Warum das Private politisch, das Politische aber nicht privat sein kann

Norbert Gstreins literarische Mogelpackung „Die kommenden Jahre“

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für den amerikanischen Literaturwissenschaftler Jonathan Culler dreht sich beim Verstehen und Interpretieren von Texten alles um das von ihm so getaufte „Worum-Spiel“, das heißt um die Frage: „Worum geht es eigentlich in dem betreffenden Text?“ Was ist sein Thema, sein Anliegen, sein gedankliches Zentrum? Ein Fragespiel, das oft ganz leicht, manchmal aber auch nur schwer zu beantworten ist. Vor allem dann, wenn der Autor seine Absichten bewusst verschleiert. Bei dem neuen Roman von Norbert Gstrein ist das der Fall. Wer bei der Lektüre von Die kommenden Jahre der locker und effektvoll, dabei aber ziemlich konventionell erzählten Handlung oder den Selbstreflektionen des Ich-Erzählers vertraut, geht dem Autor auf den Leim. „Vorsicht Framing!“ möchte man den Leserinnen und Lesern dieses Buches zurufen und empfehlen, vermeintlich evidenten Lesarten mit der gestrengen Hermeneutik des Misstrauens zu begegnen. Was sich als typischer Midlife-Crisis-Roman tarnt (und vom Verlag auch als solcher vermarktet wird), ist in Wahrheit ein Buch mit einer ziemlich bedenklichen politischen Botschaft. Hinter der emotionalen Verstörung und den vermeintlichen Selbstzweifeln des Ich-Erzählers steckt die ideologische Vernebelungsstrategie des Autors.

Die Romanhandlung ist schnell zusammengefasst: Richard, ein österreichischer Glaziologe und Familienvater im vermeintlich besten Alter erhält während einer Vortragsreise in New York von einem befreundeten Kollegen das Angebot, eine Professur in Kanada anzunehmen. Es folgt ein langes, für akademische Karriere- und Familienplanungen typisches Hin und Her zwischen der verlockenden Aussicht auf ein neues Leben in Übersee und der Loyalität Heimat und Familie gegenüber. Zusätzlich erschwert wird Richards Entscheidung durch die Auffrischung seiner Liaison mit Idea, einer jüdisch-mexikanischen Kollegin, die alles daran setzt, Richard für sich zu gewinnen. So weit, so gut – verständlich, nachvollziehbar und bestens bekannt. Was Richards Entscheidungsprozess bald aber in einem eigenartigen Zwielicht erscheinen lässt, ist der immer bohrendere, kritische Seitenblick auf die politisch-humanitären Aktivitäten seiner deutschen Ehefrau Natascha, die sich als erfolgreiche Schriftstellerin und engagierte Linke dazu entschließt, eine syrische Flüchtlingsfamilie in dem von ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Katja geerbten Ferienhaus unterzubringen. Auch zu dieser Schwester, die als feinsinnig verträumter Gegenpart zu der lauten und selbstbewussten Natascha konzipiert ist, unterhält der Erzähler eine Art nostalgisch-imaginäre Liebesbeziehung. Die vierte weibliche Figur des Romans ist die pubertierende Tochter Fanny, ein verwöhnter, seltsam abwesender, narzisstisch in die eigene kleine Welt verstrickter Teenager, der dem Vater bereits bei der Geburt als fremd und irgendwie abstoßend erschien, als „rotgesichtiges, faltiges Wesen“, zu dem dieser keinen emotionalen Zugang findet.

Stilistisch ähneln Personenkonstellation und -darstellung einem Sittengemälde, wie wir es aus dem bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts kennen. Das gilt, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, sowohl für die stereotype Beschreibung der Flüchtlinge („Ihm folgten sechs Burschen, wahrscheinlich alle unter zwanzig, alle mit muskulösen Oberkörpern unter ihren Sweatshirts, alle mit dunklen Augen und Blicken, die sie unaufhörlich hin und her schweifen ließen.“) wie auch für den dichotomen Gegensatz der Frauengestalten. Den Antagonismus von exotisch dunkelhaariger Jüdin (Idea) und blondem, leicht „burschikosem“ Supermodell (Natascha) hätten Joseph von Eichendorff, Friedrich Theodor Vischer und Thomas Mann wohl kaum karikaturhafter hinbekommen.

Richards Zweifel am akademischen Umfeld und den eigenen Karrierechancen treten bald schon in den Hintergrund. Statt die vermeintliche Lebenskrise weiter zu entfalten, widmen sich die nun folgenden 200 Seiten der immer expliziteren Ahnung des Ich-Erzählers, dass die Sache mit den Flüchtlingen nur schief gehen kann. Dabei wird seine Skepsis, ja sein Ekel vor den medienwirksam inszenierten, humanitären Aktionen seiner Ehefrau zunehmend zum eigentlichen Thema des Buches. Denn Natascha, „die mit Anfang vierzig immer noch eine Schönheit“ ist, „zukunftsfroh und jung, die wasserblauen Augen leicht verengt, während sie verkündet, es sei eine Frage der Menschlichkeit und damit keine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit“, die Flüchtlinge aufzunehmen, erweist sich mehr und mehr als eine aus gehässigen Abziehbildchen zusammengebastelte und mit politisch korrekten Sprechblasen ausstaffierte Figur aus dem Gruselkabinett der ,Gutmenschen‘-Polemik. Alles, was Natascha sagt und tut, wird mit spitzen Fingern in die Rubrik „Hysterie“ eingeordnet. Ihre Stimme klingt „schrill und überdreht“, wenn sie ihren syrischen Gästen die politische Lage erklärt, und der Zeitungsartikel über ihr Engagement in der Flüchtlingshilfe erscheint dem Erzähler als „vor falschem Mitleid triefender Bericht“.

Die Frage nach dem „Worum-Spiel“ ließe sich bei Gstreins Roman also folgendermaßen beantworten: Die kommenden Jahre ist kein Midlife-Crisis-Roman im engeren Sinne, sondern ein Buch über das politische Ressentiment, über die nur halb unterdrückte Wut eines orientierungslosen Intellektuellen auf die linke, ökologisch und humanitär engagierte Schriftstellerin an seiner Seite, ein Buch über den Hass auf ,hysterische Feministinnen‘, ,Gutmenschen‘ und ,Gesinnungsterroristen‘, die sich „beim Helfen und beim Gutsein zusehen“ lassen, eine literarische Polemik gegen vermeintliche HeuchlerInnen, die ihre ethischen Prinzipien zur dogmatischen Moralkeule aufbauschen und instrumentalisieren, um verzagte, von Zweifeln, Scham und höchst authentischer Feigheit gebeutelte Bedenkenträger und dressierte Sitzpinkler wie Richard moralisch zu demütigen. Man kennt den dazugehörenden Diskurs, hört im Hintergrund die ideologischen Vorwürfe und Verdächtigungen, erkennt die neue  – von Karl Heinz Bohrer und Henryk M. Broder über Harald Martenstein bis Sahra Wagenknecht – inzwischen wieder salonfähige Intellektuellenschelte, einen Diskurs, der humanitäres Engagement als moralische Scheinheiligkeit, Begriffe wie „Willkommenskultur“ als selbstgefällige Hybris denunziert und meint, darin – wie beispielsweise der amerikanische Ideengeschichtler Mark Lilla – eine „Politik des Narzissmus“ zu erkennen, das heißt den vermeintlichen Hochmut einer von den Bedürfnissen und Ängsten der Normalbürger entfremdeten intellektuellen Oberschicht.

Der abgehobene Intellektuelle habe nämlich, so Gstreins missgünstiger Ich-Erzähler, keine Ahnung, „wie böse einer sein kann, wenn er in die Enge getrieben wird“. Im Fokus seiner Kritik stehen dabei vor allem Aktionen von SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen und Theaterleuten. So behauptet Richard im Streit mit seiner Frau, die ihren syrischen Gästen rät, dem rechtsradikalen „Pack vor ihrem Haus eine Lektion zu erteilen“, es würde ihn nicht wundern,

wenn irgendein besonders raffinierter Idiot am Ende auf die Idee käme, ein Vergnügungsschiff zu chartern, mit einer Altersheimbelegschaft von deutschen Rentnern vor der libyschen Küste herumzukreuzen und in einer spektakulären Kunstaktion den Verzweifelten dort beim Ertrinken zuzusehen und, weil er selbstverständlich ein Theatergenie wäre, vielleicht auch noch Geld in kleinen Scheinen ins Meer regnen zu lassen.

Das letzte Kapitel des Romans, in dem drei alternative, ideologisch allerdings kaum zu unterscheidende Schlussvarianten präsentiert werden, enthält – Stichwort „Political Correctness“ – eine kleine wissenschaftssatirische Einlage über den aussichtlosen Kampf des amerikanischen Kollegen gegen die Auswüchse einer „feministischen Glaziologie“, deren Absurdität vom Erzähler mit seichten sexistischen Witzchen unter Beweis gestellt wird. So mokieren Richard und sein Kollege sich über die wissenschaftliche Relevanz von Gefühlen beim Umgang mit Gletschern, indem sie das fiktive feministische Tabu „gewalttätiger Bohr-Penetrationen“ im Körper der Natur an den Pranger stellen. Wer erinnert sich angesichts solcher Plattitüden nicht mit Wehmut an die ebenfalls nicht gerade frauenfreundlichen, dafür aber irrwitzigen und sprachgewaltigen Invektiven eines anderen literarischen Glaziologen: an Wolfram Schöllkopf und seine fantastische „Unterleibsmigräne“ aus Hermann Burgers Roman Die künstliche Mutter von 1982?

Die Sympathielenkung bei der Demontage der feministischen Gutmenschin geht ungebrochen, ohne die geringste Irritation oder Ambivalenz, in die immer gleiche Richtung. Man muss das Buch gegen den Strich – das heißt: gegen die Absicht seines Autors – lesen, um es zu verstehen: Denn als LeserInnen stehen wir erst einmal eindeutig auf der Seite des Bedenkenträgers, durchlaufen mit ihm und allein aus seiner Perspektive alle Etappen seines zunächst verschwitzt-schuldbewussten, dann zunehmend enthemmten bis auftrumpfend rechthaberischen Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-Dürfens. Dabei werden vereinzelt auch erzähllogische Unwahrscheinlichkeiten in Kauf genommen, etwa wenn der in Amerika weilende Ich-Erzähler Einzelheiten über Frisur und Körperhaltung der von seiner Frau beherbergten Syrer schildert. Angesichts des erzählerischen Ehrgeizes, Nataschas Humanismus als ideologische Verblendung zu entlarven, sind solche kleinen Anfälle von klammheimlicher Allwissenheit strategisch allerdings nur zu verständlich. Aus der auktorialen Perspektive lassen sich gewisse politische Thesen nun mal leichter und effizienter ,beweisen‘ als aus der subjektiv beschränkten eines erzählenden Ichs. Auch das eine probate Erkenntnis des bürgerlichen Realismus. Dass die Erzähllogik dabei auf der Strecke bleibt, ist sekundär. Schließlich soll die Leserschaft von etwas überzeugt werden.

Es war der französische Naturalist Émile Zola, der 1880 mit seinem poetologischen Ansatz des „Experimental-Romans“ versuchte, den modernen Roman als Ort des objektiven, positivistischen Standards genügenden Gedankenexperiments zu etablieren. Die Resultate der im Roman durchgespielten Ereignisse hätten – so die Vorstellung Zolas – wissenschaftlich relevante Beweiskraft. Gstrein ist nicht so naiv wie Zola, seine vermeintlichen Beweise für das Scheitern der deutschen Willkommenskultur sind subtiler konstruiert und stets schamhaft umflort von einer zumindest ansatzweise aufscheinenden Rhetorik des Zweifelns. Doch es sind nicht nur die erwähnten auktorialen Passagen, in denen der Autor sogar sein eigenes erzähllogisches Setting unterläuft, um seine ,Botschaft‘ an die Leserschaft zu bringen, die zeigen, worum es in diesem Roman ,eigentlich‘ geht. Es sind vor allem die hasserfüllten, aus verschiedenen Perspektiven, aber gänzlich ohne Gegenstimme inszenierten Äußerungen über Natascha, die Gstreins propagandistische Absicht letztlich trotz aller Camouflage durchschaubar machen.

Gstrein ist seit der Erzählung Einer von 1988 einer der wichtigsten Protagonisten des neuen Anti-Heimatromans. Auch in Einer sind Heimat und Identität von falschen Erwartungen und falscher Sprache bedrohte Begriffe. Was in diesem frühen Werk jedoch als (auch stilistisch anspruchsvoll gestalteter!) Sprachzweifel und literarisch reflektierte Identitätsbefragung eines zwischen die Zeiten und Welten geratenen Ichs erscheint, geriert sich dreißig Jahre später in Die kommenden Jahre als ebenso platte wie manipulative Polemik, der es nicht nur an gedanklicher Tiefe, sondern auch an erzählerischer und sprachlicher Sorgfalt gebricht – zum Beispiel beim inflationären Gebrauch der Temporalkonjunktion „als“ oder bei der Verwendung falscher Pronomen wie „dessen“ statt „sein“ (S. 143). Wenn dann am Ende, wie bei Gstreins tendenziöser Versuchsanordnung nicht anders zu erwarten, der von Natascha aufgehetzte syrische Familienvater sich gegen die rassistischen Übergriffe der Dorfbevölkerung mit Waffengewalt zur Wehr setzt, weiß man gar nicht, was man mehr bedauern soll: die mangelnden sprachlichen und ästhetischen Qualitäten dieses Romans, die klischeehafte Vorhersehbarkeit seiner Handlung oder die Tatsache, dass ein bekannter und allgemein geschätzter Autor wie Norbert Gstrein glaubt, sich dem populistisch-identitären Mainstream anbiedern zu müssen.

Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Meine Kritik richtet sich keineswegs gegen die Möglichkeit, ein vielschichtiges und kompliziertes Problem wie die sogenannte „Flüchtlingskrise“ literarisch, und das heißt immer auch: ambivalent darzustellen. Literatur darf und soll Eindeutigkeiten verwischen, feste Konturen sprengen, Mehrdeutigkeiten durchspielen. Und selbstverständlich ist es legitim, Politisches mit Privatem zu verknüpfen. Etwas anderes ist es, wenn ein Autor mit seinem Buch eine eindeutige politische Botschaft propagiert, von der er (zu Recht!) glaubt, dass sie bei seiner Leserschaft nicht ohne Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen wird, und dann aus strategischen Gründen sein eigentliches Anliegen verschleiert: Reaktionäre Polemik getarnt als harmlos sympathische Psychokrise. Vielleicht ist genau das auch ein Punkt, der gute Literatur von schlechter unterscheidet: Während die eine das Politische hinter dem Privaten sichtbar macht, verschleiert die andere ihr vordergründig politisches Anliegen mit vermeintlich rein Privatem.

Titelbild

Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
285 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446258143

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch