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Erika Hammers Studie „Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität“ erkennt das zeitdiagnostische Potenzial von Terézia Moras Texten

Von Lena WetenkampRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lena Wetenkamp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Veröffentlichung des Romans Auf dem Seil im September 2019 hat Terézia Mora zehn Jahre nach Erscheinen von Der einzige Mann auf dem Kontinent die Trilogie um die Figur Darius Kopp zum Abschluss gebracht. Nun liegt mit Erika Hammers Monografie die erste Studie vor, die sich der Analyse der gesamten Romantrilogie verschrieben hat. Hammer – die bereits mehrere Aufsätze zu Moras Texten verfasst hat – wählt als zentrale Analysekategorie die Denkfigur des Monströsen, da diese in ihrer Auffassung Fragen nach Grenzen, Klassifikationen, Normen und Ordnungen wie unter einem Brennglas bündelt und schärft. So entscheidet sich Hammer dafür, „Monstrosität als allgemeines, für das ganze Textkorpus geltendes Charakteristikum von Grenze und Liminalität“ zu exemplifizieren.

Bevor das Textkorpus in den Blick rückt, werden verschiedene Modellierungen von Liminalität vorgestellt, die der Studie als theoretische Grundierung dienen. Dies sind unter anderem das anthropologische Konzept der Übergangsriten nach Arnold van Gennep, das Konzept der Liminalität nach Viktor Turner sowie die Weiterführung dieser Überlegungen durch den Soziologen Árpád Szakolczai, der Liminalität als zentrale Beschreibungskategorie für unsere Gegenwart konzeptualisiert.

Liminalität findet auch im Konzept der Grenze Ausdruck, das Hammer als weiteren Analysefokus benennt und mit Bernhard Waldenfels definiert. Seine Überlegungen zur diskursiven Erzeugung von Ordnung und von außerhalb der Ordnung Stehendem führen zu ihrem Ansatz, Moras Texte als Verhandlungsort der „Janusköpfigkeit der Grenze“ zu begreifen. Als Ziel der Studie formuliert sie die systematische Erfassung der unterschiedlichen Verhandlungs- und Erscheinungsformen des Phänomens Grenze auf motivischer, narratologischer und medialer Ebene in Moras Werk. Der Werkbegriff wird dabei umfassend verstanden, so dass auch Moras Erzählungen (Seltsame Materie 1999, Die Liebe unter Aliens 2016), der Roman Alle Tage (2004) sowie ihre Poetikdozenturen Nicht Sterben (2015) und Der geheime Text (2016) in den Blick genommen werden. Zentraler Analysegegenstand ist jedoch – wie der Untertitel bereits ankündigt – die Romantrilogie, in deren Zentrum die Figuren Darius und Flora Kopp stehen.

Diese Eingrenzung der Zielsetzung greift angesichts der Ergebnisse der Studie jedoch fast zu kurz, denn was Hammer in ihren Textanalysen entwirft, ist nicht nur die Beschreibung der textinhärenten Verwendungslogik eines philosophischen Konzepts, vielmehr liefert die Studie eine umfassende Beschreibung des Zeitgeists unserer posttraditionellen Gegenwart, die laut Andreas Reckwitz vor allem vom Signum der Fluidität gezeichnet ist. Moras Texte bekommen damit eine Aktualität und unmittelbare Relevanz zugesprochen; das Potenzial der Literatur, Gegenwart zugleich kritisch zu begleiten als auch zu entwerfen, wird affirmiert. Die Kehrseite dieses Vorgehens, das der Darlegung hochkomplexer anthropologischer, soziologischer und philosophischer Forschungsansätze großen Platz einräumt, ist, dass die detaillierte Textanalyse mitunter fast zu kurz kommt.

In allen Analyseteilen verfolgt Erika Hammer ein Vorgehen, das sie jedoch erst im hinteren Teil der Studie konkret benennt: einer „skizzenhaften Konturierung des allgemeinen Schemas“ folgt die eigentliche Textanalyse, die das Augenmerk auf die „Ausdifferenzierung dieser Zusammenhänge“ richtet. Jedes Kapitel verhandelt also zunächst eher abstrakt die jeweilige Analysekategorie, verweist dabei jedoch vielfach in einem allgemeinen Modus auf die Texte. Konkrete Textbeispiele als Beleg für diese allgemeinen Aussagen werden dann jeweils erst in einem zweiten Schritt geliefert. Zudem setzen die Analysen eine sehr genaue Kenntnis der Primärtexte voraus. Leserinnen und Lesern, denen das Universum der Mora-Figuren nur aus einzelnen Texten vertraut ist, fällt es sicherlich schwer, allen Einzelreferenzen zu folgen und diese zu kontextualisieren. Die Autorin nimmt in Kauf, dass manche Erkenntnisse, die sich durch ihre hochinteressanten Verknüpfungen ergeben, nur ausgewiesenen Kennerinnen und Kennern der Texte vorbehalten bleiben. Für diese bietet Hammers dichtes Verweisungsnetz jedoch bisher unerkannte Linien, die Moras Einzeltexte verbinden und somit das Gesamtwerk unter neuen Gesichtspunkten zugänglich machen.

Wesentlicher Fokus liegt bei jeder Analyse auf der Textstruktur, da Hammer bei Moras Texten von der These ausgeht, dass diese „performativ vollziehen, was sie behandeln“. Dies realisiert sich in der Zitation und Unterminierung von Gattungstraditionen (wie dem Bildungsroman oder der Robinsonade) und etablierten Schreibweisen. Beispielhaft sei auf den Verzicht einer linearen Erzählweise zugunsten erzählerischer Labyrinth-Strukturen verwiesen, wie sie Hammer für Der einzige Mann auf dem Kontinent herausstellt, aber auch in den Irrweg-Metaphern und den rhizomatischen Konstruktionen in Das Ungeheuer realisiert sieht.

In neun thematischen Schwerpunktkapiteln werden verschiedene Ausprägungen der Grenzüberschreitung und des Liminalen an den Texten exemplifiziert. Zunächst stehen einzelwerkübergreifend die multilingualen Settings im Fokus. Dezidiert möchte Hammer jedoch Moras Texte nicht in einer biografischen Lesart auf den mehrsprachigen Hintergrund der Autorin reduzieren, sondern sie versteht die Auseinandersetzung mit Multilingualität im Schreiben als Ausdruck einer Hinterfragung essentialistischer Modelle und verortet sie in einer sprachkritischen und sprachreflektorischen Tradition. In Verfolgung der zentralen Analysekategorien der Studie interpretiert sie die Multilingualität als „Störung“, da der „mit Polyglossie verbundene semiotische Entzug und die entstehende semantische Unschärfe“ ästhetische Differenz markiere und somit auch Ausdruck des Monströsen sei. Monströsen Ordnungen und Vielsprachigkeit sei gemein, dass sie eine Abweichung von der Norm markieren. Durch Offenlegung der Norm stehe diese jedoch zugleich zur Disposition; durch Unterlaufen des Ordnungsmusters der Monolingualität arbeiten Moras Texte an der Verabschiedung des Einsprachigkeitsparadigmas.

Die weiteren Kapitel stellen in chronologischer Reihenfolge jeweils einen der Romane ins Zentrum. In Bezug auf Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009) spielt vor allem die topografische Perspektive eine Rolle. Die zentralen Handlungsräume der Romane liest Hammer als Nicht-Orte im Sinne Marc Augés, in denen Schwellenphasen zum Dauerzustand gerinnen und somit ein Zustand permanenter Liminalität etabliert wird. Auch das transitorische Moment, das allen Texten gemein ist, findet Erwähnung. Dieses wird im Folgenden immer wieder neu perspektiviert, wenn Hammer beispielsweise Kopps Reise und die damit verbundene Neuperspektivierung seines Lebens in Das Ungeheuer als „eine Kategorie viatorischer Prosa“ klassifiziert.

Weiterer Untersuchungspunkt in Bezug auf den ersten Teil der Trilogie ist die Ökonomie. Hammer attestiert Moras Texten eine ökonomische Poetik, da sie Veränderungen der gegenwärtigen Arbeitswelt ins Zentrum stellen und zugleich auf struktureller Ebene Fragen der Textökonomie verhandeln. Alle Bücher der Trilogie variieren das Narrativ der Krise, dem die Figuren mit Aktion, Abwehr oder Resignation begegnen. Selbst die im Literarischen entworfene Gesellschaft befindet sich in einem Übergangs- und Transformationsprozess, da die Texte u.a. die Auflösung traditioneller Berufe und Arbeitswelten im auslaufenden Industriezeitalter verhandeln.

Der zweite, buchpreisgekrönte Roman der Trilogie, Das Ungeheuer (2013), wird vor allem unter den Aspekten der Subjektkonstitution, der Verknüpfung von Schmerz und Schrift sowie der Intertextualität beleuchtet. Zentrale Aufmerksamkeit liegt zunächst auf der außergewöhnlichen typografischen Anordnung des Textes. Hammer liest den schwarzen Strich, der im Ungeheuer die Texträume auf jeder einzelnen Buchseite in ein Oben und Unten teilt, als metapoetische Geste, da der Leser mit einer „Art Browsing“ Lektürestrategien anwenden muss, die aus digitalen Umgebungen vertraut sind. Dies bestätigt ihre am Anfang der Studie formulierte weitere analyseleitende These, dass die Trilogie eine Reflektion auf eine „wissenskulturelle Umbruchsphase“ vor allem in Bezug auf Medien darstellt.

Der Protagonist Darius Kopp befindet sich in Das Ungeheuer nach dem Tod seiner Frau in einem Zustand der Trauer. Um diesen auszudeuten, greift Erika Hammer auf die Theorien von Turner und van Gennep zurück, die im triadischen Modell der Übergangsriten genau diesen Schwellenzustand zwischen dem Verlassen einer Ordnung und der Wiedereingliederung fokussieren. Moras Texte dehnen diesen Schwellenraum laut Hammer jedoch ins Unbegrenzte aus, ein Zustand der Ruhe ist nicht in Aussicht gestellt. Die Beispiele für die konstatierten „fortlaufenden Kipp- und Wendepunkte[ ]“, die den Protagonisten in „einem paradoxen Sowohl-Als-Auch bzw. in einem Weder-Noch-Zustand gefangen [halten]“, werden den Leserinnen und Lesern auch in diesem Kapitel zunächst vorenthalten und erst in einem zweiten Schritt geliefert.

Die der weiblichen Figur Flora zugeordneten Textanteile auf der unteren Ebene jeder Seite fordern laut Hammer die Sprachordnungen heraus. Der Einsatz von traumähnlichen Darstellungsmodi, Text- und Lautfragmenten sowie Zitaten entspricht der inhaltlich verhandelten, krankheitsbedingten Entgrenzung des Subjekts. Den Versuch, den Schmerz als „Erfahrung der Unsagbarkeit“ in eine Sprache zu überführen, deutet Hammer als eine „Narration des Schmerzes“, die ein „monströses Textgebilde“ entstehen lässt. Neben der Ordnung der Sprache erfährt auch die Ordnung des Textes Auflösung, was u.a. durch Moras Spiel mit intertextuellen Anleihen zustande kommt, das Hammer in allen drei Teilen der Trilogie realisiert sieht. Exemplarisch weist sie dies an den Bezügen zu László Németh Roman Iszony [Ekel] sowie Marlen Haushofers Die Wand nach.

Die Analyse des Textes Auf dem Seil (2019) – dem letzten Teil der Trilogie – fragt nach Konfigurationen der (vorübergehenden) Stabilisierung. Mit Waldenfels spricht Hammer von „Modi der Aufmerksamkeit“, die bei Darius Kopp Lernprozesse und punktuelle Normalisierungstendenzen ermöglichen. Traditionelle Bezugsgemeinschaften werden in diesem Roman durch neue familienähnliche Konstellationen ersetzt, in denen ein gewisses Maß an Verbindlichkeit herrscht. Doch auch in dieser Diagnose – die gleichzeitig symptomatisch für die posttraditionelle Gesellschaft sei – sind feste Bezugsgrößen lediglich von vorübergehender Dauer. Statt einer permanenten Heimat bieten beispielsweise nur wechselnde Sofas ein temporäres Zuhause, das Unbehaust-Sein der Figuren kann nicht aufgelöst werden.

Das letzte Kapitel kann als ausgedehntes Fazit verstanden werden, das das triadische Modell der Übergangsriten noch einmal aufgreift und auf makrostruktureller Ebene die drei Romane in das Dreiphasenmodell einpasst. Der einzige Mann auf dem Kontinent zeigt den Protagonisten eingebunden in eine (scheinbare) Ordnung, die ihm der Tod seiner Frau endgültig entzieht. Damit stehe dieser Text stellvertretend für den ersten Schritt der Ablösung und das Verlassen einer Ordnung. Im Ungeheuer wird der Schwellenzustand verhandelt, bevor in Auf dem Seil von temporärer Befriedung und Normalisierung und somit von einer scheinbaren Eingliederung gesprochen werden kann. Die Ritualtheorie und ihre Weiterführungen erweisen sich damit als schlüssiger Analyseansatz, jedoch werden diese Modelle in den Texten zugleich permanent unterlaufen. Der Zustand der Liminalität kann in keinem der Texte überwunden werden. Hammer hebt zudem hervor, dass es Mora nicht um die Rituale an sich geht, sondern um die Entwicklung narrativer Modelle, die solcherart Liminalität verhandeln.

Mit Blick auf die einzelnen thematischen Abschnitte ist zu konstatieren, dass nicht jede Textbeobachtung vollkommen neu ist, sondern sich in die Thesen und Analysen der bereits vorhandenen umfangreichen Forschungsliteratur zu Terézia Mora einfügt. So sind die Themenschwerpunkte der Grenze, der Mehrsprachigkeit, der Nicht-Orte sowie der Intertextualität bereits an anderen Stellen ausführlich verhandelt worden.

In ihrer sehr komplexen theoretischen Anlage ist die Monografie vielleicht nicht als erster Einstieg zu Moras Texten zu empfehlen. Für Leserinnen und Leser mit einer soliden Kenntnis der Primärtexte sind Hammers erhellende Interpretationen und Ausführungen zum Liminalen jedoch sehr inspirierend und bieten vielfache Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen.

Titelbild

Erika Hammer: Monströse Ordnungen und die Poetik der Liminalität. Terézia Moras Romantrilogie „Der einzige Mann auf dem Kontinent“, „Das Ungeheuer“ und „Auf dem Seil“.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
382 Seiten , 65,00 EUR.
ISBN-13: 9783837653304

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