Entscheidungen einer Erzählerin

Terézia Moras Poetik-Vorlesungen zeigen, wie eine reflektierte Autorin große Werke entwickelt

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Terézia Mora ist bekannt als hervorragende Erzählerin. Ihr Gespür für Geschichten und Gefühle macht sie zu einer der wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur. Als sprachmächtige Übersetzerin ungarischer Werke verdiente sie höchstes Lob und Anerkennung gleich mit einem ihrer ersten Vermittlungscoups, der Übertragung von Péter Esterházys monumentalem Roman Harmonia Caelestis (2001). Bereits 1999 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für eine Erzählung aus ihrem ersten Erzählband Seltsame Materie, der Geschichten aus der deprimierenden ungarischen Provinz in einem ganz eigenen Ton darbot. Neben weiteren Auszeichnungen folgten 2010 der Adalbert-Chamisso-Preis und der Deutsche Buchpreis 2013 für ihren Roman Das Ungeheuer. Womit die aus einem westungarischen Dorf stammende, seit 1990 in Berlin lebende Autorin endgültig nicht mehr nur als besonders interessante Autorin der sogenannten Migrationsliteratur geschätzt wurde. Vielmehr zählt sie – wie manch anderer dieser nicht schon immer hier lebenden Autoren von Feridun Zaimoglu über Saša Stanišić bis zu Ilija Trojanow und Herta Müller – zu den kanonischen Autoren der neueren deutschsprachigen Literatur.

Wer ihren großen Roman „Alle Tage“ gelesen hatte, in dem die Bürgerkriege des Balkans und die Migrationsschicksale traumatisierter Flüchtlinge in einem Fest der Sprache zum Ausdruck kommen, der ahnte, dass von dieser Autorin, die über ein immenses Imaginations- und Sprachvermögen verfügt, noch einiges zu erwarten war. Mit dem Wirtschaftskrisenroman Der einzige Mann auf dem Kontinent begann sie eine Trilogie, deren zweiter Teil, Das Ungeheuer den Computertechnik-Verkäufer Darius Kopp erst seine Arbeit und dann seine unter Depressionen leidende Frau verlieren lässt, was ihn auf eine Odyssee durch Südosteuropa treibt. Die Leser der beiden Darius-Kopp-Romane warten nun gespannt auf den angekündigten abschließenden Band. Man fragt sich, wie es mit diesem Mann, der zunehmend aus seiner Technikerwelt fällt, weitergehen wird, und welchen Erzählmodus Mora dieses Mal wählen wird. Denn mit ihrer bezwingenden Darstellungsweise des ungleichen Liebespaars, der empfindsamen ungarischen Übersetzerin Flora, die sich in Berlin mit Sekretariats- und Kellnerjobs durchschlagen muss, und dem etwas beschränkt an Essen und Saufen, an Schlaf und Sex interessierten Kumpeltyp Darius – jenem Verkäufer drahtloser Kommunikationsnetzwerke, dessen Kommunikationsvermögen ansonsten eher seltsam anmutet –, zeigte Mora erneut, dass sie höchst zeitgenössische Plots und Figuren erfinden kann. Und dazu auch die passenden, komplexen und gleichwohl die Leser fesselnden Erzählweisen. So entschied sie sich in Das Ungeheuer für eine auf den Buchseiten übereinander gedruckte stereoskopische Parallelerzählung: Im oberen Teil der Seiten die Reise des Witwers Darius mit der Asche seiner Frau durch Osteuropa, enggeführt mit den unten abgedruckten Aufzeichnungen der von Erniedrigungen und Depressionen zum Suizid Getriebenen, deren Lebens- und Beziehungswahrnehmung eine gänzlich andere als die ihres Mannes war.

Im Sommer 2015 wurde Terézia Mora in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen. Wie trefflich die Kooptation dieser Sprachkünstlerin in die wichtigste Sprachpflege-Akademie war, lässt sich nun nachvollziehen bei der Lektüre ihrer Anfang 2014 als Frankfurter Poetik-Vorlesungen an der Goethe Universität vorgetragenen Überlegungen zu ihrem Erzählverständnis und zum Entwicklungsgang ihrer schriftstellerischen Arbeit. Die aus der Gegend der westungarischen Universitätsstadt Sopron/Öderburg Kommende und zweisprachig ungarisch-deutsch Aufgewachsene studierte in Berlin nicht nur Hungarologie und Theaterwissenschaft sowie anschließend das Drehbuchschreiben an der Film- und Fernsehakademie, sie ist vor allem eine hochreflektierte Spracharbeiterin, wie ihre Romane beweisen und wie es ihre Poetik-Vorlesungen nun anschaulich erläutern.

Umsichtig und leserfreundlich gliedert Mora ihre Darlegungen zum literarischen Schreiben. In den ersten beiden Vorlesungen erzählt sie werkchronologisch, mit welchen Problemen, mit welchen Themen- und Formfragen sich die Schriftstellerin geradezu Schritt für Schritt entwickelt: von der Anfängerin, die für ihre bedrückende Herkunftswelt eine Sprache und passende Darstellungsformen sucht und findet, über die Komposition ihres Debütbands mit kürzeren Erzählungen bis hin zur großen Romanform. Mit Alle Tage gelang ihr – nach jahrelanger Arbeit und plastisch dargestellten Umwegen und Verschiebungen – ein großer polyphoner Gegenwartsroman. Und aus welchen Gründen sie diese Großform dann nach Alle Tage noch weiter steigert, indem sie anschließend die Bindungen und Entfremdungen der Lebenswege ihrer Hauptfiguren Darius und Flora in einer kunstvoll gefügten, den Sprachgeist der Figuren nachzeichnenden Trilogie ausbreitet.

Im zweiten Teil ihrer Poetik-Vorlesungen legt die Autorin Rechenschaft ab über die Bedeutung und Entwicklung von Figuren. Denn überzeugende und bewegende Charaktere sind das A und O des Erzählens. Im Laufe ihrer Entwicklung als Autorin arbeitet sich Mora von ihr sehr nahen und bekannten Figuren (wie den Dorfbewohnern in Seltsame Materie oder dem ihr vertrauten traurigen Osteuropäer Abel Nema in Alle Tage) heran und hinein in zunehmend ferne Typen wie den Computer-Nerd Darius Kopp. Dem scheint im ersten Band der Trilogie nichts wirklich nahezugehen, um ihn dann im Folgeband mit unabweisbaren, schmerzlichen und starken Gefühlen zu konfrontieren. Besonders beachtenswert scheinen mir hier auch Moras Überlegungen zur freieren, flexiblen und für den Erzählungskosmos dadurch besonders funktional einsetzbaren Modellierbarkeit der jeweiligen Nebenfiguren. Die Reflexion ihrer eigenen Wege und Umwege gibt damit ganz praktische, hilfreiche Hinweise für debütierende Schriftsteller.

In der vierten Vorlesung berichtet sie vom nicht selten mühsamen und dem Schreiben schädlichen Reisen, das freilich doch manches Mal durch den Zusammenstoß mit inspirierenden Realien auch produktiv Einfluss auf die Entstehung der Werke nimmt. Fremde Orte, in die heutige Schriftsteller nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen als Vorlese-Reisende, als Gäste von Universitäten oder Goethe-Instituten eilen, können Geschichten hemmen oder auch Figuren und Narrationen durch die Tuchfühlung mit der Lokalatmosphäre voranbringen.

Im abschließenden fünften Vortrag lotet Mora ihre Haltung zur Darstellung des Schrecklichen, Grausamen, Ungeheuerlichen aus. Wie weit darf und wie weit muss eine Autorin gehen, wenn es ihr um heikle (obszöne?) Motive des Kriegs, der Vertreibung, der Gewalt und Vergewaltigung oder der Depression geht. Moras Erzählprosa hat sich diesen Grenzerfahrungen seit ihren Anfängen immer wieder gestellt und für Torturen des Körpers wie der Seele wie kaum eine andere deutliche und plausible Darstellungsweisen erfunden. Verwiesen sei hier etwa auf Abel Nemas Erfahrungen in Alle Tage und auf die unter dem Strich abgedruckten Tagebuch-Notizen Floras in Das Ungeheuer.

Angenehm bei der Lektüre dieser Vorlesungen ist Moras unprätentiöses, lakonisches Vorgehen. In weiten Teilen erklären ihre Vorträge das dichterische Handwerk unmittelbar nachvollziehbar mittels Fragen und Antworten zum konkreten Arbeitsprozess, der hier gleichsam in Form eines langen Selbstgesprächs erinnert und vorgeführt wird. Der so knappe wie pathetische Titel ihrer Überlegungen zum Schreiben erklärt sich aus Moras Adressierung ihrer Poetologie an drei Adressaten: an ihre Tochter (einem Kleinkind), an Studierende, die selber oft Autoren werden wollen, und an sich selber. Vor diesen drei Instanzen legt sie gerne und skrupellos Rechenschaft ab über ihre Lieblingsbeschäftigung: das Erzählen. Wobei beim öffentlichen, publizistischen Auftritt des Erzählens, also beim „Aus der Höhle kommen“, das Wichtigste (wie in einem sie hier inspirierenden Kinderfilm über Höhlenmenschen) sei, „nicht zu sterben“, sondern dort draußen möglichst handlungsfähig zu werden. Eigene Handlungsfähigkeit wird als Ethos der Autorin ausgegeben, das sie auch als Mutter zu ihrem Erziehungsziel macht – was rundweg überzeugend wirkt, weil Mora knapp umreißt, wie sie selbst inmitten der Überlagerung autoritärer (sozialistisch-katholisch-bäuerlich-patriarchaler) Strukturen in der engen ungarischen Dorfwelt der 1970er- und 80er-Jahre aufwuchs. Statt Handlungsfreiheit herrschte dort das enge Korsett von rigider Erwartung, Befehl und Gehorsam. Wovon sie in ihrem ersten Erzählband mit einer ganz eigenen Sprache Zeugnis ablegte. 

In den Poetik-Vorlesungen erläutert die erfahrene Sprachkünstlerin anhand einzelner Passagen aus ihren Erzählwerken ihre Herausforderungen und Entscheidungen beim Schreiben. Schlicht und einfach werden so ihre im Ergebnis durchaus komplexen und sperrigen Dichtungen in der Notwendigkeit ihrer poetischen Produziertheit nachvollziehbar. Den Schaffensprozess schildert sie als eine Folge von Fragen, von – im weitesten Sinne: psychologischen – Lebensproblemen und von sprachlich-formalen Herausforderungen, auf die sie mit Blockaden, Listen-Schreiben, Ausweichen, Umwegen, Warten, Einarbeiten von Zufällen und schließlich mit dem Schreiben und Polieren passender Lösungen reagierte. Das Große, Überwältigende, als das einem ihre Romane begegnen, erscheint hier als Ergebnis beharrlichen Suchens, Probierens, Abbiegens, Weiterarbeitens.

Gerne gelesen hätte man aus der Feder der glänzenden Übersetzerin (unter anderem von Werken Peter Esterházys, István Örkénys und Péter Zilahys) ob und wie sich ihre Übersetzungsarbeit als Nacherfindungskunst mit ihrem Arbeitsprozess, ihren Tagesabläufen, ihrem Umgang mit Sprache oder mit der Konstruktion von Erzählwerken verträgt. Hemmt, beeinflusst oder befruchtet das Übersetzen Anderer die Arbeit an den eigenen Erzählungen? Dass die Erzählerin und Übersetzerin über ein hochreflektiertes Problembewusstsein gegenüber der intrikaten Vermittlungsarbeit zwischen den Sprachen verfügt, zeigt besonders ihr Roman Alle Tage. Dort finden sich glänzende essayistische Passagen über Mehrsprachigkeit, Sprachunterschiede und Übersetzungskunst.

Am meisten fesselt und beeindruckt bei der Lektüre der nun publizierten Poetikvorlesungen die ganz unverstellt erscheinende Geradlinigkeit, mit der Mora Rechenschaft ablegt über ihre schriftstellerische Entwicklung und über die keineswegs trivialen Schwierigkeiten und Lösungswege einer anspruchsvollen Erzählerin. Vermögen ihre Erzählwerke durch die eindringliche Erschließung düsterer Lebenswelten und Seelenlandschaften in den Bann zu ziehen, so bestechen ihre Poetik-Vorlesungen gerade durch die Helle und Klarheit ihrer Erklärungen des Erzählens. Auch das Schreckliche, Entstellte und Verschrobene wird erst durch Struktur und Arbeit zur überzeugenden Erzählung und zum Kunstwerk.

Titelbild

Terézia Mora: Nicht sterben. Frankfurter Poetik-Vorlesungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874517

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