Glanz und Elend eines sowjetischen Diplomaten

Die Tagebücher des Londoner Botschafters Iwan M. Maiski geben Einblicke in die Beziehungen zwischen der UdSSR und Großbritannien

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Foto aus der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre. Wir sehen einen nicht übermäßig großen, schnauzbärtigen Mann in einem dunklen, gut geschnittenen, zweireihig geknöpften Mantel, die Hose mit scharfer Bügelfalte, elegante Schuhe, die Hände behandschuht, auf dem Kopf ein Zylinder, die Augen strahlen freundliche Zuversicht aus: ein Herr comme il faut, vielleicht ein Bankier, vielleicht auch ein Unternehmer unterwegs zu einem wichtigen Termin – und zwar in einer englischen Stadt. Ein zweites Foto, aufgenommen im Frühsommer 1943 zeigt ihn in anderer, fast konträrer Stimmung, verflogen sind Zukunftsgewissheit und Optimismus. Unser Protagonist steht am Rand einer kleinen, gelöst dreinschauenden und plaudernden Gesellschaft, sein Gesichtsausdruck ist diesmal ernst, fast melancholisch, der Blick scheint nach innen gerichtet, am Gespräch der anderen nimmt er nicht teil.

Der Mann ist nicht irgendwer. Oskar Kokoschka hat ihn gemalt, am Schreibtisch sitzend, in der Hand einen Füllfederhalter, dahinter vor der Wand ein Globus und eine nicht eindeutig zu identifizierende männliche Gestalt, gekleidet in eine Art Uniform mit ausgestrecktem Arm, vermutlich Josef Stalin. Das wäre insofern plausibel, als es sich bei dem Portraitierten um Iwan Michailowitsch Maiski handelt, den sowjetischen Botschafter in London, der dort von 1932 bis 1943 amtierte und dem Künstler in seinem Büro Modell gesessen haben dürfte. Tatsächlich genoss Maiski im Vereinigten Königreich einige Prominenz. Er war dort bestens vernetzt und pflegte gesellschaftlichen Umgang mit der politischen und intellektuellen Elite des Landes. Auf dem Parkett der Hauptstadt bewegte er sich mit einer Sicherheit, als ob er schon immer dazugehört hätte. Geschickt spielte er auf den Klaviaturen der öffentlichen Meinung, die er zugunsten der Sowjetunion zu beeinflussen und zu instrumentalisieren suchte. Die Spuren, die er hinterlassen hat, kann man in den britischen und sowjetischen Archiven ergründen, in Bibliotheken und Nachlässen der damaligen Akteure. Mindestens ebenso wichtig für biografische Erkundungen sind die persönlichen Aufzeichnungen, die Maiski mit einiger Regelmäßigkeit, ausgestattet mit literarischem Talent, wohl auch literarischem Ehrgeiz zu Papier gebracht hat.

Maiskis Tagebücher sind 2015 in drei Bänden bei Yale University Press und nun in einer zusammengedampften einbändigen Ausgabe bei C.H. Beck in München erschienen. In den 1990er-Jahren zufällig im Archiv des russischen Außenministerium aufgespürt, nach langwierigen Genehmigungsprozeduren herausgegeben, in Kontexte eingebettet und erschöpfend annotiert hat sie der Historiker und Russlandexperte Gabriel Gorodetsky. Maiski, ein nom de guerre, den er sich im Exil zugelegt hatte, hieß ursprünglich, wie der informativen Einleitung zu entnehmen ist, Lachowiecki, war der Sohn eines polnisch-jüdischen Mediziners, studierte in St. Petersburg Geschichte und Philologie, wurde jedoch wegen revolutionärer Umtriebe der Universität verwiesen. 1906 schloss er sich den Sozialisten an, und zwar dem Mehrheitsflügel, den Menschewiki. Angeklagt wegen Teilnahme an der Revolution von 1905, wurde er ins sibirische Tobolsk verfrachtet, einige Zeit danach ins Ausland verbannt. Er ging nach München, widmete sich dem Studium der Nationalökonomie, ließ sich 1912 in London nieder, schloss Freundschaft mit den späteren sowjetischen Außenministern Georgi Tschitscherin und Maxim Litwinow, kehrte nach der Februarrevolution 1917 zurück nach Russland, wo er sich aktiv gegen die Partei Lenins engagierte. Als sich die Aussichtslosigkeit dieser Position abzeichnete, distanzierte er sich von seiner Vergangenheit und unterwarf sich den siegreichen Bolschewiki, die ihn in Gnaden aufnahmen und mit verschiedenen Funktionen betrauten. Obwohl Maiski mit einem doppelten Makel behaftet war – als ehemaliger Menschewist und Jude – machte er, protegiert von seinem Mentor Litwinow, Karriere im diplomatischen Dienst, durchlief verschiedene Stationen, ehe er 1932 zum Botschafter in London ernannt wurde.

Seine Mission dort war von Anfang an mit Problemen mannigfacher Art konfrontiert. Nicht allein die britischen Eliten begegneten der Sowjetunion mit erheblichem Misstrauen, das im März 1933, wenige Monate nach Maiskis Ankunft, durch den Prozess – nicht der erste und nicht der letzte in einer langen Kette von Schauprozessen – gegen sechs der Sabotage beschuldigte britische Ingenieure des Elektrokonzerns Metropolitan Vickers neue Nahrung erhielt. Die Furcht vor dem Kommunismus, dem man unvermindert in globalem Maßstab expansive, die eigenen weltpolitischen Interessen beeinträchtigende und den gesellschaftlichen Frieden auf der Insel gefährdende Absichten unterstellte, saß tief. Hinzu kam die Lage auf dem europäischen Kontinent, die sich seit 1933 durch die zunehmend aggressiver inszenierte Politik der Berliner Regierung in dramatischem Tempo veränderte. Um der daraus erwachsenden Bedrohung Herr zu werden, auch neue, tragfähige Balancen zwischen den maßgebenden Staaten zu schmieden, gab es wesentlich zwei Optionen. Die eine setzte darauf, das raumgreifende Machtstreben der NS-Diktatur durch Entgegenkommen und Zugeständnisse zu begrenzen, zumal man auch im Vereinigten Königreich je länger desto weniger glaubte, die Augen davor verschließen zu können, dass die Versailler Nachkriegsordnung revisionsbedürftig war. Das war der Kern des damals wie später viel gescholtenen Appeasement, eine Strategie, die in London vor allem die Tories, am eindrücklichsten Arthur Neville Chamberlain, Premierminister von 1937 bis 1940, auf ihre Fahnen schrieben. Das andere, diesem diametral zuwiderlaufende Konzept wollte Deutschlands Eroberungsgelüste mit einem System kollektiver Sicherheit einhegen und dauerhaft bändigen. Als dessen tragende Pfeiler sollten die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien fungieren.

Diese Linie verfolgten in Moskau der Chef des Außenkommissariats Litwinow, der Vertreter einer Westorientierung, der 1930 die Nachfolge Tschitscherins angetreten hatte, und mit ihm als sein getreuer Knappe der Londoner Geschäftsträger Maiski. Überzeugt, dass dies unter den gegebenen Umständen die einzig wirksame Taktik gegen das den Frieden bedrohende Deutsche Reich sei, suchte er unter englischen Politikern, Journalisten und Intellektuellen nach Unterstützern. Er fand sie im Medienmogul Lord Beaverbrook, in David Lloyd George, dem Premier aus dem ersten Weltkrieg, der sich in der Rolle des elder statesman gefiel, in den Sozialreformern Beatrice und Sidney Webb, bei denen er regelmäßig verkehrte, nicht zuletzt auch beim Anti-Appeaser Winston Churchill, der 1940 nicht zufällig den glücklosen Chamberlain ablöste. Gegen diesen hegte Maiski starke Aversionen. Er sei, notierte er im März 1938, „engstirnig, trocken, begrenzt“. Es fehle ihm „nicht nur an äußerer Brillanz, sondern auch an einem weiten politischen Horizont“, die Welt sehe er allein „durch das Prisma von Dividenden und Börsenkursen.“ Nicht ohne Geschick spannte der sowjetische Botschafter zumindest Teile der britischen Öffentlichkeit für seine Zwecke ein, was den Außenminister Anthony Eden im Februar 1936 veranlasste, vor ihm zu warnen: „Nehmen wir uns in Acht vor Mr Maiski, er ist ein in der Wolle gefärbter Propagandist.“

Der Untertitel des Buches rühmt Maiski als Diplomaten „im Kampf gegen Hitler“. Das war er wohl, aber mehr noch und zuvorderst galt sein Kampf den Interessen seines Landes, die identisch waren mit denen der bolschewistischen Partei und dessen Führer Josef Stalin. Hier gab es kein Wenn und Aber; auch die finstersten Winkelzüge des Moskauer Regimes verteidigte und rechtfertigte er, ohne mit der Wimper zu zucken. An Beispielen dafür mangelt es in den Aufzeichnungen nicht. Immer wieder wird deutlich, dass er ungeachtet seiner pragmatischen Wendigkeit über ein geschlossenes kommunistisches Weltbild verfügte, in dem sich Prinzipien mit Projektionen und Illusionen paarten. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass die Ordnungen der westlichen Welt in absehbarer Zeit auf Nimmerwiedersehen im Orkus der Geschichte verschwinden würden. „Mein Lebensfaden“, heißt es unter dem 19. Januar 1939, verläuft „entlang der Grenze zweier großer Epochen, zwischen dem Ende des Kapitalismus und dem Anfang des Sozialismus“. Dessen Strahlkraft, lautete die Gewissheit, werde durch die Widersprüche unter den imperialistischen Mächten, vor allem durch den 1939 entfesselten Krieg erheblich gewinnen. Solche Vorstellungen, so im September 1939 die Diagnose, seien „inzwischen weit verbreitet – selbst in bürgerlichen Kreisen.“ Ein paar Monate später beschwor Maiski in metaphorischen Wendungen die nahende Katastrophe, den großen ‚Kladderadatsch‘, der die alte Welt unrettbar verschlingen werde: „Eine gigantischen Welle. Sie wird größer, schwillt an, richtet sich höher und höher. In  ihrer dunklen Tiefe verbergen sich mächtige Turbulenzen“ – und so weiter und so fort.

In solchen Äußerungen spiegelten sich marxistisch grundierte Erwartung und Autosuggestion. Manches davon wirkt floskelhaft, aber es war keineswegs bloße Rhetorik, die hier zum Ausdruck gebracht wurde, vielmehr unverbrüchliche Überzeugung. Einer solchen bedurfte es namentlich immer dann, wenn es galt, die unangenehmen Aspekte der Realität zu bemänteln, seine Gesprächspartner, aber auch sich selber zu beschwichtigen. Zum Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, der die ungestörten Blitzkriege der Deutschen mit ermöglicht hatte, überdies der von Maiski zuvor verfolgen Linie diametral zuwiderlief, lesen wir unter dem 7. Juli 1940, die sowjetische Regierung könne „in der Hegemonie eines einzelnen Staates über Europa keine Gefahr erkennen, erst recht nicht in der Ambition der Deutschen, sich andere Völker einzuverleiben.“ Und weiter, nun ins Grundsätzliche ausgreifend, schreibt Maiski: Die „guten Beziehungen“ zwischen Moskau und Berlin „beruhen nicht auf vorübergehenden, opportunistischen Erwägungen, sondern jeweils auf den nationalen Lebensinteressen beider Staaten.“ Dass Polen als Resultat derart deklarierter Interessen von der Landkarte gelöscht wurde, wird ein andermal mit der dort zu beobachtenden Unfähigkeit erklärt, ein eigenes Staatswesen aufzubauen und sich „über einen längeren Zeitraum hinweg als uneingeschränkt selbständiger und souveräner nationaler Organismus“ zu behaupten. Das erinnert fatal an den in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen, abschätzigen Topos von der ‚polnischen Wirtschaft‘. 1940 meinte das nichts weniger, als dass die Polen selber schuld seien, wenn sie von den westlichen und östlichen Nachbarn unter Bruch des Völkerrechts überfallen und drangsaliert werden.

Mit dem Wechsel an der Spitze des sowjetischen Außenministeriums von Litwinow zu Molotow, ein Hardliner und enger Gefolgsmann Stalins, färbte unmittelbar ab auf die Position Maiskis in London. Er büßte an Selbständigkeit ein und wurde eng an die Leine gelegt. Dass er bis dahin die ‚Säuberungen‘ und Liquidierungswellen, von dem der diplomatische Dienst 1938 vergleichsweise spät erfasst wurde, unbeschadet überstand, grenzt an ein Wunder und erklärt sich vermutlich daraus, dass man ihn auf seinem Posten im Blick auf seine intime Kenntnis der englischen Gegebenheiten für unverzichtbar hielt. 1939, nach dem Hitler-Stalin-Pakt sank sein Ansehen im Vereinigten Königreich, wie der Herausgeber Gorodetsky hervorhebt, „auf einen Tiefpunkt“, zugleich aber auch, was Maiski sehr beunruhigt haben dürfte, in Moskau. Dies änderte sich erst mit dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion. Nun wurde Maiski erneut zum gefragten Verhandlungspartner, der nicht müde wurde, zur Entlastung der bedrängten Roten Armee die Bildung einer zweiten Front im Westen anzumahnen.

Erfolg hatte er damit nicht, und im Sommer 1943, als sich nach Stalingrad die Waagschale auch ohne zusätzliche Anstrengungen der westlichen Alliierten zugunsten der Sowjetunion neigte, wurde er abberufen, seine Expertise wurde nicht mehr gebraucht. Die Melancholie, die in dem eingangs beschriebenen zweiten Foto zum Ausdruck kommt, verriet die dunklen Ahnungen, die ihn umtrieben. In Moskau erwartete ihn tatsächlich nichts Gutes. Ihn, den Vertreter der ‚alten Schule der sowjetischen Diplomatie‘, die noch nicht von willenlosen und ungebildeten Funktionären beherrscht wurde, strafte man mit „Geringschätzung und Antipathie“. Er wurde auf unbedeutende Positionen abgeschoben, fristete ein Dasein als Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, schrieb seine Memoiren, welche die Offenheit seiner Tagebücher vermissen ließen, wurde 1953 verhaftet und des Hochverrats angeklagt, 1955 schuldig gesprochen, aber postwendend begnadigt und 1960 rehabilitiert. Er überlebte, isoliert, ohne Würdigung seiner Lebensleistung und ohne offizielle Anerkennung seiner Verdienste, die er in den elf Jahren als Botschafter in London erworben hatte.

Titelbild

Gabriel Gorodetsky (Hg.): Die Maisky-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler. 1932-1943.
Übersetzt aus dem Englischen von Karl Heinz Sieber.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
896 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783406689369

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch