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Alexander Gorkows „Soundtrack des Lebens“ in den 1970er Jahren

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pink Floyd gehört zweifelsfrei zu den bekanntesten und wichtigsten Rock-Bands überhaupt. Mit Alben wie The Dark Side of the Moon, Wish You Were Here oder The Wall haben sie nicht nur die populäre Musik des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt, sondern auch Einfluss auf andere Bereiche der Kultur und die Wissenschaft genommen. So schreibt der 2011 verstorbene Medienwissenschaftler Friedrich Kittler in seinem der Band gewidmeten Text Der Gott der Ohren: „Pink Floyd bleibt im Kopf – eben weil den Leuten kein Gedächtnis mehr gemacht werden muß, sondern Maschinen selber das Gedächtnis sind.“

Mit Maschinen meint Kittler die technischen Medien. Wie im Kontrast dazu erscheint dann zunächst jene Papier-gespeicherte Erinnerungsarbeit, welche die Musik der Band als Soundtrack of Life nutzt, wie sie kürzlich vom 1966 in Düsseldorf geborenen Autor Alexander Gorkow mit Die Kinder hören Pink Floyd vorgelegt wurde. Sein Roman wirkt auf vielfältige Weise dokumentarisch, ja, beinahe wie ‚Oral History‘, wenn er die Geschichte seines Erzählers eng an das Kolorit der westdeutschen 70er Jahre und die Musik von Pink Floyd koppelt.

Erzählt wird von einem Jungen, der zu Beginn der Erzählung, im Jahre 1976, neun oder zehn Jahre alt ist. Seinen Namen erfährt der Leser (noch) nicht; die Geschichte ist aus seiner Perspektive geschrieben. Er lebt zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem Vorort von Düsseldorf in bürgerlichen Verhältnissen. Von seinem Vater werden er und seine Schwester nur „der Junge“ und „das Mädchen“ genannt, seine Mutter tritt zumeist als Hausfrau in Erscheinung, die einkaufen geht, Quittengelee einkocht, sich vom Vater hin und wieder in politische Gespräche verwickeln lässt und den Jungen ständig fragt, ob er etwas essen wolle. Die Schwester ist ein „Contergan-Kind“, bei dem das Medikament zu einem schweren Herzschaden geführt hat. Sie verbringt die Zeit, die sie nicht in der Düsseldorfer Uniklinik liegt oder in der Schule (und dort vor allem in einer jung-sozialistischen Schülerinitiative) verweilt, in ihrem Zimmer und hört zusammen mit ihrem Bruder Schallplatten von Pink Floyd.

Im Laufe der Erzählung werden wir intime Zeugen der Lebenswelt der 1970er Jahre. Gorkow zeigt sie uns mit den Augen seines schweigsamen, zurückhaltenden, stotternden Protagonisten. Wir lesen von ihr im Präsens in den Worten und Gedanken des „Kindes Nummer 2“, wie der Junge von seinem Arzt genannt wird. Und das, was wir durch ihn hindurch sehen, hören und denken, ist eine wahre Wunderwelt voller Phantasmagorien, Schreckensbilder, popkultureller Fragmente, halb- oder gar nicht verstandener Erwachsenenprobleme und den Alltäglichkeiten eines Jungen mitten in der Latenzphase.

In der Schule träumt er, wird von seinen Lehrern vor der Klasse bloßgestellt oder sogar geschlagen. Er freundet sich mit seinem am Down-Syndrom leidenden Sitznachbarn Hubi an, der ihm schon aufgrund seiner gespreizten Ausdrucksweise als Wahrsager und Sprachrohr zugleich fungiert. Er erlebt die alltägliche Gewalt und Grausamkeit der Kinder, die Affektiertheit, Falschheit und Vergangenheitsleugnung der Erwachsenen und erhält – man kann es nicht anders sagen – eine tiefe intellektuelle und kulturelle Vorprägung durch seine Teenager-Schwester.

Alles, was der Junge nur halb oder gar nicht verstanden hat und er trotzdem wörtlich wiedergibt, setzt Gorkow im Text kursiv. Dieses Stilmittel wirkt durch den Kontrast von kindlichem Denken zu erwachsener Sprache („Eine Abordnung der Stadt ist vorstellig geworden“) oft überaus komisch und unterstreicht den Gesamteindruck der Erzählung: Die Welt aus der Sicht dieses Kindes ist ein Mysterium voll Horror und Komik. Die Phantome, die sich hinter Namen wie dem CDU-Politiker Rainer Barzel („das Monster“), dem Heute-Moderator Gerhard Klarner („er trägt schwer an Zusatzinformationen“) oder des FAZ-Herausgebers Johan Georg Reißmüllers (die Schwester nennt ihn „Reichsmüller“) verbergen, verheißen ihm nichts Gutes. Sie wirken auf ihn – und durch seine Erzählung hindurch auch auf uns – wie die Vorboten des Schreckens, mit denen sich der Vater bei der Zeitungs- und Buchlektüre und dem Fernsehen auseinandersetzt. Die Kindheit der 1970er Jahre ist voll solcher aus der Vergangenheit und der Tagespolitik heraufbeschworener Phantome.

Und dann ist da noch die Kulturproduktion, die scharf in solche Protagonisten unterteilt wird, die „zum Establishment gehören“ und solche, die Anti-Estabilshment sind. Garkows Erzählung unterzieht Figuren wie Heino, Demis Rossus, Bands wie The Sweet oder T. Rex ausführlichen dialogischen Erörterungen seiner Protagonisten. Für den Jungen sind sie zumeist Horrorgestalten, die ihm nach dem Leben, zumindest aber dem Verstand trachten – Heino etwa ist „der Nebelmann“ oder „der helle Horrorvogel mit den geschürzten Lippen“, zu den „Faschisten“ gehört er sowieso (auch, wenn nur die Schwester genau weiß, was das bedeutet). Die Tiraden über ihn erinnern in ihrer unglaublichen Komik und kulturkritischen Treffsicherheit mehr als einmal an Thomas Bernhard.

Die Brücke über den kulturellen Abgrund und zugleich dessen anderes Ufer bildet Pink Floyd, von denen Grokow über das zigfache Abhören der LPs durch seine kindlichen Protagonisten notengenau und nah am Songtext die Stimmungen und Symbolik in seinen Roman überträgt. Die technischen Medien, die wie ein Heiligtum behandelte Stereoanlage des Vaters und der Dual-Plattenspieler der Schwester, bilden die Waffen, die gegen die zumeist vom Fernsehen ans Laufen gebrachte Kulturindustrie (Adorno spielt in den Mono- und Dialogen des Jazz-vernarrten Vaters keine geringe Rolle!) ins Feld geführt werden, um sich zu wappnen: „Als der Marantz knurrt, gleiten Wellen durch den Raum, wir stehen unter Strom.“

Selten liest man von einem derartig passiven Erzähler wie dem Jungen. Fast alles, was geschieht, geschieht nicht durch, sondern mit ihm. Seine Rede ist stets nüchtern, oft elliptisch. Der Roman gerät so stilistisch zur Dokumentation, in der Geschehnisse als gleichzeitige Erinnerungsarbeit, Verklärung und Verkennung vergangener Ereignisse und damit Mentalitätsgeschichte der 70er Jahren präsentiert werden. Das Befremden des Kindes vor der Erwachsenenwelt, ihren Ritualen und ihrer Kultur wird von Gorkow so in einen unverwechselbaren Erzählstil gegossen.

Nach nur zwei Seiten hat man sich in den Roman verliebt. Beim Lesen laut lachen zu müssen, ist eine seltene Bestätigung für eine Komik, die rein aus der Form hervorgeht. Und dann wieder ist man erstaunt aufgrund der schon durch den Textsatz hervorgehobenen Passagen – oft sind das Sätze wie „Alles glüht.“ oder „Atme.“ –, die zeigen, wie ernst die Sache doch eigentlich für den Erzähler ist.

Fast möchte der Rezensent deshalb empfehlen, die Lektüre vor dem Epilog-Kapitel zu beenden, denn, was darin folgt, relativiert zahlreiche der vorherigen Eindrücke. Der Stil wechselt ins perfektische Erinnern an die 70er Jahre, man erfährt Namen, es gibt Begegnungen mit den vorherigen Mysterienfiguren von Pink Floyd. Man liest vom Schicksal des Erzählers und seiner Familie. Aus der Geschichte wird eine Historiografie, fast ist man versucht, die Biografie des Autors mit der Erzählung abzugleichen. Man wird regelrecht heruntergeholt aus dem Himmel, in dem der kindliche Erzähler sehnsüchtig nach dem Dreiecksprisma vom Dark Side of the Moon-Cover gesucht hatte. Das auf den Rückumschlag des Buches gedruckte Zitat bekommt auf einmal den Charakter der Ansprache an seine Leser: „Schau in die Welt, Junge, nicht in den Himmel!“ Alles, was wir vorher mit den Augen des Kindes gesehen und mit ihm gefühlt haben, verschwindet danach hinter den schwarzen Buchdeckeln.

Titelbild

Alexander Gorkow: Die Kinder hören Pink Floyd. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462052985

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