Ein täuschend versöhnliches Kleinod

„Akbara und andere Märchen“ von Tschingis Aitmatov lädt ein, die Aktualität von Märchentropen zu reflektieren

Von Senka Gorbunov(a)RSS-Newsfeed neuer Artikel von Senka Gorbunov(a)

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Märchen sind in dem Band Akbara von Tschingis Aitmatov versammelt. Das erste titelgebende Märchen setzt in einer fernen Zeit der Khans an, als die abgestorbenen Steppen um den Balchaschsee noch üppiges, fruchtbares Land waren. Das letzte Märchen wiederum führt in die Gegenwart des Erzählers, in den Moskauer Zoo, aus dem eine kirgisische Familie ein verwunschenes Äffchen befreit. Diese Zeitreise und die Verflechtung von Gegenwart und Mythos sind bezeichnend für Aitmatovs Schreiben. Zu Naturphänomenen verwandelte Menschen tauchen darin ebenso selbstverständlich auf wie die Mafia und menschenfressende Hexen. Alltagsgegenstände werden beschworen, zum Teil der Landschaft zu werden, verwandeln sich in Wälder und Seen und retten vor Verfolgenden. Der Sammelband ist zweifelsohne ein erzählerisches Kleinod, wird allerdings auf eine Weise inszeniert, die Aitmatovs Schaffen nicht gerecht werden kann.

Bereits im Paratext wird Akbara als eine aufgezeichnete, mündliche Erzählung von Aitmatov angekündigt, der Übersetzer Friedrich Hitzer soll diese mit Aitmatovs Kindern gelauscht, notiert, mit dem Einverständnis des Autors redigiert und aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt haben. Somit wird ein Setting für eine orale Erzähltradition suggeriert: der erzählende Familienvater, seine zwei Kinder, die im dritten Märchen sogar zu Protagonist:innen werden, und der dokumentierende Fremde, der die Idylle anscheinend kaum stört, denn dieser sei ein märchenhaft treuer Begleiter von Aitmatov auf seinen Lesereisen in Deutschland gewesen.

Um die Bedeutungen einer mündlich erzählten Geschichte nachzuvollziehen, ist es unabdingbar, den konkreten Erzählkontext zu kennen – den Anlass des Erzählens, die gewählte Sprache (also etwa das Russische mit eventuellen kolonialen Konnotationen), den Raum, aus dem die Rückbezüge auf vorzeitliche Zeiten und ferne Orte unternommen werden. Die Setzung im Paratext ist der Versuch, diesen Kontext zu vermitteln – dabei wird dieser zwangsweise reduziert und fast schon bagatellisiert, eine Vielzahl an kulturellen Verknüpfungen bleibt für die Lesenden verborgen, die Aitmatovs Werk und die Geschichte Kirgisistans nicht kennen. Der kurze Märchenband sollte deshalb als Einladung dienen, sich mehr damit auseinander zu setzen, um die größeren Zusammenhänge des familiären Erzählens nachzuvollziehen. Der Unionsverlag bietet hierzu weiterführendes Material auf der eigenen Website, allen voran einen Artikel von Friedrich Hitzer, der den eigenen Eurozentrismus in der Begegnung mit Aitmatov reflektiert, dabei jedoch exotisierende Begriffe und Kategorien reproduziert. Auf der Verlagsseite findet man auch einen ausführlichen Essay von Aitmatov aus dem Jahr 1975 darüber, was seine Biografie geprägt hat, welche Landschaften für sein Schaffen besonders relevant waren, wie Sprachen in seiner Familie gehandhabt worden sind. Der Essay ist repräsentativ für Aitmatovs Kunst, verschiedene Ebenen stilistisch zu verknüpfen, insbesondere für die Sinnlichkeit und die Unmittelbarkeit seines Erzählens. Lesenden, die sich nach der Lektüre von Akbara nicht nur mit Sekundärquellen begnügen möchten, sei der Roman „Der Richtplatz“ empfohlen. Darin begegnet einem die Khantochter Akbara in Wolfsgestalt wieder, nicht als Fortsetzung ihrer Verwandlung im Märchen, sondern als parallel dazu erklingendes Motiv.

Anders als bei Sammelbänden, die einen Einblick in die Mythen einzelner Länder geben und diese einerseits festhalten und andrerseits von dem aktuellen Zeitgeschehen entkoppeln, zeichnen sich die ausgewählten Märchen von Aitmatov durch den Dialog mit der Gegenwart aus. Aitmatov verknüpft mythische Elemente auf eine Weise mit der Realität, bei der diese nicht als das Fremde, das Eindringende oder das Fantastische eine Sonderstellung einnehmen, sondern in einem Fortsetzen, einem Weitererzählen ihre Aktualität und ihre Lebendigkeit beibehalten. Genau deshalb ist es umso wichtiger, sich den historischen Kontext der Entstehung dieser Märchen zu vergegenwärtigen und die zeitliche Einordnung für das Erscheinen der Übersetzung im Hinterkopf zu behalten:

Der besprochene kleine Sammelband Akbara und andere Märchen ist die Neuauflage des Unionsverlages in Zürich von einer bereits 1997 im Leipziger Verlag Faber & Faber erschienenen Ausgabe. Im Erscheinungsjahr der Neuauflage 2024 ist das Weltgeschehen ein anderes – seit der Erweiterung des Angriffskrieges von Russland auf Ukraine wurde dekolonialer Aktivismus dringlicher und sichtbarer, auch in Kirgisistan. An Aitmatov wird hierbei des Öfteren gedacht. Er wird als Schriftsteller erwähnt, der bereits vor dem heutigen dekolonialen Diskurs in seinem Werk zu Sowjetzeit ein Weltbild beschreibt, das nicht den Kreml zentriert. Er thematisierte explizit Missstände und zeigte Willkür und Gewalt autoritärer Herrschaft auf. Entscheidend ist hierbei auch das Hinterfragen der Bedeutung der russischen Sprache als Mittel der Besatzung und Unterdrückung. Die Frage danach, welche Einfluss es hat, dass Aitmatov über Kirgisistan auf Russisch schrieb und die Übersetzung ins Deutsche deshalb aus dem Russischen erfolgt, ist ebenso aus politischer Sicht relevant, wie sie aus komparatistischer Perspektive interessant ist. Diese Reflexion vermag ein einzelner kleiner Märchenband nicht auszuschöpfen – dass diese bei der Neuauflage nicht einmal angerissen wird, trägt zum Eindruck einer bewusst versöhnlichen Gute-Nacht-Geschichte bei, doch diese Versöhnlichkeit täuscht über ein reichhaltiges und vielschichtiges Werk hinweg.

Titelbild

Tschingis Aitmatow: Akbara. und andere Märchen.
aus dem Russischen von Friedrich Hitzer.
Unionsverlag, Zürich 2024.
74 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783293006232

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