Plötzlich bleibt keine Zeit mehr

Jessie Greengrass lässt den Leser in ihrem neuen Roman „Und dann verschwand die Zeit“ die Folgen des Klimawandels spüren

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Caroline und ihr Bruder Pauly wohnen zusammen mit Sally und ihrem Großvater im High House, einem autarken Zufluchtsort, welcher den Fluten trotzt, in denen die Welt im neuen Roman Und dann verschwand die Zeit von Jessie Greengrass versinkt. Es ist die Dystopie einer nicht allzu fernen Zukunft. Kipppunkte sind überschritten. Auf Dürre folgt Starkregen, den der trockene Boden nicht aufnehmen kann. Wie es zu einer im Roman fast alles vernichtenden Flut kam, erfährt der Leser im Rückblick und abwechselnd aus der Perspektive von Sally, Pauly und Caroline, genannt Caro. Wenn Caro ihren Laptop vor der Katastrophe aufklappte, las und hörte sie von Wassermassen, Zerstörung und Suche nach Überlebenden. Während die meisten Menschen die Erosion der ungeschützten Küsten, die Starkregen und Stürme mit Gelassenheit hingenommen hatten, bereiteten die Eltern von Caro und Pauly – einem Forscher und einer Umweltaktivistin, die gegen den Klimawandel und „für Einsicht“ kämpften – das High House für ihre Kinder vor: Gemüsegarten, Generator, Brunnen, Komposttoilette, holzbefeuerter Boiler, Samenkartons und in einer Scheune Schuhe, Lebensmittelvorräte, Ersatzwerkzeuge und Kleidung für Jahre.

Dabei hatten sich alle längst an die langen Hitzeperioden und Sommerunwetter gewöhnt, wie vermutlich manch ein Leser in der Gegenwart. „Man denkt, man hat noch Zeit“, dachten die Kinder. Zunächst passiert auch über weite Strecken des Romans fast nichts. Der Großvater erzählt von der Geschichte des Dorfes am Fluss, von einer früheren Sturmflut. Das Geschehen liegt in der Vergangenheit oder weit entfernt vom High House, in den Nachrichten im Fernsehen: „Die Berichterstattung erfolgte emotionslos.“ Obwohl von ersten Opfern berichtet wurde, gesteht Erzählerin Sally, dass „ihr Tod keine Katastrophe für uns“ war. Alles ändert sich schlagartig für die Bewohner des High House. Das gesamte System, das als unangreifbar galt – Deiche und die trügerische Sicherheit der immer verfügbaren Lebensmittellieferungen – bricht von einem Tag auf den anderen zusammen. Die Eltern von Caro und Pauly werden von der Flut mitgerissen und sterben; wie die meisten Menschen.

„Es kam mir vor, als wäre überall Wasser“, erinnert sich Sally an die ersten Überschwemmungen. Doch was kann man tun, wenn die Flut nicht wieder abläuft? Wenn es kein Danach mehr gibt und Züge, Busse und alle bekannten Dinge verschwunden oder zerstört sind? An dieser Stelle werden im Buch fast vier Seiten leer gelassen, um eine Denkpause zu evozieren.

Wenige Wochen nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung des Romans der Britin Jessie Greengrass im Mai 2023 ächzte die Welt zunächst unter dem heißesten Juli aller Zeiten, Dürre und Waldbränden. Auf Hitzewellen am Mittelmeer folgten Überschwemmungen unter anderem in der Türkei, Griechenland und Bulgarien. Tonnen von Schlamm, abgeschnittene Dörfer, verzweifelte Menschen waren in den Zeitungen zu sehen. Tagelang setzte sich Anfang September ein Sturmtief über der mittelgriechischen Region Thessalien fest. Es wurde gemeldet, in vielen Gebieten sei innerhalb von zwölf Stunden doppelt so viel Regen gefallen wie normalerweise in der Hauptstadt Athen in einem Jahr. In einigen Regionen stand das Wasser mehr als zwei Meter hoch. Von einer Katastrophe biblischen Ausmaßes sprachen die Griechen und verglichen die Situation mit der Sintflut. Auch in der Bibel blieb den Menschen plötzlich keine Zeit mehr, als die „Quellen der gewaltigen Urflut“ aufbrachen und sich die Schleusen des Himmels öffneten: „Der Regen ergoss sich vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf die Erde“ (Genesis 7,12).

Und wie Noahs Arche übersteht das High House in Jessie Greengrass Roman die Wassermassen. Es liegt höher als das Umland, „fast eine Insel“, von einer nahen Straße und drohenden Plünderern nicht zu sehen. In ihrer literarischen Symbolik bietet eine Flut stets die Möglichkeit für eine hernach bessere Lebenswelt. Sie ist reinigend. Noah konnte die Arche wieder verlassen und eine neue Gemeinschaft gründen. In Griechenland beginnt schnell der Wiederaufbau nach der Flut. Doch diese Hoffnung zerstört Greengrass: „Wir hatten überlebt – aber ab jetzt galt es, immer weiter zu überleben“, berichtet Caro. Die letzte Hefe läuft ab, der Zucker wird weniger. Was sie retten konnten, ist irgendwann aufgebraucht oder verfault. Statt einzukochen, „müssen wir unsere Lebensmittel sauer einlegen oder mit Salz konservieren“. Erinnerungen an Butter und Weißbrot verblassen. Jahre vergehen, der Großvater stirbt. Die Bewohner des High House ernähren sich vor allem von selbst Angebautem. Im Garten ist der sich schließende Kreis von Wachstum und Verfall zu beobachten. Die Überlebenden sind nur noch „ständig bemüht, Nahrungsbedarf und Kraftanstrengung gegeneinander abzuwägen“, Verletzungen zu vermeiden und den nächsten Tag zu erreichen. „Ich wäre lieber nicht tot“, sinniert Caro. Aber was bleibt über das Überleben hinaus als Ziel?

Vor der großen Flut war der Fluss im Dorf das zentrale Motiv der Erzählung von Jessie Greengrass. Fließendes Wasser wird seit der Antike als Sinnbild des Zeitablaufs verwendet. Mit der Flut scheint die Zeit zu verschwinden. Es bleibt nur die nackte Existenz. Trotz bester Vorbereitung und Autarkie stellt sich die Frage nach dem Wert ebendieser. Mit der Erkenntnis, dass auch die Bewohner des High House abgeschnitten von der früheren Welt und somit in Isolation sterben werden, nur später als alle Menschen in der sie umgebenden Landschaft, lässt die Autorin den Leser allein. Es wird keine nächste Generation geben. Caro, Sally und Pauly waren wirklich die letzten.

Philosophin Jessie Greengrass stellt nicht zum ersten Mal die Frage nach dem Sinn des Lebens. In ihrem Roman Was wir voneinander wissen fragte sich die Ich-Erzählerin, ob sie ein Kind bekommen möchte und was ihrem Leben Bedeutung verleihen könnte. Greengrass Protagonisten prägte die Sehnsucht nach dem Wundersamen sowie die Erkenntnis, dass Leben Möglichkeit ist – und Menschen nach dem Tod in unseren Erinnerungen erhalten bleiben. Dieser Wert wird den Menschen in Und dann verschwand die Zeit genommen. Denn es bleibt niemand übrig. Es gibt keine Zukunft. Eine verstörende und deutliche Mahnung der Autorin, den Klimawandel ernst zu nehmen. Obschon die Dringlichkeit eigentlich jedem bewusst sein sollte, kann der Roman sicherlich aufrütteln und bei der Bewusstseinsbildung helfen. Denn wie nah der Roman an der Realität ist und uns tatsächlich passieren kann, was in diesem Buch zu lesen ist, sollte zumindest das Überdenken des eigenen Verhaltens unterstützen. Uns bleibt vielleicht noch ein wenig Zeit.

Titelbild

Jessie Greengrass: Und dann verschwand die Zeit.
Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462001969

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