Neue poetische Netzerkundungen?

Nora Gomringer stellt in „Gedichte aus/auf Netzhaut“ Betrachtungen zur Dichtung der Gegenwart an

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor etwa 40 Jahren konnte Horst Krüger noch einen Band zur Poetischen Erdkunde vorlegen. Die Landkarten haben sich seither vervielfacht. Empfindsame Reisen gelingen zwar nach wie vor, die Phänomene dieser Welt scheinen sich aber ausgedehnt zu haben – vor allem virtuell. Die Dichterin Nora Gomringer denkt in ihrer Rede, gehalten am 18. Februar 2019 im „Lyrik Kabinett München“, über neue Verflechtungen in der Gegenwart nach. Sie entwickelt so eine literarische Netzerkundung ganz eigener Art, die nun unter dem Titel Gedichte aus/auf der Netzhaut erschienen ist.

Ihre Reflexionen über den Begriff und die Metapher des Netzes reichen von der 2009 entdeckten Nephila Komaci – weder eine Romanfigur noch eine Superheldin, sondern nur eine Spinne – über Alltagsgegenstände und fast vergessene Cyberkrimis bis zu den virtuellen „Social Media-Plattformen“, die sie als „Megaphone für Texte“ und als „Brenngläser für die Selbstinszenierung“ versteht. Die Dichterin meint: „Die Löcher im Netz werden zunehmend interessanter, auch wandelt sich die Sprache um sie herum.“

Wer über die Durchlässigkeit der Netze nachsinnt, betrachtet – theoretisch gesprochen: problematisiert – die Beschreibbarkeit einer sich stets entziehenden Welt. Die Lyrik scheine ein „Unsterblichkeitselixier“ zu sein, sie sei „Geist der Zeit“ und forme den „Zeitgeist“. Weitere Klischees listet Gomringer spielerisch, aber nicht ironisch auf. Dichtung sei das „Vademecum für die Herzgebrochenen“. Die Publikation erfordere, dass Poesie gut komponiert zum Klingen gebracht werde. Die „Konzeption“ eines Gedichtbandes gleiche einem „Album in der Musik“. Das mutet heutzutage fast traditionalistisch an: Die Zahl der CD-Liebhaber geht zurück, die der Freunde der Dichtkunst auch. Gomringer schreibt lieber am Computer als mit der Hand – ganz unsentimental und pragmatisch. Sie sieht dies als Notwendigkeit an:

Für das eigene Schreiben tauschte ich früh das handschriftliche Notat gegen die Tastatur ein und finde bis heute, dass das Tippen der Geschwindigkeit des Denkens, aber vor allem der des Sprechens angemessen ist. Wenn ich schreibe, muss ich das Getippte vor mich hinlesen. Scherzhaft nenne ich meinen Schreibtisch einen Schrei-Tisch, versichere aber, eine angenehme Mitbewohnerin und Nachbarin zu sein.

Die Dichterin entdeckte zunehmend die Verbindung von Bild und Text – eine neue Form, eine „content-Erstellung im Netz für das Netz“. Beispiele werden gezeigt, ansehnlich, möglicherweise inspirierend, aber gleichwohl – wenig überraschend, weil die Kombination der Medien Bild und Text doch nicht so ungewöhnlich zu sein scheint. Trotzdem werden diese Verflechtungen als eine Neuheit vorgestellt: „Text, losgelöst vom Blatt, kann Text, Klang oder Bild werden. Und die direkte Kombination von Text und Bild kann in vielerlei Varianten gewinnend durchgespielt werden.“ Was Gomringer zeigt, sieht gefällig, ansprechend und geistreich aus. Sie macht die Netzwerke der Künste sichtbar, die durch die neuen Medien begünstigt und vervielfältigt, auch erweitert werden. Der Leser fragt sich dennoch skeptisch: Gab es diese Formen nicht schon vorher, nur vielleicht auf andere Art? Mit den neuen Vernetzungen nimmt die Dynamik möglicherweise zu, aber grundsätzlich neue Dimensionen der Dichtkunst ergeben sich vermutlich eher in Nuancen.

Die Dichterin beschreibt auch ihren Entwicklungsgang: „Mir war stets wichtig, die Bildende Kunst nicht zu weit von der Literatur abzutrennen, die ja durch ihre klangliche Komponente die Musik in sich mitführt. Seit Jahren sammle ich Kunst, versuche kleine und größere Arbeiten zu erstehen, die mich schriftstellerisch auch weiter beschäftigen und die mir zu Gefährten werden durch die Jahre.“ Gomringer stellt fest, dass das Netz heute, insbesondere der Raum der virtuellen Welten, eine „hilfreiche, unendliche Landschaft, überfordernd und relativierend zugleich“, darstellt. Gewiss ist zutreffend, dass ein Lyriker, ein Erzähler oder Essayist solche Möglichkeiten nutzen kann, einerseits fasziniert, andererseits ermüdet und erschöpft. Denkbar wäre aber auch, jenseits dieser Netze auszuharren, die Phänomene der Natur zu beobachten und, leise sinnierend, die Worte aneinander zu fügen und zu einem Gedicht zu formen. Ob die Dichterin daran denkt, bleibt offen. Abschließend bemerkt sie: „Ich vertraue darauf, dass die Inhalte der Lyrik stets stärker sind und sein müssen als jede Inszenierung, die man ihr addiert oder auch hin und wieder aufdrängt: Ein gutes Gedicht kann selbst ein Dichter nicht ruinieren.“

Gomringer, so neugierig wie behutsam, legt mit Gedichte aus/auf der Netzhaut einen kleinen Werkstattbericht vor – nachdenklich, erwägend, reflektierend. Wer dichtet, experimentiert – mit Kunstformen und Gestaltungen, mit neuen Möglichkeiten. Die Erprobung von effektvollen Inszenierungen zeigt aber letztlich, dass es auf diese variablen Darstellungsweisen gar nicht ankommt. Die Substanz entscheidet, die „Inhalte der Lyrik“ sind wesentlich. Von dieser Einsicht berichtet die Lyrikerin sehr anschaulich.

Titelbild

Nora Gomringer: Gedichte aus/auf Netzhaut – vom Verhandeln des Poetischen im Öffentlichen.
Stiftung Lyrik Kabinett, München 2019.
28 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776520

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