Trauriges Erinnern voll sprachlicher Schönheit
Natasha Trethewey gelingt mit „Memorial Drive“ das Kunststück, einen Femizid zu dokumentieren und zugleich eine poetische Hommage an das Leben ihrer Mutter zu schaffen
Von Monika Grosche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn den USA ist Natasha Trethewey bereits seit vielen Jahren eine bekannte Lyrikerin und sie erhielt 2007 den Pulitzer-Preis. So überrascht es nicht, dass „Memorial Drive“ dort nach seinem Erscheinen 2020 ein immenses Echo hervorrief und auf der Bestellerliste der New York Times landete. Vielfach ausgezeichnet, bekam es große Wertschätzung auch von prominenter Seite wie von Barack Obama, der es zu einem seiner Lieblingsbücher des Jahres kürte. Höchste Zeit also, dass auch das deutschsprachige Publikum diese herausragende Autorin kennenlernt.
„Um ein Trauma zu überleben, muss man in der Lage sein, eine Geschichte darüber zu erzählen“, bemerkt Natasha Trethewey in ihrem Buch. Und damit fasst sie knapp und präzise zusammen, was den Unterschied ihres Werkes zu vielen anderen Buchtiteln ausmacht , die persönliche Traumata aufarbeiten. Bei Trethewey liegt der Schwerpunkt auf der poetischen und literarischen Verarbeitung des Erlebten. Nicht die Dramatik des Mordes, nicht der Schrecken der Tat stehen im Zentrum der Geschichte. Deren Fokus liegt stattdessen im Erspüren der Macht der Sprache, die das individuelle Erinnern, Denken und Fühlen in ein fesselndes literarisches Werk verwandelt.
Entstanden ist so – auch dank der passgenauen Übersetzung von Cornelia Holfelder von der Tann – ein außerordentliches Buch, das mit großer Eleganz, Zartheit und Feingefühl davon berichtet, wie Trethewey zu der wurde, die sie heute ist. Dabei beherrscht die Autorin ihr Metier perfekt. Jedes Wort sitzt punktgenau, scheinbar mühelos beschreibt sie Situationen aus ihrem Leben so intensiv, dass man sie förmlich fühlt, riecht, sieht und schmeckt. Bedauerlich ist nur, dass der Titel, der 2024 in deutschsprachiger Übersetzung herauskam, vermutlich noch nicht einmal annähernd die Aufmerksamkeit erlangen wird, die er verdient. Das liegt zum einen am lapidaren Untertitel „Erinnerungen einer Tochter“, zum anderen an seiner Erscheinungsweise als Paperback – und insbesondere daran, dass Natasha Trethewey hierzulande noch weitestgehend unbekannt ist.
Die Autorin hat sich die überaus schwere Aufgabe gesetzt, das Leben ihrer Mutter nachzuzeichnen, die 1985 Opfer einer Gewalttat wurde. Verübt wurde der Mord von ihrem Ex-Mann (Natashas Stiefvater), als Natasha 19 Jahre alt war. Zuvor hatte er über Jahre hinweg Mutter und Stieftochter misshandelt, sodass sich die Mutter von ihm trennte. Als er schließlich verhaftet wurde, glaubte die Familie, in ruhigere Fahrwasser zu kommen. Doch die Sicherheit war trügerisch, denn er konnte die Scheidung nicht akzeptieren und bedrohte Mutter und Tochter mit seiner Schusswaffe. Bis heute verfolgt Tretheway die schwierige Frage, ob sie nur lebt, weil es nicht sie, sondern die Mutter getroffen hat.
Dass sie diese Geschichte überhaupt erzählt, ist eher dem Zufall geschuldet, denn über Jahrzehnte hinweg hat die Autorin alle Erinnerungen an diese Zeit verdrängt. Doch als sie nach Atlanta, der Stadt des Verbrechens, zurückkehrt, führt sie eine zufällige Begegnung dort an den Memorial Drive, wo damals die Tat geschehen ist. Schließlich beginnt sie sich ihren Träumen und den Bildern aus ihrem Innern zu stellen und sie lässt die Erinnerungen in ihr Bewusstsein eindringen. Unterstützt werden diese von präzise journalistisch recherchierten Fakten, u. a. aus der Fallakte von damals.
Aber Tretheway ist weit davon entfernt, eine Art True-Crime-Szenario aufzubauen. Vielmehr ist es ihrer großen erzählerischen Kunst geschuldet, dass sie damit die Geschichte ihrer Familie verknüpft, die alles andere als gewöhnlich ist. So erfahren wir, wie sie als Kind als „Zebra“ beschimpft wurde, da sie aus einer „gemischtrassigen“ Ehe stammt, die in dem Heimatstaat ihrer Mutter in den 1960ern noch verboten war. Wir erleben mit ihrer Familie alltägliche Anfeindungen und offenen Rassismus, angesichts derer Natasha früh lernt, sich mit aller Kraft gegen Diskriminierung zu wehren. Vorbilder sind vor allem ihre Großmutter und ihre Großtante Sugar, die ein Gewehr griffbereit im Haus haben, falls der KuKluxClan es einmal nicht bei nächtlichen Drohgebärden belässt. Mit Stolz, Sturheit und Mut versucht die Familie, ihr Leben davon möglichst unbehelligt zu führen. Doch beide Elternteile, die durchs Studium oft lange voneinander getrennt leben müssen, sind dem nicht gewachsen. So trennen sie sich schließlich und Natashas Mutter begeht den fatalen Fehler einer neuen Ehe mit dem emotional gestörten „Big Joe“, ohne zu ahnen, dass sie damit ihr Todesurteil unterzeichnet.
Trethewey nimmt ihre Erfahrungen großen Leids als Ausgangspunkt, um den Verlauf des Lebens ihrer Mutter nachzuzeichnen. Zugleich erkundet sie, wie ihr eigenes Leben und ihr Schaffen als Autorin nicht nur durch die Tragik, sondern auch durch den Überlebenswillen und die Widerstandskraft ihrer Familie geprägt wurden. Auf diese Weise ist ihr ein großes, eindringliches Werk gelungen, das harte journalistische Fakten mit zarter Poesie mischt und noch lange nach der Lektüre nachhallt.
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