Nicht was, sondern wie wir glauben, sollte uns interessieren

Jürgen Großes Weltbilderbuch „Der Glaube der anderen“ bietet einen humorvoll-ironischen Blick auf unser aller religiösen Eifer

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein „Pandämonium zeitgenössischer Frömmigkeit in 55 Porträts” schimpft sich Jürgen Großes neues Weltbilderbuch, das uns zahlreiche Typen des Religiösen beschreibt. Es läse sich fast wie ein wissenschaftliches Lexikon, wäre da nicht die wie immer witzige, eloquente und vor allem provokante Perspektive auf das Allzumenschliche in uns. Der Philosoph erzählt in Der Glaube der anderen von Menschen, als seien sie Romanfiguren. Hier geht es nicht allein um Christen und Juden, nicht um Islam und Buddhismus, sondern um die menschliche Sehnsucht nach dem Dogma überhaupt – das Leben als konfessioneller Zwang, dem niemand entfliehen kann. Manche werden in eine Glaubensgemeinschaft hineingeboren, andere wechseln sie stetig, wieder andere schaffen sich eine ganz neue. 

Menschliche Glaubenssätze verwandeln sich in Großes Beschreibungen in Schablonen, die wir auf uns und andere legen können, um besser durch den vermeintlichen Wahn anderer und, wenn wir ehrlich sind, vor allem uns selbst hindurchsehen können. Das Buch ist zwar aufgebaut und strukturiert wie ein Nachschlagewerk, doch natürlich käme niemand auf die Idee, überhaupt nach den unkonventionellen (Glaubens-)Bezeichnungen zu suchen, die sich der Autor ausgedacht hat und die die jeweiligen Porträts betiteln. Vielmehr könnte man die Publikation als einen essayistisch anmutenden, in kurze Polemikengegliederten Beitrag zum alltäglichen Wahnsinn ideologischer Lebensführung verstehen. Die 55 Porträts geben dabei nicht nur bloße „Weltbilder“ – deshalb der Titel Weltbilderbuch – wieder, sondern zeichnen auch ein zugleich stygisches und seltsam herzliches Bild der Attitüden, Gründe, Verletzlichkeiten und Sehnsüchte „Gläubiger“: Sie alle wirken zu Lächerlichkeit verdammt, aber man kann nicht anders als sie ernst zu nehmen. Diesen Widerspruch bis zum Schluss zu wahren ist die eigentliche Leistung des Buchs. 

Der Glaube der anderen rechnet – unter anderem – mit dem narzisstisch verbrämten Gefühl ab, man selbst sei auf bessere, rationalere, „begründetere“ Weise gläubig als „die anderen“. Zwischen den Dogmen, an denen wir uns festhalten, und solchen, von denen wir glauben, dass nur Schwachköpfe ihnen folgen würden, gibt es erstaunlich viele Ähnlichkeiten. Sowohl Glaube als auch Glaubensgehabe stellen sich nach Große als religiös dar, manche haben, so Große, „religiöse Impulse“, und manche gehören eher zu den „Neureichen des Glaubens“, gerade noch belehrt und nun schon verkündend.

Vom Glauben sprechen die einen üblicherweise begeistert, die anderen umso abfälliger. Große hingegen meistert es, ein erstaunlich liebevolles, vermutlich auch gewollt widersprüchliches, schillerndes Bild von Menschen zu zeichnen, die an etwas glauben oder – was das gleiche ist – behaupten, an nichts zu glauben. Der Autor meistert dies, ohne dabei zu spotten. An etwas zu glauben, gehört zu uns, formt den zweifelhaften Charakter eines und einer jeden. Wer genau liest, der entdeckt, wie sensibel und mikroskopisch klar der Autor die Fanatiker und Anbeterinnen unter uns, die Stolzen und Gekränkten, die Verzweifelten und Hochmütigen, die Gutwilligen und Schadenfreudigen, die Hoffnungsgetränkten und die Verschwiegenen untersucht. Dabei geht es nicht darum, sie gegeneinander auszuspielen – alle bekommen ihr Fett weg, jedoch nicht ohne einfühlsame, mitunter fast psychologisch feinsinnige Betrachtungen. Wirklich angegriffen kann sich hier niemand fühlen.

So wird bekanntermaßen oft gegen das Vorgehen und Denken von Tierrechtlern eingewendet, es handele sich dabei ja um etwas Quasi-Religiöses. Großes Beschreibungen verneinen das zwar nicht direkt, sehen darin aber nichts per se Schlechtes. Der „Tierfreundliche“ in Der Glaube der anderen ist kein fanatischer Wahnsinniger auf der Suche nach einem Religionsersatz, sondern gerade aufgrund seiner oft kritikresistenten Hingabe an eine ganz spezielle Sache ein normaler Mensch – genauso wie der Autodidaktiker, die immer wieder einmal neu Geborene, der Angstkritiker, der Selbstbetrüger und der Kindesanbeter. Die teils abstrus wirkenden, sich nach der Lektüre aber als einleuchtend erweisenden Bezeichnungen, die Große für Glaubenstypen und/oder Menschen findet, sind ein nicht zu unterschätzendes Highlight des Buchs.

Sich an Großes anspruchsvolle und beißende Texte heranzuwagen, erfordert einiges an Mut, Ausdauer und die unbedingte Bereitschaft, als Leserin oder Leser zu scheitern. Der Glaube der anderen garantiert wie auch schon viele vorherige Publikationen Großes eine eigenartig unangenehme und deshalb lohnenswerte Lektüre, für die man Zeit, Freude an bohrender philosophischer Präzision und Lust auf einen zeitwidrigen Ton mitbringen sollte.

Titelbild

Jürgen Große: Der Glaube der anderen. Ein Weltbilderbuch.
Omnino Verlag, Berlin 2021.
301 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783958941847

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