Endlich ein Platz in der Literaturgeschichte
Der Wallstein Verlag eröffnet Hermann Borchardts Werkausgabe mit autobiographischen Schriften
Von Veronika Schuchter
Sein Name ist heute nur noch einschlägigen Exilforscherinnen und -forschern ein Begriff und selbst diese sind selten mit seinen Texten vertraut, sondern kennen ihn als einen der vielen geflüchteten Schriftsteller, die im Exil zwar mit dem Leben davongekommen waren, aber meistens auch nicht mit viel mehr als diesem. Der Kampf ums materielle Überleben, um die Möglichkeit, in den aufnehmenden Ländern weiter schreiben und publizieren zu können, war für die Exilerfahrung der meisten Schriftstellerinnen und -schriftsteller prägend.
Das trifft auch auf Hermann Borchardt zu, der allerdings nicht aus der Position eines erfolgreichen Schriftstellers startete. Der Gymnasiallehrer publizierte zwar einiges, zu Bekanntheit oder gar literarischem und finanziellem Erfolg führte das aber nicht. Es wäre daher falsch zu sagen, dass Hermann Borchardt mit der im Wallstein Verlag erscheinenden Werkausgabe dem Vergessen entrissen werden soll, hat er es doch weder zu Lebzeiten noch danach zu wirklicher Bekanntheit geschafft. Dass Borchardt, der zeitlebens mit seiner Erfolglosigkeit haderte, heute oft mit Namensvettern wie Rudolf Borchardt oder Namensähnlichen wie Wolfgang Borchert verwechselt wird, wie Lukas Laier im Nachwort schreibt, verlängert die Tragik dieses Lebens ins Posthume – und reich an Tragik war es, obgleich er selbst schreibt: „Sehr selten passiert wirklich etwas“. Das mag für die ersten Lebensjahre des 1888 in Berlin geborenen Kaufmannssohn gelten, ändert sich aber spätestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten:
Auch muß ich diejenigen enttäuschen, die viel von meiner Person wissen wollen; aber ich habe zu wenig selbst erlebt, meistens nur dabeigestanden, wenn etwas erlebt wurde, bis zu meinem sechsundvierzigsten Jahr, als die Geheime Staatspolizei mich ins Konzentrationslager schaffte. Da verlor ich mein Gehör auf dem rechten Ohr, sechs Zähne und den Mittelfinger der rechten Hand, letzteren nicht einmal auf melodramatische Weise, sondern infolge einer Streptokokken-Infektion.
Dass man aus seinen autobiographischen Schriften wenig über seine Person erfährt, stimmt nicht und so macht es Sinn, den Auftakt der auf fünf Bände angelegten Werkausgabe Borchardts autobiographischen Texten zu widmen. Stücke, Prosa, Politische und Philosophische Schriften sollen folgen. Besonders an dieser Werkausgabe ist, dass sie nicht, wie sonst üblich für Werkausgaben, das gesamte Oeuvre eines Autors gesammelt und einheitlich ediert zugänglich macht. Vielmehr werden die meisten Texte zum ersten Mal überhaupt publiziert und für die Leserschaft damit greifbar. Aus diesem Grund wird der einzige publizierte und lieferbare Text, der zweibändige Schlüsselroman Die Verschwörung der Zimmerleute (2005 im Weidle Verlag erschienen), nicht in die Werkausgabe aufgenommen.
Band 1 enthält kurze Texte über den Vater und die Kindheit, über seinen zweijährigen Aufenthalt in Russland, „Lagerbuch-Fragmente“ über seine Zeit in mehreren Konzentrationslagern sowie einige Briefe und zwei Lebensläufe auf Englisch. An der oben skizzierten Publikationslage liegt es, dass vieles etwas diffus, fragmentarisch und zusammengewürfelt wirkt. Der ausführliche Apparat ordnet aber ein, ergänzt und erklärt. Es sei nicht verschwiegen, dass die meisten Texte stärker von historischem Interesse sind, denn von ästhetischem. Dennoch sind gerade die Berichte aus Minsk und die Lagerbuch-Fragmente sehr lesenswert und durchzogen von einem feinen, tragisch-komischen, trockenen Humor, der sich bis hinein in seine Lebensläufe zieht, was auch rechtfertigt, warum gleich zwei davon abgedruckt wurden – auf den ersten Blick eine eher überraschende Editionsentscheidung. So hält er für das Jahr 1936 etwa lakonisch fest: „1936 Ten months in three German Concentration camps. A great experience.“
Hervorzuheben ist der ausführliche Kommentar, der mehr ist als nur ein Anmerkungsapparat. Die kurzen Essays zu den einzelnen Texten gehen dort ein wenig unter, was schade ist, eventuell hätte man sie den Primärtexten direkt voran oder nachstellen können. Ebenfalls sehr gelungen ist Lukas Laiers Nachwort, das einer kurzen Borchardt-Biographie gleichkommt. Eine ganze Werkausgabe für einen nahezu unbekannten Schriftsteller mit noch unpublizierten Texten, das ist mutig und kann Wallstein hochangerechnet werden. So kann sich jeder selbst ein Bild über Borchardts Stellenwert und sein Schaffen machen. Der Auftakt der Werkausgabe ist jedenfalls gelungen und die Mission schon jetzt geglückt: Borchardt bekommt durch die Ehre einer Werkausgabe den Platz in der Literaturgeschichte, der ihm zeitlebens verwehrt wurde.
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