Deutsche Wende, seitenverkehrt
Frank Goosen erinnert mit seinem Roman „Kein Wunder“ an das geschichtsträchtige Jahr 1989
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn man jene Bücher, die unter dem nicht sehr glücklichen Sammelnamen „Wendeliteratur“ in die jüngste deutsche Literaturgeschichte Eingang gefunden haben, nach der Herkunft ihrer Verfasser ordnet, so fällt auf: Der Stapel mit den Texten von Schriftstellern, die im Osten Deutschlands ihre Sozialisation erfuhren, ist bedeutend höher als jener, der die Werke von Autoren umfasst, die zwischen Oldenburg und Oberstdorf, Göttingen und Geldern groß wurden. Über die Ursachen dieser Disproportionalität wurde schon häufig nachgedacht. Vertiefen wir diese, im Osten generell für schlechte Stimmung sorgende Diskussion an dieser Stelle nicht und freuen uns lieber darüber, dass mit Frank Goosen 30 Jahre nach dem historischen Wendejahr 1989 erneut ein Autor, der das Ende der DDR – das in vielerlei Hinsicht natürlich auch das Ende der alten Bundesrepublik war – vom Westen Deutschlands aus beobachtete, aus seinen Erinnerungen an diese Zeit, in der er selbst 23 Jahre alt war, nun einen richtig guten Roman gemacht hat.
Kein Wunder erzählt in auf drei Teile aufgeteilten 53 Kapiteln – der erste Teil spielt im Mai, der zweite im August, der dritte im November 1989, dem Mauerfall-Monat – die Geschichte dreier junger Männer aus Goosens Heimatstadt Bochum. Frank Dahlbusch alias Fränge hat es von der Ruhr an die Spree und Havel verschlagen, wo er als Westberliner „Weltenwanderer der Liebe“ sowohl diesseits als auch jenseits der Mauer eine Geliebte hat und somit nicht das geringste Interesse daran besitzt, an der deutsch-deutschen Situation etwas zu ändern. Brocki, mit bürgerlichem Namen Tilman Brock, Bäckerssohn, Deutsch-Englisch-Student auf Lehramt und politisch weit entfernt von jenen, die dem sozialistischen Experiment im Osten aus der sicheren Entfernung des Ruhrgebiets mit Sympathien begegnen, wäre gern ein ebensolcher Draufgänger in Liebessachen wie sein Freund, begnügt sich meistens allerdings damit, als Fränges Widerpart dessen Höhenflüge zu erden. Und Förster schließlich, der die beiden anderen erst auf dem Gymnasium kennengelernt hat und sich deshalb gelegentlich ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen fühlt, studiert zwar momentan noch Geschichtswissenschaften, hat es aber perspektivisch darauf abgesehen, Schriftsteller zu werden.
Voller Humor, detailreich und meistens aus der personalen Perspektive von Roland Förster, dem er wohl das meiste von sich selbst mitgegeben hat, erzählt Frank Goosen von einer Zeit des Wandels und drei Männern, die mit Anfang 20 nicht mehr zu jung sind, um sich gänzlich unreflektiert in die Ereignisse zu stürzen, andererseits aber auch noch nicht zu alt, um Unordnung und frühem Leid gänzlich aus dem Weg gehen zu können. Aus einem Besuch der in Bochum gebliebenen Förster und Brocki bei dem die Westberliner Subkultur-Szene als sein natürliches Habitat betrachtenden Fränge entwickelt er eine Ost-West-Komödie, die die Freundschaft der drei auf eine harte Probe stellt, die letzten Endes aber dennoch nicht zerbricht.
Denn als Förster Fränges Ostberliner Freundin Rosa zum ersten Mal gegenübersteht, weiß er, dass er eine ganze Menge dafür geben würde, an der Stelle seines Freundes zu sein. Und als er später die Hausbesetzer- und Dissidentenszene auf der anderen Seite der Mauer näher kennenlernt, in der sich die Tochter aus systemtreuem Hause bewegt, wird ihm intuitiv selbst klar, was eine Bochumer Freundin, mit der gemeinsam er einen Film über den Niedergang des Ruhrgebiets geplant hat, nach dem Scheitern des gemeinsamen Projekts in die Worte fasst: „Hier kannst du nichts mehr erzählen, Förster. Die Geschichten werden jetzt woanders erzählt.“
Kein Wunder bewegt sich federleicht zwischen Ost und West. Frank Goosen hat genau recherchiert beziehungsweise sich von in Ostdeutschland aufgewachsenen Freunden und Kollegen erzählen lassen, wie das war in einem Land, von dem Jugendliche heute immer weniger wissen. Und so spielen der Campingkocher „Juwel“ aus dem VEB Lötgeräte Dresden und die ebenfalls in der Elbmetropole produzierte Zigarettensorte gleichen Namens, die Mokka-Milch-Eis-Bar in der Ostberliner Karl-Marx-Allee und das Lied, das der Musiker und Komponist Thomas Natschinski über sie geschrieben hat, Hermann Kants Roman Die Aula und Christa Wolfs Störfall, der Palast der Republik und die Buchhandlung „Das gute Buch“ auf dem Alexanderplatz, mürrische Grenzer und von Wahlbetrügereien genervte Bürger genau jene kleinen Nebenrollen, die es braucht, um eine vor Jahrzehnten untergegangene Welt in den fiktiven Grenzen eines Romans glaubhaft wiedererstehen zu lassen. Dafür, dass der Autor andererseits für die in Bochum spielenden Kapitel seines Buchs bestens aus dem eigenen Erleben schöpfen konnte, genügt ein Blick auf seine bisher vorliegenden Romane und Erzählungen.
Im dritten und letzten Teil des Romans erzählt Goosen schließlich vom Verschwinden der DDR. Die Mauer fällt und damit wird auch das schöne Leben, dass Fränge zwischen Marta in Westberlin und Rosa in Ostberlin in zu genießen verstand, hinfällig. Und was für Roland Förster ein halbes Jahr vorher noch Zukunftsmusik war – „Mit diesen fremden Menschen wie denen hier […] zusammenzuleben, das ist doch Science-Fiction, dachte Förster.“–, rückt nun langsam näher. Aber wie soll das funktionieren? Was kommt da auf die Deutschen und die Welt zu?
„Willkommen im Land der Spieler und Zocker. Ihr habt es so gewollt“, lautet zu diesen Fragen der lakonische Kommentar von Försters Vater, einem von Selbstzweifeln geplagtem Akademiker, dem sein Sohn immer wieder aus depressiven Phasen heraushelfen muss. Für Rosa und ihren Freundeskreis hingegen scheint klar: Es geht darum, die Verhältnisse besser zu machen, nicht, sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Der Blick auf eine Zukunft mit den Freiheiten, die man immer für sich ersehnte, birgt aber auch schon die Enttäuschungen, die kommen werden: „Man verspricht sich unheimlich was davon, ahnt aber, dass es wahrscheinlich gar nicht so toll ist.“
Auch mit der Liebe ist es in einem Deutschland, in dem man nun von Ost nach West mit dem Trabi und umgekehrt mit dem VW fahren kann, ohne eine Grenzkontrolle passieren zu müssen, nicht einfacher geworden. Dass es zwischen Fränge und seinen beiden Liebschaften aus der Zeit des geteilten Berlins nicht weitergeht wie bisher, ist schnell klar. Dafür hat sich Brocki endlich ein Herz gefasst und ein von ihm bisher nur aus der Ferne verehrtes Mädchen angesprochen. Eine engere Beziehung zwischen Förster und Rosa aber braucht wohl noch Zeit, um sich entwickeln, auch wenn die Chancen dafür am Ende des Romans nicht schlecht zu stehen scheinen.
Goosens Held weiß freilich, was in der Zwischenzeit zu tun ist. Er, für den Schreiben immer „Aufräumen im Kopf“ bedeutet hat und der „längst dazu übergegangen [war], alles zu notieren, weil man ja nie wusste, was man damit mal anfangen konnte“, macht einfach aus dem gescheiterten Filmprojekt einen Roman, in dem er die historisch kurze Zeit des Wandels noch einmal aufleben lässt. Es könnte gut das Buch sein, welches dem Leser nun unter dem Titel Kein Wunder vorliegt. Jakob Heins – eines (ostdeutschen) Bruders im Geiste Frank Goosens – Urteil jedenfalls stand schnell fest und lautete: „Ich kenne kein besseres Buch von einem Wessis über den Osten.“ Dem lässt sich kaum widersprechen.
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