Ein Amerikaner in Bulgarien

Garth Greenwells überwältigendes Debüt „Was zu dir gehört“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das phänomenale an der Literatur ist ihre Vielfalt, ihre Vielseitigkeit, ihre Möglichkeit, immer wieder neue und überraschende Texte hervorzubringen. Die Frage ist nicht so sehr, ob längst alles erzählt ist, sondern, wodurch es Autorinnen und Autoren immer wieder gelingt, mehr oder weniger bekannten Themen und Stoffen neue Aspekte hinzuzufügen, der Welt der Bücher und somit den Lesern neue Leseangebote zu machen. Möglicherweise kann anhand von Garth Greenwells Roman Was zu dir gehört die eine oder andere Antwort darauf gegeben werden.

Das relativ schmale Buch ist eine Introspektion, mehr eine Begehrens- als eine Liebesgeschichte. Gleich auf den ersten Seiten wird klar, worum es geht. Ein junger Amerikaner, der seit wenigen Wochen in der bulgarischen Hauptstadt Sofia als Lehrer am American College arbeitet, sucht in den Toiletten des Nationalen Kulturpalastes nach Sexpartnern. Er findet Mitko, dessen Name auch der Titel des ersten von insgesamt drei Teilen ist, in die der Roman gegliedert ist. Von ihm wird der Ich-Erzähler das ganze Buch hindurch nicht loskommen. Anfangs treffen sie sich häufig, es ist, obwohl eigentlich eine Art Geschäftsbeziehung, die zarte Geschichte einer Freundschaft, die zwar etwas ungleichgewichtig angelegt, trotzdem aber beidseitig ist. Mitko ist eine undurchsichtige Figur. Fordernd, von seiner Ausstrahlung und seiner Erotik überzeugt, dann aber wieder zurückhaltend, freundlich und kränkelnd. Der Ich-Erzähler ist sich ob seiner Sucht, Mitko treffen, Zeit mit ihm verbringen, ihn für sich haben zu wollen, unsicher, genießt jedoch das temporäre Glück. Ansonsten lebt er sehr zurückgezogen, er hat eine kleine Wohnung in einer nüchternen und eher hässlichen Gegend, er liest viel, geht kaum aus.

Greenwell, der selbst am American College in Sofia, der ältesten amerikanischen Schule außerhalb der USA, gelehrt hat, stattet seine Hauptfigur mit einer erstaunlichen Sensibilität aus. So beobachtet er weniger die Menschen um sich herum, als vielmehr Pflanzen, Insekten, Luftveränderungen. Er blickt sehr genau auf die Architektur, wodurch der Leser eine Neugier entwickelt, bestimmte Orte, Straßen, Plätze und Gebäude Sofias sehen zu wollen und die eigenen Eindrücke mit den Beschreibungen des Romans abzugleichen. Diese ersten 70 Seiten sind wahrscheinlich der Novelle mit dem Titel Mitko sehr verwandt, für die Greenwell diverse Preise und Nominierungen erhielt und die dann in überarbeiteter Form Bestandteil des Romans wurde.

Der zweite Teil, Ein Grab, führt in die Kindheit und Jugend des Ich-Erzählers zurück. Anlass dafür ist eine E-Mail, die ihn aus dem Unterricht herausholt, und in der ihn sein Vater um einen Besuch bittet, da dieser offenbar schwer krank ist. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geht er ziellos umher, landet schließlich in einer Brache und noch später in einem Wald, immer in Gedanken an die Zeit als Junge daheim in der amerikanischen Provinz. Damals entdeckte er sein Interesse am eigenen Geschlecht. Beschrieben wird das in einer sehr eindringlichen, verdichteten intimen Szene mit dem Vater während einer gemeinsamen Dusche. Das Vater-Sohn-Verhältnis wird ab diesem Moment nie wieder so sein wie zuvor („…und ich spürte, wie er sich von mir entfernte, wie er mich in dieser Atmosphäre der Verdorbenheit als das Verdorbene ausmachte“).

Der Junge wird noch eine weitere für seine sexuelle Orientierung sehr prägende Erfahrung machen, auch diese nimmt einen unerfreulichen Ausgang. Greenwell zeigt hier auf, wie stark erste Erfahrungen Traumata und Unsicherheiten auslösen können, wie diese das Leben eines Menschen langfristig beeinflussen und ihn in seinem Tun beschränken und auch dominieren. Formal ist dieser Mittelteil, der mit Kindheit, Erziehung, den beschriebenen Erfahrungen, den Eltern, den Stiefgeschwistern das biografische Zentrum bildet, sehr verdichtet. Es gibt kaum Absätze, vielmehr sind diese circa 50 Seiten fast wie aus einem Guss, als seien sie in einer Art Bewusstseinsstrom aufʼs Papier geworfen worden. Dabei beinhaltet Ein Grab durchaus abschweifende Passagen. Sein zielloses Umherirren hat etwas Märchenhaftes, etwas Mythologisches; es wirkt, als wolle der Autor seinen Protagonisten aus Zeit und Raum wegtragen in seine Geschichte, seine Vergangenheit.

Der dritte Teil, Maladie française (die prosaische Beschreibung der Syphilis) betitelt, ist der längste des Romans. Hier wird Mitko, nachdem das Paar sich längere Zeit nicht gesehen hat, wieder beim Ich-Erzähler auftauchen. Er hat sich verändert, sieht krank aus, macht kaum Angaben über die verganenen Monate. Obwohl sein Freund mittlerweile in einer monogamen Beziehung mit einem in Lissabon lebenden Mann ist, fühlt dieser sofort wieder die starke Anziehung, will er Mitko wieder besitzen. Doch der Titel dieses Romanteils macht bereits deutlich, dass die Leichtigkeit (wenn es sie denn jemals gegeben hat) weg ist, dass Ernsthaftigkeit und Veränderungen Einzug gehalten haben.

Was zu dir gehört ist ein berauschend schöner Roman, Garth Greenwell ist im Alter von 38 Jahren ein melancholisch grundiertes Meisterwerk gelungen, das sprachlich äußerst fein gearbeitet ist, nahezu keine erkennbaren Makel aufweist, einen dezent eingesetzten lyrischen Ton anschlägt, dabei aber nie artifiziell wird. Im Umkreisen eines Themas, in der sprachlichen Annäherung an einen Topos, im Suchen von Synonymen oder verwandten Begriffen, ähnelt Greenwells Methode der von Javier Marías. Es ist dies das Buch eines reifen Autors, dessen Liebe zur Literatur und zum Schreiben sehr deutlich ist, was sich in kurzen Verweisen zum Beispiel auf Walt Whitman oder auf die Notizen des Protagonisten mitteilt. „Ich hatte meine Notizen, ich wusste, ich würde ein Gedicht über ihn schreiben, und später dann würde ich mich an das Gedicht erinnern, was richtig und falsch zugleich wäre, ein von mir erstelltes Bild, das an die Stelle meines Erlebens trat.“ Diese Stelle verdeutlicht Greenwells poetologische Gedanken zum Verhältnis von Leben, Erinnern und Schreiben, von Autobiografie zu Fiktion, war er doch selbst in Sofia und hat sich dazu „Notizen“ gemacht. Hinzu kommen seine Überlegungen zum Thema Sprache. Der Ich-Erzähler lebt in zwei Sprachen, der amerikanischen und der bulgarischen; gleich zu Beginn, nachdem er sich mit Mitko angefreundet hat, teilt er diesem mit, dass sein Name in der bulgarischen Sprache fast nicht auszusprechen sei. Und an einer Stelle heißt es: „Wörter in einer Fremdsprache verwunden uns weniger als die Wörter der Sprache, in die wir hineingeboren wurden.“

Titelbild

Garth Greenwell: Was zu dir gehört. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Schreiber.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
239 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446258525

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