Hoffnungsblüten

In „Gemeinsame Sprache“ erkundet Jürg Halter die prosaische Welt und poetische Sehnsüchte

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rauschhafte Gegenwärtigkeit kennzeichnet Jürg Halters Lyrik. Auch macht er bekannte Sprachformen und Wendungen sichtbar, flicht sie ineinander und unternimmt Ausflüge ins Zeitgeschehen. Es erinnert eher an einen hämmernden, wuchtigen Beat als an zarte Verluste, wenn der Dichter mehr ironisch als schmerzhaft insistierend wiederholt: „Wir sind gute Menschen.“ Der hohe Ton in der Politik, mehr moralisierend als moralisch, verstimmt, besonders auch Halter, der über die „guten Menschen“ nachdenkt:

Leisten uns den Luxus zu verzichten
Und unter Applaus darüber zu sprechen.
Doch Verzichten heißt nicht,
dass wir auf irgendetwas verzichten müssen.
Die Grundbedürfnisse mehren sich,
sind niemals zu befriedigen.
Wir schaffen das.

Möchte Jürg Halter polarisieren, polemisieren oder bloß dichten, wenn er von den „guten Menschen“ spricht, die deklamatorisch, mit öffentlichem Zuspruch und gänzlich außerreligiösen Glaubenssätzen sich positionieren und profilieren? Die neue Bekenntnissprache bleibt unmusikalisch, hölzern und charmelos vorgetragen. Was alle glauben sollen, glaubt kaum ein Mensch, oder doch? Halter spiegelt also säkulare Glaubenssätze, die floskelhaft bleiben, wie der alte existenzphilosophische Traum der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung – „Selbstbestimmt leben und sterben, /selbstbestimmt tot sein, / wer’s glaubt, wird selig.“ Die rationalistisch getönte Leere der kraftlosen Phrasen bleibt, wird wiederholt, hallt nach. Was schafft dieses poetisch gemeinte „Wir“ der „guten Menschen“, deren Appelle gleichförmig und fade sind, die „im Namen des heiligen Nichts“ auftreten und pessimistisch gestimmt, mit sprachloser Traurigkeit die Gegenwart deuten? Halter erwägt sodann, „definiere Hoffnung“ – gelingt das noch? Können wir, die wir vielleicht „gute Menschen“ sind oder sein mögen, die Welt noch mit Kinderaugen sehen – oder nur mit einer gereizten Schlauheit apokalyptisch, trunken und nervös räsonieren? Nach allen Wortkaskaden über proklamierte Endlichkeiten und Weltuntergänge wächst trotzdem neues Leben, neue Hoffnung mit Blick auf das, was wir nie schaffen können, aber was doch noch möglich erscheint. Davon spricht Jürg Halter zuversichtlich:

Lasst uns jetzt der Blumen gedenken,
die nach uns blühen werden,
den neuen Blumen,
die wir nicht mehr sehen können.
Lasst uns der Welt nach uns gedenken,
die uns zu Füßen liegen wird wie keine zuvor.

Gegen die Angstblüte und Bekenntnisschwere „guter Menschen“ setzt der Dichter zumindest momenthaft Hoffnungsräume, Hoffnungsträume. Wer möchte nicht an die leuchtende Pracht jener Blumen glauben, die einfach so, nach und ohne uns blühen werden? Möglicherweise übersehen wir sogar, was in unseren eigenen Gärten farbig leuchtet, während unter kritisch-reflektierten Zeitgenossen der Weltschmerz triumphieren?

Mitunter dichtet Jürg Halter, ein skeptischer Menschenkenner, über unbemerkte Versäumnisse. So viele vergäßen die Gegenwart, denn „wir“ – Menschen also, vielleicht auch Sie und ich? – seien „krank nach uns selbst“, sogar an den „schönsten Orten der Welt“, leidenschaftslos, furchtsam darauf wartend, „dass das wahre Leben beginne“:

Wir sparen uns für eine Zukunft auf,
um die wir uns selbst betrügen.
Wir treten besonnen ans Feuer,
niemals wollen wir brennen.

Manche brennen nicht, ärgern sich aber ständig, stöhnen, reden, schwatzen und planen. Auch wer die Besonnenheit als Tugend wertschätzt, muss auf die Glut der Gefühle nicht verzichten. Halter denkt an die Endlichkeit, rät aber davon ab, „täglich vor Todesangst zu sterben“. Doch so sehr der Lyriker die Prosa der Appelle von „guten Menschen“ entzaubert, so ist auch in seinen Dichtungen bisweilen nicht eine Sprache präsent, mahnend, fast warnend, für eine Lebensleichtigkeit werbend, der es selbst aber wieder an Leichtigkeit fehlt. Der Leser erkennt die Absichten, nickt mitunter zustimmend und bleibt gelegentlich auch verstimmt. So schreibt er über eine Mutter, die sich „erschöpft wieder ihrem weinenden Baby“ zuwendet, „in einem ansonsten leeren Haus“ – das Haus mag vollgestellt sein, mit Mobiliar und Erinnerungen, mit so viel Nützlichem und Nutzlosen. Das liebebedürftige Kind ist doch so viel mehr. Wenn die fürsorgliche Mama das Kind sieht, vergisst sie nicht die Welt um sich? Sogar das, was sie vielleicht manchmal in ihrem Muttersein vermisst? In Halters Gedicht wendet sich die Mutter „erschöpft“ dem weinenden Baby zu.

Jeder kennt den „miesepetrig dreinschauenden Schönwetterfanatiker“, aber muss ein solch übellauniger Bescheidwisser überhaupt erwähnt sein und memoriert werden? Gleichwohl liebt Halter bisweilen das Spiel mit Gegensätzen. Doch genügt es nicht, einfach zu wissen, was der Dichter abschließend notiert?

Was gibt es Schöneres für zwei Verliebte,
als barfuß durch einen Sommerregen zu laufen und sich,
in einer Pfütze stehen, zu küssen?

Es mag sein, dass Jürg Halter viele Leser an Selbstverständliches, das nicht mehr selbstverständlich sein könnte, erinnern möchte, erinnern muss, in einer „meinungsverminten Welt“, die überquillt vor Informationen: „Von fern höre ich Diskurse rauschen.“ Das Meer rauscht um so vieles schöner. Wer wäre nicht müde und matt, wenn statt frischer Winde nur immer ein neuer „Gedankensturm“ aufzöge? Nüchtern notiert Halter zu fast allen Lebensfragen: „Antworten bleiben aus.“ Damit meint er auch Antworten, die Frieden stiften, inneren Frieden schenken. So spricht er von der Sehnsucht nach der „leisen Langeweile“, die zum Lachen anregt und nicht zu dräuender Gedankenschwere, zumindest „vorübergehend“. Findet dieses lyrische Ich noch eine geliebte Person, mit der eine – wie der Titel des Gedichtbands anzeigt – „gemeinsame Sprache“ möglich ist? 

Die Aquarien, in denen wir leben,
gehen nahezu ineinander über.

Wie Zierfische also schwimmen die potenziell Liebenden aufeinander zu. Oder ist es schon mehr als eine wunderbare Möglichkeit der Zweisamkeit – „wir drücken unsere Nasen platt“, an den Glaswänden, die trennen und verbinden. Die beiden nähern sich an, kommen sich aber nicht oder noch nicht so nahe, wie sie einander vielleicht nahe sein möchten: „Wir sehen einander an.“ Immerhin, aber was sehen sie?

Sauerstoffbläschen bilden
sich zu Worten.
Liebste, welche Sprache
sprechen wir gemeinsam?

Ob die beiden Liebenden einander je werden berühren können? Sie suchen ihre gemeinsame Sprache, vielleicht haben sie diese auch schon gefunden. Jürg Halter erzählt von ihrer schwierigen Zweisamkeit nicht gänzlich ohne Hoffnung. Er selbst dichtet über die Eigenheiten dieser Welt und unserer Zeit oft in dunklen Farben, sowohl über die kraftlose, funktionalistische Sprache des Schaffenseifers als auch über die Traurigkeit vieler Zeitgenossen. Doch so wie Halter an die Blumen von morgen denkt, die ohne unser Zutun blühen werden, so glaubt er auch an die Möglichkeit, dass zwei Menschen noch immer eine gemeinsame Sprache finden können – oder anders gesagt: einander entdecken, lieben lernen und lieben können. Jürg Halters oft so ernste Dichtungen zeigen die Farben des Lebens und berichten zugleich mehr als nur beiläufig von einer verborgenen Quelle der Freude. 

Titelbild

Jürg Halter: Gemeinsame Sprache. Gedichte.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021.
152 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200895

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