Der andere Blick

In seinem Roman „Ferne Gestade“ bettet Abdulrazak Gurnah eine Familienfehde in einen kolonialistischen Kontext ein

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 2021 an den tansanisch-englischen Autor Abdulrazak Gurnah war für viele eine Überraschung. Mit ihm rückte eine postkoloniale Literatur in den Blickpunkt, die das Verhältnis zwischen den Kolonialherren und den kolonisierten Bevölkerungen differenziert und mitunter überraschend darstellt. Ein Musterbeispiel dafür bietet der Roman Ferne Gestade (engl. By the Sea), der im Original 2001, im Jahr darauf erstmals auf Deutsch erschien und für die Neuausgabe vom Übersetzer Thomas Brückner nochmals überarbeitet worden ist.

Gurnah erzählt von einem 65-jährigen Mann, Omar Saleh, der unter falschem Namen aus seiner Heimat Sansibar flieht und in Großbritannien Asyl beantragt. Im Laufe des Verfahrens begegnet er dem Englisch-Dozenten Latif Mahmud, der ebenfalls aus Sansibar stammt, die Insel aber bereits in jungen Jahren verließ. Beide erkennen sich als alte Bekannte, deren Beziehung allerdings unter einem sehr schlechten Stern steht. Sie sind Opponenten in einer lange Familienfehde. Sie kommen miteinander ins Gespräch und fördern ausgesprochen hässliche Begebenheiten zu Tage, die durch Betrug, Hass, Dummheit und falsche Eitelkeit angetrieben zwei Familien zerstört haben. Doch sowohl der ältere Saleh wie der jüngere Latif scheinen bereit, die alte Geschichte hinter sich zu lassen. Ihr Gespräch ist ein schmerzvoller Weg durch Gefühle des Hasses und der Ungeduld ebenso wie der Demut und des Verzeihens. 

In Ferne Gestade bettet Abdulrazak Gurnah die postkoloniale Perspektive in einen Kontext ein, der Begebenheiten innerhalb einer Kolonialgesellschaft beleuchtet, welche nicht allein durch den Kolonialismus begründbar sind. Er erweist sich dabei als moderner, ausgesprochen distinguierter Autor, der seine englische Bildung nie verhehlt. Wie Latif ist er früh aus Sansibar nach Großbritannien geflohen, wo er studierte und bis zur Emeritierung viele Jahrzehnte als Professor für englische und postkoloniale Literatur lehrte. Seine Bildung wird auch den beiden Protagonisten zuteil, die hin und wieder Shakespeare zitieren und in der Formel von Herman Melvilles Bartleby „Ich möchte lieber nicht“ („I would prefer not to“) eine gemeinsame Vorliebe finden. Darüber, wie heroisch die stoische Haltung Bartlebys sei, entspinnt sich zwischen ihnen eine angeregte Diskussion. Gurnah lässt beide Protagonisten wechselweise aus ihrer Perspektive erzählen, sodass die Geschichte immer wieder überraschende Wendungen nimmt und beide in ein zwiespältiges Licht rückt, bevor deutlich wird, dass es für die Fehde zwei Übeltäter brauchte. Saleh wie Latif gestehen freimütig ein, in ihrer Erinnerung das eine oder andere vielleicht zu übersehen, falsch zu gewichten oder zu verdrängen. Auf diese Weise gerät die postkoloniale Perspektive in den Hintergrund, weil sie nur am Rande zu den Streitigkeiten beiträgt. Tansania und mit ihm Sansibar wurde 1962 unabhängig. Die durch einen Putsch an die Macht gekommene sozialistische Regierung erwies sich als wichtiger Antrieb, um den schwelenden Streit um Ehre und Erbschaft neu anzufachen.

Gurnah erzählt in ruhigem Duktus und sehr gepflegt selbst da, wo er sich einer Sprache bedient, die anstößig wirken könnte und den Verlag zu einem fürsorglichen Warnhinweis vor unkorrekten „Diffamierungen bzw. Stereotypen“ veranlasst hat. Der Autor erlaubt sich solche politischen Unkorrektheiten vorab im ersten Teil, um die Drastik der Fluchtgeschichte zu bewahren und den Asylbewerber Saleh Omar nicht voreilig mit der Asylorganisation in England zu versöhnen. Mit spöttischem Unterton fragt er einmal, was wohl seine Helfer und Helferinnen, diese „jungen Helden der Gerechtigkeit und der Menschenrechte“, zu ihrem Engagement antreiben würde.

Die erzählerische Sorgfalt und die erfrischenden Spitzen aus der Flüchtlingsperspektive täuschen aber nicht darüber hinweg, dass der Roman mit Fortdauer auch zu einer Behäbigkeit neigt, der die Übersetzung mit zuweilen etwas umständlichen Formulierungen folgt. Bereits der Titel Ferne Gestade klingt leicht altmodisch. Gurnah ist in seinem Habitus ein sorgfältiger, zugleich verspielter, doch kein sprühender, aufregender Erzähler. Er neigt zu gewundenen Erklärungen mit sich wiederholenden Satzschlaufen. Vor allem aber wirkt die Erzählsituation nicht recht schlüssig, ohne dass dahinter eine erzählerische Strategie zu entdecken ist. Oft bleibt unklar, an wen sich der jeweilige Ich-Erzähler wendet: an Leser und Leserinnen außerhalb, oder an den anwesenden Gesprächspartner, der Teil der gemeinsamen Geschichte ist. So erzählt Saleh Omar, wie einmal ein gewisser Ismael, Sohn der gegnerischen Familie, bei ihm vorgesprochen habe, ohne dass er darauf hinweist, dass ihm genau dieser Ismael in Gestalt von Latif ja zuhört. Das wirkt irritierend, wo hier doch eine direkte Anrede seines Gegenübers angebracht wäre. Die Familiengeschichte wird zwar sehr anschaulich und reizvoll aus den zwei sich bespiegelnden Perspektiven erzählt, doch die detaillierten Versionen verlieren sich in einem Gewirr von Namen und Personen, die als Schachfiguren auf dem Brett der Familienfehde großenteils nur schwach charakterisiert sind. So fällt es schwer, den Überblick zu behalten.

Was indes bleibt ist der Blick auf die sansibarische Gesellschaft, die seit Jahrhunderten den Winden der Globalisierung ausgesetzt war. Und mittendrin die beiden Kontrahenten, die im Gespräch die Kluft eines zerstörerischen Familienstreits zu überwinden versuchen. Hierin liegt die eigentliche Kraft dieses Romans. Omar und Latif eint der Wille, den sie verbindenden Konflikt auszusprechen und hinter sich zu lassen, ohne ihn einfach zu verschweigen. Die leidvollen Ereignisse, die emotional wechselhaften Erzählungen fordern ihnen alles ab. Gerade deshalb könnten sie, beide in ihrem Exil einsam geworden, schüchtern und gegen innere Widerstände zueinanderfinden; mit der gutmütigen Asylhelferin Rachel als Herzdame. Omar hat sich längst – und trotz seines anfänglichen Spotts – in sie verliebt, wenn er ihr das auch nie gestehen würde. Genau das aber könnte dem jüngeren Latif noch bevorstehen. Ferne Gestade erzeugt so einen zwiespältigen, am Ende dennoch glücklichen Eindruck. 

Titelbild

Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade. Roman.
Aus dem Englischen von Thomas Brückner.
Penguin Verlag, München 2022.
416 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783328602606

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