herausforderungen gestellt – man versuche beispielsweise, die drei Nummerierungen auseinanderzuhalten, die sich auf den vier Doppel- und zwei Einzelblättern in die Quere kommen, die unter der Überschrift „Aphoristisches II“ gefasst werden.

Hinter dem Nachlassband steht der Impuls, Georges schriftlich überliefertes Schaffen vollständig zugänglich zu machen. Daher wurden auch die „Einleitungen und Merksprüche“, kurze, im weitesten Sinne poetologische Texte aus den Blättern für die Kunst, sowie die Einleitungstexte aus den drei Bänden der Anthologie Deutsche Dichtung aufgenommen. Sie stammen weder aus dem Nachlass noch lässt sich für alle Georges Autorschaft zweifelsfrei nachweisen. Doch machte sie George durch den Ort ihrer Erstveröffentlichung unmissverständlich als Teil seines Werks deutlich.

Sie und die anderen Texte stehen nun mit einem höchst disparaten Korpus in einem sichtbaren Zusammenhang, das neben der von George selbst verantworteten Gesamtausgabe beziehungsweise den ihrem Aufbau nach gleichen Sämtlichen Werken unter anderem auch Briefe, Anthologien, Gedichte und wissenschaftliche Werke aus dem Kreis sowie die umfangreichen Gesprächsaufzeichnungen umfasst, die Jürgen Egyptien derzeit zur Publikation vorbereitet. Daraus ein Verständnis von Georges Werk und Werkstatt zu entwickeln, ist im Anschluss an die vorliegende Edition allein schon insofern eine anspruchsvolle Aufgabe, als die für George ostentativ so wichtige Architektur seines Werks (Bruno Pieger spricht von der „Tektonik“ der Texte) zu all den anderen Werkstücken in einer – ganz offensichtlich produktiven – Spannung steht.

Titelbild

Stefan George: Von Kultur und Göttern reden. Aus dem Nachlass.
Ergänzungen zu Georges Sämtlichen Werken.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
460 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783608981520

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