Verlorene Illusionen und neue Hoffnungen
In Jiří Hájíčeks Roman „Vignetten mit Segelschiff“ geht eine Frau aus einer Lebenskrise gestärkt hervor
Von Günter Rinke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDieser Autor muss in Deutschland noch entdeckt werden. In Tschechien sind mehrere seiner Romane und Novellen bereits mit Preisen ausgezeichnet worden. Bei uns fehlt über ihn sogar ein Wikipedia-Artikel, der immerhin in der spanischen und englischen Wikipedia schon existiert. Vielleicht gilt generell, dass die tschechische Literatur in Deutschland noch immer nicht die Beachtung findet, die ihr gebührt – von einigen Leuchttürmen von weltliterarischem Rang wie Jaroslav Hašek und Milan Kundera abgesehen.
Beiden wird im neuesten Roman von Jiří Hájíček eine Reverenz erwiesen, dem Erfinder des Schwejk mit einem typischen Zitat: „Jaroslav Hašek nennt so etwas einen moralischen Sieg. Wir haben zwar eins auf die Gosche bekommen, aber der Geist ist ungebrochen.“ Ein anderer Satz, den die Protagonistin Maria Solecká in einem Roman von Kundera findet (es ist der Roman Die Identität), spiegelt eine Möglichkeit ihrer Lebenssituation, jedoch nicht die Realität wider: „Die Männer drehen sich nicht mehr nach mir um.“
Jiří Hájíček erzählt durchweg aus der Perspektive seiner weiblichen Hauptfigur, für die das Jahr 2018 ein Jahr der Neuorientierung ist. Mit einer Ausnahme folgt der Erzählfluss der Chronologie dieses Jahres, und die zwölf Kapitel sind mit den Monatsnamen überschrieben. Die Ausnahme ist der Oktober, der vorangestellt ist. Wer in der Lektüre den September erreicht hat, wird versucht sein, zum ersten Kapitel zurückzublättern, weil sich vieles, was dort erzählt wird, jetzt erst erschließt. Das Geheimnis des Titels Vignetten mit Segelschiff, das weit vor die erzählte Zeit zurückverweist, wird erst am Ende des Romans aufgeklärt und soll an dieser Stelle nicht gelüftet werden.
Die Figurenkonstellation bietet viel Potential für ein Gesellschaftsbild des modernen Tschechiens. Maria Solecká, 47 Jahre alt, Dozentin für englischsprachige Literatur an der Prager Universität, ist in einer Lebenskrise, ausgelöst durch die Scheidung von Luboš, einem Immobilienmakler, der sich mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Assistentin eingelassen hat. Die neue Geliebte ist kaum älter als die in Wien studierende Tochter von Maria und Luboš. Marias Eltern sind beide schwerkrank und werden von ihrer zweiten Tochter Veronika, meist Verča genannt, betreut. Sie lebt mit ihrer Familie in Český Krumlov (deutsch: Krumau), einer kleinen, aber aufgrund seiner historischen Altstadt weltberühmten Stadt in Südböhmen. Die Eltern bewohnen dort in der Nähe einen Hof, auf dem sich Verča in letzter Zeit öfter aufhält als zu Hause.
Die Schauplätze sind aufgeladen mit Bedeutung: Hier die Weltstadt Prag und Marias elegantes, intellektuelles Leben, dort die Kleinstadt und das Dorf, in dem viele der alten Freundinnen und Freunde geblieben sind und ein ziemlich anspruchsloses Leben führen. Manche von ihnen respektieren Maria, andere blicken mit Verachtung auf sie, die entwurzelte Intellektuelle. Diese überlegt ernsthaft und spricht darüber mit ihren Prager Bekannten, ob sie der Großstadt und der Universität den Rücken kehren und ins Heimatdorf zurückgehen sollte, auch um dort die unzufriedene, sie oft angreifende Schwester, deren Mann meist auf Montage unterwegs ist, zu unterstützen.
Allerdings haben die Weltstadt Prag und das kleine Krumlov eines gemeinsam: Sie haben viel von ihrem ursprünglichen Charakter durch den modernen Massentourismus verloren. In Prag fällt das an einigen touristischen Anziehungspunkten auf, dem Hradschin, der Karlsbrücke, der Altstadt, während sich immerhin in den Stadtteil Dejvice, wo Maria wohnt und gern in einem Café sitzt, selten Touristen verirren. Solche Orte gibt es kaum in Krumlov, das als UNESCO-Weltkulturerbe im Sommer von Besuchern aus aller Welt regelrecht gestürmt wird, so dass es schon eine Besonderheit ist, wenn die Protagonistin ein Geschäft betritt und als Tschechin identifiziert wird.
Das Geschäft, in dem Marias Leben eine interessante Wendung nimmt, ist eine Buchhandlung mit internationaler Literatur, in der ein ansehnlicher junger Mann, ein „Adonis“, arbeitet. Schon bald entsteht eine Liebelei, die allerdings nicht nur im Dorf für Getuschel sorgt, sondern auch Marias Prager Freundin Katka befremdet. Einen zweiten Verehrer findet Maria, als sie mit Katka in der Nähe von Prag einen Tandem-Fallschirmsprung unternimmt. Ihr Betreuer Hynek, völlig unintellektuell, aber kräftig gebaut und sehr unternehmungslustig, macht ihr von da an, ein Schwejk der Liebe, unverdrossen Avancen und lässt sich durch Zurückweisungen nicht entmutigen.
Es trifft also keineswegs zu, dass sich die Männer nach Maria nicht mehr umdrehen. Im Gegenteil: Ihr alter Freund Milan, ein Universitätskollege, der allerdings verheiratet ist, gesteht ihr seine Liebe und beschädigt so die Freundschaft. Und kurz vor Weihnachten macht ihr geschiedener Mann, den seine junge Freundin schon wieder verlassen hat, einen – aussichtslosen – Versuch, die Ehe wiederzubeleben. Am Ende lässt sich Maria, die bis dahin zwischen den verschiedenen Möglichkeiten lavierte, auf ein Abenteuer ein, das vermutlich von begrenzter Dauer sein wird, aber sie im Augenblick erfüllt. Ihre Identitätsunsicherheit, die Einsamkeitsängste und auch das schlechte Gewissen gegenüber der Familie scheint sie überwunden zu haben.
Eine weitere Dimension des Romans ist die historische, die zurückreicht bis in das Habsburgerreich, die Protektoratszeit und die Nachkriegszeit, in der der Konflikt zwischen den Sozialdemokraten und den kommunistischen Anhängern Klement Gottwalds zugunsten letzterer entschieden wurde. In seinem Buch vom Lachen und Vergessen (1987) schrieb einst Milan Kundera: „Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.“ Er bezog sich dabei konkret auf Gottwalds stalinistische Methoden, denen unter anderem der Außenminister Clementis zum Opfer fiel. Hájíček zeigt, wie solche Konflikte bis ins letzte Dorf reichen und Nachbarschaften auch in der nachfolgenden Generation vergiften können. Marias Vater und sein Nachbar Hanzal hassen einander gnadenlos wie schon ihre Väter, die einst gemeinsam gegen die Deutschen kämpften, aber sich dann wegen der neuen politischen Verhältnisse entzweiten.
Der Vater bearbeitet die Traumata der Vergangenheit, indem er Erinnerungsbilder auf Holztafeln malt. Er malt seine Pferde, die ihm die Kommunisten im Zuge der Mechanisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft wegnahmen. Die Schuld sieht er bei seinem Nachbarn. Die Bilder sind der Anlass für die Tochter, mit ihm über das Erlebte ins Gespräch zu kommen. Schon vorher hat sie die Aufzeichnungen seines Großvaters aus dem Ersten Weltkrieg gesichtet und darüber in Krumlov einen allerdings schlecht besuchten Vortrag gehalten. Auch in ihrem Interesse für die Vergangenheit unterscheidet sie sich von ihren Jugendfreunden, die von ihren Alltagsbeschäftigungen ganz in Beschlag genommen sind.
Schließlich findet sie heraus, dass ihr Vater mit Pepík Hanzal, dem Bruder seines Nachbarn, 1949, als es noch keinen Stacheldraht gab, über die Grenze nach Österreich geflohen ist, beide aber nach kurzer Zeit nach Böhmen zurückgekehrt sind. Auf der Suche nach Pepík, der in Prag untergetaucht, aber inzwischen verstorben ist, trifft sie auf dessen Sohn, vielleicht die interessanteste Nebenfigur des Romans. Ehemals Gerichtsvollzieher, bessert er jetzt seine Invalidenrente als Rezeptionist in einem kleinen Hotel auf. Er ist Ende fünfzig, einsam und völlig desillusioniert: „Die Eltern sind tot, Kinder habe ich keine, und Frauen interessieren mich nicht mehr.“ Aber er gibt ihr Fotos, auf denen Marias und sein Vater zu sehen sind.Verlorene Illusionen, aber auch neue Hoffnungen und Perspektiven – davon handelt dieser Roman. Eine Rückkehr an den Herkunftsort ist für die Protagonistin unmöglich. Aber sie erfährt etwas über die tiefe Liebe ihres Vaters zu ihr, als ein früherer Verehrer aus dem Dorf ihr widerwillig mitteilt, weshalb ihr Vater den verhassten Hanzal ein letztes Mal verprügelte, bevor beide krank wurden. Hanzal hatte im Wirtshaus gesagt: „[A]ls ob hier wer auf die gewartet hätt […]. Auf so eine abgehalfterte Prager Schickse“.
Indem er in personaler Erzählform allein aus der Perspektive seiner weiblichen Hauptfigur erzählt, geht Jiří Hájíček ein Wagnis ein. Die Weltliteratur weist zwar eine beträchtliche Anzahl von Männern geschriebener Romane auf, die um weibliche Hauptfiguren zentriert sind – erinnert sei nur an Madame Bovary (Flaubert), Anna Karenina (Tolstoi), Effi Briest und weitere Romane von Theodor Fontane –, aber das im 19. Jahrhundert übliche auktoriale Erzählverhalten ermöglicht immer noch ein Überschreiten der Figurenperspektive und den Wechsel der Fokalisierung. Hájíček schafft nur durch die dritte Person Distanz und liefert sich sonst ganz seiner Figur aus, ein Experiment, das aus Sicht des männlichen Rezensenten gelungen ist. Empfohlen sei das Buch auch den Leserinnen, die die Stimmigkeit der Darstellung an ihren Erfahrungen überprüfen können.
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